Zweite Kongressrede.

Der Zionismus hat einen Jahresring angesetzt, seit wir zuerst versammelt waren. Heute sind wir abermals hier zusammengekommen, weil wir keinen besseren Ort finden könnten, und weil ein Band von Dankbarkeit uns nun mit dieser Stadt verknüpft, in der unsere vordem heimatlose Bewegung alle Wünsche und Beschwerden gedrückter Menschen aussprechen durfte.

Als ein Fremdes, vielen Unbegreifliches war die neue jüdische Bewegung vor der Welt aufgetaucht. Manche hielten sie für ein Gespenst aus vergangenen Zeiten. Denn das jüdische Volk war ja tot und verschollen. Wir aber hatten dunkel gefühlt, bevor es in unser Bewußtsein trat, daß dies nicht wahr sei. Der Tod ist ja das Ende aller Leiden; woher kam es also, daß wir litten? So hat sich uns der Spruch des Denkers gewandelt: „Ich leide, also bin ich!“ Und allmählich, von Unbill zu Unbill, nahm diese Erkenntnis festere Formen an, bis das Volksbewußtsein fertig dastand, auch noch nicht Gemeingut aller, aber mit einer starken Fähigkeit ausgestattet sich zu verbreiten. Und wirklich, es drang weiter, Köpfe und Herzen ergreifend, alt und jung werbend, und der erste Kongress der Zionisten war bereits eine Kundgebung dieses ins Leben zurückgekehrten Volksbewußtseins. Aber es gab manches ernste und schwere Bedenken gegen die Einberufung einer solchen Versammlung von Bürgern verschiedener Länder. Würde nicht von unseren Feinden die Beschuldigung erhoben werden, daß wir einen internationalen Bund gegen unsere christlichen Mitbürger schließen wollten, würde dadurch nicht unsere Lage in den einzelnen Ländern noch verschlimmert werden? Demgegenüber haben wir von Anfang an mit aller Deutlichkeit betont, haben es durch jede unserer Handlungen erhärtet, daß wir durchaus keinen internationalen Verein, sondern nur die internationale Diskussion wollen. Und das sei hier noch einmal zum ewigen Gedächtnis wiederholt: es kann sich bei uns nicht um Bündeleien, geheime Interventionen und Schleichwege handeln, sondern nur um eine offene Besprechung unserer Gegenwart und Zukunft unter der beständigen Kontrolle der öffentlichen Meinung.


Es muss der Ton der Wahrheit in unseren Worten gewesen sein; denn der Kongress hat vielfach Teilnahme hervorgerufen selbst bei denjenigen, die den Juden vorher gleichgültig oder unfreundlich gegenüberstanden. Jedes ehrliche Volkstum, das sich nicht unter fremden Masken verbirgt, hat ein natürliches Recht auf Achtung und Duldung seitens der anderen Völker, wenn es diese nicht bedroht. Vergessen wir selbst in unseren von Antisemitismus verdüsterten Tagen nicht, daß eine großmütigere Zeit vorhergegangen war, in der uns alle Kulturvölker die Gleichberechtigung schenkten. Der Wille war zweifellos ein guter, aber der Erfolg kein genügender. Lag es an uns, oder lag es an den anderen? Wahrscheinlich an beiden oder vielmehr in den von lange her gewordenen Umständen, die sich durch Gesetz und Verordnungen nicht abschaffen ließen. Die Gesetze waren freundlicher als die Gewohnheiten. Und wir erlebten den Rückschlag, diese kolossale Regung der Reue bei den Völkern, die uns soeben in Gnaden aufgenommen hatten. — Aber aus der Emanzipation, die ja doch nicht rückgängig zu machen und aus dem Antisemitismus, der ja doch nicht wegzuleugnen ist, ergab sich für uns eine neue, große Folgerung. Es konnte nicht der geschichtliche Sinn der Emanzipation sein, daß wir aufhören sollten, Juden zu sein, denn wir wurden zurückgestoßen, als wir uns mit den anderen vermischen wollten. Der geschichtliche Sinn der Emanzipation musste vielmehr sein, daß wir unserem befreiten Volkstum eine Heimstätte bereiten sollten. Das hätten wir früher nicht vermocht; wir können es jetzt, wenn wir es mit aller Kraft wollen.

