Zionismus.

Aus „NORTH AMERICAN REVIEW“

Wir haben heuer den dritten Zionisten-Kongress in Basel abgehalten. Es waren ungefähr zwölfhundert organisierte Ortsgruppen aus der ganzen Welt durch Delegierte in der Stadt am jungen Rheine vertreten. Die meisten von uns besaßen mehrere Mandate, im Durchschnitt repräsentierte jeder fünf Wahlkreise. Für die mit unserer Bewegung noch nicht Vertrauten bemerke ich, daß das Wahlrecht auf Grund der Schekelzahlung ausgeübt wird. Der „Schekel“ ist eine alte hebräische Geldbezeichnung, der Betrag ist ungefähr ein Frank und wird für die Kosten der Agitation eingezahlt. Es waren Delegierte aus allen Weltteilen anwesend. Am weitesten her waren die beiden Abgeordneten aus dem Transvaal. Stattlicher als in den ersten Jahren war auch die Vertretung von Nordamerika. Die tscherkessischen Bergjuden aus dem Kaukasus, einige Tausend an der Zahl, hatten einen eigenen Delegierten mit einer begeisterten Adresse an den Kongress gesandt. Nur um eine flüchtige Vorstellung von dem Umfange dieser Bewegung zu geben, erwähne ich, daß ich von zionistischen Wahlkreisen in Argentinien und in Ägypten Mandate erhielt. Ich hatte auch die Ehre, dem Kongress zu präsidieren.


Und während ich auf dem erhöhten Sitze der jüdischen Nationalversammlung die Verhandlungen leitete, durch das Wort eines Redners dazu angeregt, gingen meine Gedanken zurück an den Anfang unserer Bewegung, die noch jung, aber schon stark ist. Es war sicherlich ein Wagnis, als meine Freunde und ich im Jahre 1897 den ersten Kongress einberiefen. Wir liefen eine schreckliche Gefahr, vor der manchem sonst beherzten Manne bange werden kann: die Gefahr, lächerlich zu werden. Seit dem Synhedrion, das Napoleon I. im Jahre 1806 auch nur unter besonderen Umständen in Paris versammelt hatte, war ein solcher Versuch nicht gemacht worden. In den neunzig Jahren seither hatte sich die Eignung der Juden zu einer nationalen Versammlung ungemein vermindert. Man darf annehmen, daß sich die jüdische Nation trotz der namenlosen Verfolgungen oder vielleicht gerade durch diese bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts zerstreut, aber ungebrochen erhalten hatte. Um diese Zeit erlebte das jüdische Volk, das die Zerstörung seines Staates so lange überdauert hatte, zwei Erschütterungen, eine von innen und eine von außen. Den Stoß von innen gab ihm Moses Mendelssohn, den Stoß von außen die französische Revolution. Der edle preußische Philosoph, der Freund Lessings, wollte das Judentum nur noch als religiöses