Es genügt nicht, daß wir uns als ein Volk fühlen und erkennen; nach dem Volksbewußtsein muss auch der Volkswille erwachen. Auf diesem Punkte gab und gibt es aber manche Schwierigkeit. In einem langen Elend haben wir uns des konsequenten Wollens entwöhnt, und Aspirationen, die jedes andere Volk nicht nur nicht verbirgt, sondern als die größte gemeinschaftliche Ehre pflegt, wagten wir msher nicht laut werden zu lassen. Da wir es nun endlich tun, finden wir den passiven Widerstand von Leuten, die jeder Veränderung abhold sind und auch die unbequemste Lage aus Trägheit beibehalten wollen, ja wir stoßen sogar auf die Feindseligkeit gewisser, sozusagen offizieller Kreise des Judentums. Diese Erscheinung war namentlich in den Protesten einiger Rabbiner auffällig. Es wird immer zu den großen Merkwürdigkeiten gehören, daß die Herren gleichzeitig um Zion beten und gegen Zion auftreten. Der Widerspruch dürfte aus ihrer anfänglichen Unsicherheit zu erklären sein, ob denn die Gemeinde auch mit dem neuen Zionsruf einverstanden sei. Indessen kann eine Idee wie die unserige nicht auf das Verständnis der bisherigen Kultusvorsteher und die Nützlichkeitserwägungen ihrer Seelsorger angewiesen bleiben. Fast überall sind die breiten Schichten für uns. Diese bilden und erhalten die Gemeinde. Folglich muss auch in ihrem Sinne gehandelt werden. Wir haben den Gegensatz bisher aus brüderlicher Schonung nicht hervorgekehrt; aber schließlich ist es notwendig, darin Wandel zu schaffen. Es kann nicht länger so bleiben, daß in jüdischen Kultusgemeinden gegen Zion agitiert wird. Es ist ein widersinniger, unmöglicher Zustand. Wir müssen ihm ein Ende bereiten. An allen Orten, wo der Vorstand nicht schon ohnehin zu den unsrigen gehört, muss eine Wahlkampagne begonnen werden. Männer, die würdig und fähig sind, solche Ehrenämter zu bekleiden und die uns in der Gesinnung nahestehen, müssen auf den Schild gehoben und in die Gemeindestube getragen werden, im Namen der nationalen Idee. Die Autorität der Kultusgemeinde, die Mittel, über die sie verfügt, die Personen, die sie erhält, dürfen nicht gegen den Volksgedanken verwendet werden. Darum glaube ich in Ihrem Sinne zu sprechen, geehrte Kongressmitglieder, wenn ich als eines unserer nächsten Ziele die Eroberung der Gemeinden hinstelle.

Es ist dies auch der loyale und legale Weg, den zionistischen Volkswillen in die Erscheinung treten zu lassen, nicht nur in der jährlich einmaligen Beratung, die uns hier versammelt, sondern auch in einem Wirken aller Tage und gleichzeitig auf allen Punkten, wo Juden wohnen. Es genügt nie ht, daß wir davon wissen, in welchem Umfange der zionistische Gedanke die Judenheit ergriffen hat; die Tatsache muss auch gezeigt werden. Der Wahlzettel ist dafür das geeignete, völlig einwandfreie Mittel.

Außerhalb des Judentums haben unsere Bestrebungen bereits viele wertvolle Sympathien, und es regen sich nur Zweifel, ob denn wir Zionisten nicht ein vereinsamtes, wunderliches Häuflein seien, dessen Versicherungen und Absichten nicht ins Gewicht fallen können. Die Eroberung der Gemeinden wird beweisen, was wir vermögen.

Wenn wir die Sympathien der nicht jüdischen Welt für unsere Bestrebungen herbeiwünschen, herbeirufen, so findet man auch daran etwas auszusetzen. Ja, dieselben Leute, die uns den Vorwurf machen, daß der Zionismus neue Scheidegrenzen zwischen den Menschen aufrichte, mäkeln daran, daß uns die Freundschaft christlicher Zionisten willkommen ist. Uns ist es aber nicht etwa eine niedrige Sache der Nützlichkeit, wenn wir die uns so freundlich entgegengestreckten Hände drücken. Es zeigt sich darin vor allem, daß dem Zionismus eine versöhnende Kraft innewohnt. Gedanken, rein von Hass, erstarken auf diesem Boden. Wir halten unverbrüchlich an unserem Juden turne fest und gewinnen dennoch Freunde von edelster Uneigennützigkeit. Ist das so schlimm? Wir, die angeblich neue Unterschiede schaffen, bringen durch einen milden Versuch die Menschen einander näher. Wir wenden dazu keinerlei Künste an; wir geben uns nur als das, was wir sind; wir sagen einfach die Wahrheit.

Und die Wahrheit ist es auch, daß wir solche Freunde brauchen. Das Werk, das uns vorschwebt, wollen wir zwar aus eigener Kraft tun; aber viel Wohlwollen muss uns dabei umgeben, sonst kann es nicht gelingen. Wodurch verdienen wir uns dieses Wohlwollen? Dadurch, daß wir eine ohne unser Hinzutun nicht lösbare Frage lösen, die auf mehreren Ländern lastet. Denn die Judenfrage sucht manche Staaten schwer heim. Sie werden bei der Besprechung der allgemeinen Lage im verwichenen Jahre hören, wie zahlreich die Beweise für die Notwendigkeit des Zionismus leider auch heuer gewesen sind. Bald da und bald dort, jetzt im Süden und jetzt im Norden, springt der JudenHass auf; kein Kulturland ist so westlich gelegen, daß es diese alte Hetze nicht beherbergte; keine Halbzivilisation ist so zurückgeblieben, daß sie die neuesten Formen und Schlagworte nicht kennte; Pöbel rast plötzlich durch die Gassen, und beim Feuerschein wird die jüdische Habe, zuweilen auch deren Inhaber, zerstört.

Aber das ist nicht das Ärgste. Nicht das Blutvergießen, nicht die Verwüstungen, nicht die Beschimpfungen sind das Ärgste. Diese Unruhen richten einen schweren Schaden an in der mißhandelten Seele unseres Volkes. Sie untergraben immer wieder das Rechts- und Ehrgefühl, sie machen die Betroffenen zu Feinden einer stiefmütterlichen Gesellschaft, in der solches geschehen kann. Wundern wir uns nicht, wenn die Proletarier unter den Proletariern, von allen Menschen die Verzweifeltesten, bei allen äußersten Umsturzparteien zu finden sind. Wundern wir uns nicht; bemühen wir uns vielmehr, eine Besserung herbeizuführen.

Von weiterblickenden Staatsmännern darf vielleicht erwartet werden, daß sie die ganze Gesellschaftsgefahr erkennen, die in der ungelösten Judenfrage liegt. Die Juden seien ein zersetzendes Element, sagt man gewöhnlich. Hüben und drüben taumelt man von Unrecht zu Unrecht. Da wir aber ein aufbauendes Element aus den Juden machen wollen, so müßten uns in guter Logik alle diejenigen unterstützen, die nicht wünschen, daß die Juden alles zersetzen. Wir sind bereit, die Bauzeit des Judentums herbeizuführen — alles haben wir dazu in Hülle und Fülle; die Menschen, das Material, die Pläne. Wir brauchen nur noch — den Bauplatz.

Freilich ist der, welcher für uns taugt, ein Bauplatz von besonderer Art. Kein Fleck der Erde ist so begehrt worden wie dieser, und so sehr haben ihn viele Völker gewünscht, daß er unter all dem heißen Verlangen verdorrt ist. Wir aber glauben, daß dieser verödete Winkel des Morgenlandes nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft hat, gleich uns selbst. Auf diesem Boden, auf dem jetzt so wenig wächst, sind Ideen für die ganze Menschheit gewachsen. Und gerade darum wird niemand leugnen können, daß eine unverjährbare Beziehung zwischen unserem Volk und diesem Lande besteht. Wenn es überhaupt legitime Ansprüche auf ein Stück der Erdoberfläche gibt, so müssen alle Völker, die an die Bibel glauben, das Recht der Juden anerkennen. Sie können es aber auch neidlos und ohne Sorge anerkennen, denn die Juden sind keine politische Macht und werden nie mehr eine politische Macht seih.

Wie es bei der Besitzergreifung durch eine der bestehenden Mächte, sei es welche immer, wäre — das ist eine andere Frage. Das Land ist nicht nur die Heimat der höchsten Ideen und des unglücklichsten Volkes, es ist auch durch seine geographische Lage von bedeutender Wichtigkeit für ganz Europa. Da wird in einer Zeit, die nicht ferne sein kann, eine Kulturund Handelsstraße nach Asien führen. Asien ist das diplomatische Problem des nächsten Jahrzehnts. Wir dürfen vielleicht in aller Bescheidenheit daran erinnern, daß wir Zionisten, denen man so gerne den praktischen Blick abspricht, diese kommende Entwicklung des europäischen Wettbewerbes um einige Jahre früher als bevorstehend erkannt und angekündigt haben. Man sieht heute schon, wie das geht. Sie wissen, mit welcher Aufmerksamkeit jeder Schritt einer Macht in dieser Richtung von den anderen beobachtet wird. Und wenn der modernste Fürst der bewohnten Erde in nächster Zeit eine Fahrt nach den heiligen Stätten unternimmt, so hört man aus den Kommentaren der öffentlichen Meinung aller Länder eine gewisse Beklemmung, ja stellenweise sogar offene Feindseligkeit heraus. Dieses Land kann und wird wohl nie in den Besitz einer einzelnen großen Macht gelangen, denn es ist das bestbehütete; es wird nicht nur von seinem jetzigen Eigentümer, sondern auch von allen übrigen sorgfältig bewacht.

Wird es also bis ans Ende der Tage in seinem gegenwärtigen Zustande verbleiben müssen? Das wäre wohl für alle Teile bedauerlich, eben weil zwei allgemeine Kulturund Verkehrsnotwendigkeiten davon abhängen. Das osinanische Reich hat seine unverwüstliche Lebenskraft im letzten Kriege neu bewiesen. Die Türken haben die vorzüglichsten Eigenschaften, sie sind tapfer, großmütig, aufopferungsfähig — nur die Eigenschaften, die zur Kultivierung und Industrialisierung eines Landes erforderlich sind, besitzen sie nicht. Das ist eine Tatsache. Darum wäre für sie die Zuführung eines friedlichen, unternehmungslustigen Volkselementes, welches gerade die dort entbehrten Eigenschaften hat, eine Stärkung, eine Bereicherung.

Es ist nun unsere Aufgabe, an der wir unablässig arbeiten, die Bedingungen für eine Verständigung in dieser Hinsicht herzustellen. Wir dürfen sagen, daß der türkischen Regierung die vollkommene Loyalität unserer Bestrebungen wohlbekannt ist. Wir wollen keine Ansiedler einschmuggeln und überhaupt keine Tatsachen zu schaffen versuchen ohne vorherige Abmachung. Wir hätten nämlich keinerlei Interesse daran, eine wirtschaftliche Kräftigung der Türkei herbeizuführen, wenn wir dafür keinen Gegenwert erhielten. Die ganze Sache ist nach dem einfachsten Rezepte von der Welt zu machen. Es lautet: do ut des! [lateinisch. Ich gebe, damit Du gibst.]

Die Frage ist nun, wie das weiter zu bewerkstelligen sei. Wir haben schon auf dem ersten Kongresse, die Notwendigkeit erkannt, ein finanzielles Instrument für die Zwecke unserer Bewegung zu schaffen. Das soll die jüdische Kolonialbank sein. Es ist ungemein charakteristisch, daß unsere jüdischen Gegner uns durchaus nicht die Fähigkeit zutrauen wollten, ein solches Werk zustande zu bringen. Aber in unseren Reihen stehen ja nicht nur Künstler und Philosophen, Gelehrte und Zeitungsschreiber, Advokaten, Ärzte und Techniker, sondern auch eine stattliche Anzahl von Bankiers und Kaufleuten aus aller Herren Ländern. Zum ersten Male wurde da bezweifelt, daß Juden eine Bank machen können — und auch diesmal haben sich die Zweifler geirrt. Die jüdische Kolonialbank wird binnen kurzem programmgemäß ins Leben treten. Nach den Ergebnissen der Bankkonferenz dürfen wir annehmen, daß die jüdische Kolonialbank noch im Laufe dieses Jahres ihre geschäftliche Tätigkeit beginnen wird. Im übrigen will ich dem Referate der beauftragten Fachmänner, das Sie hören werden, nicht vorgreifen.

Es sollen Ihnen noch mehrere andere Referate vorgelegt werden. Aus allen werden Sie hoffentlich erkennen, daß dieses Jahr nicht unbenutzt verstrichen ist, und daß wir in geduldiger und hoffnungsvoller Liebe unserem Ziele zustreben. Auch außerhalb dieses Saales wird man einsehen, daß wir keine hochfahrenden Träume hegen, nichts Törichtes oder Ungerechtes wollen, sondern nur eine Existenz der Arbeit für unser armes Volk, weil wir einzig und allein von der gesicherten Arbeit seine sittliche und körperliche Hebung erwarten. Darum, darum haben wir es zunächst unternommen, unser Volk unter einem Ideal zu versammeln.

Das kann auch den Angehörigen anderer Nationen nicht missfallen. Und in dieser freien Stadt, die uns Gastfreundschaft gewährt, erhielten wir dafür einen ersten Beweis. Vorgestern, am Sankt Jakobstage, kamen abends die Scharen vom Feste zurück, man konnte an die schöne Geschichte vom Fähnlein der sieben Aufrechten denken, von Gottfried Keller, dem herrlichen Schweizer Dichter. Lauter Fähnlein aufrechter Leute, die im gesunden Leib einen männlichen Sinn pflegen wollen. An unserem Kongresshause zogen sie vorüber. Da schwenkte eine unserer verehrten Damen grüßend ihr Tuch, und das war das Zeichen zu einer Kundgebung, die wir wohl niemals vergessen werden. Die Fähnlein grüßten im Vorbeigehen unsere Leute, die ihnen zujubelten, und von der Straße herauf brauste ein neuer, unerwarteter Ruf: „Hoch die Juden!“ . . . Da ist es vielleicht manchem von uns heiß in die Augen gequollen. Man kann in einem solchen Momente die Fassung verlieren, die man unter Bedrückungen aller Art, unter den ungerechtesten Anklagen zu bewahren gelernt hat.

Ist in diesem Rufe von Basel schon der Anfang freundlicherer Zeiten? Das können wir nicht wissen. Aber wir können uns vornehmen, solcher Zurufe würdig zu werden. Wir waren standhaft in den schlimmsten Tagen, seien wir dankbar und demütig, wenn einmal bessere Tage kommen sollten. Und wie müssen wir uns diese besseren Tage vorstellen, die heute noch jenseits unseres Gesichtskreises liegen? Ist ihr Inhalt erschöpft in Landbesitz, vermehrtem Ansehen, ungetrübter Ruhe? Nein! Gerade diejenigen unter uns, die heute ihre ganze Person daranzusetzen bereit sind, würden bedauern, auch nur einen Schritt dafür gemacht zu haben, wenn es nur gelänge, eine neue Gesellschaft einzurichten und nicht auch eine gerechtere.

Bessere Tage für uns, aber auch für die anderen, als deren opferbereite Pioniere wir wieder einmal hinausziehen möchten auf ungebahnten Wegen. Wir brauchen dazu keinen höheren, keinen fabelhafteren Stand der Kultur, als es schon der jetzige ist. Nur benützt sollen die Kulturmittel werden, und zwar für die Menschlichkeit. Und wir glauben, daß unser Volk das verstehen wird, weil es durch so viele Schulen gegangen ist, unter so vielen Völkern gewohnt, und bei allen gelitten hat, aber auch die Leiden aller kennt. Uns erscheint als ein Bild besserer Tage eine Zusammenkunft von Menschen aller Kulturen, wie sie heute dieser Saal darbietet; eine Gemeinbürgerschaft, welche nicht in einer einzigen Sprache begrenzt ist; ein beständiger Versuch, dem Elend durch einträchtiges Zusammenwirken beizukommen — und aus alledem erwachsend eine höhere Art der Gesittung. Und unsere Anpassungsversuche, deren Mißlingen uns wieder zusammenführte, werden uns dann doch noch zum Segen gereichen. Die Tüchtigkeit der Germanen, die Beweglichkeit der Romanen, die große Geduld der Slaven sind vielleicht nicht ohne Spur an uns vorübergegangen . . . Sieht man endlich, was wir meinen? Jüdische Künstler, Philosophen und Gelehrte aus allen Ländern auf dem Boden der Arbeit und in einer duldsamen Gesellschaft vereinigt! Jawohl, wir streben nach unserem alten Land. Aber in dem alten Lande wünschen wir nur eine neue Blüte für den jüdischen Geist.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften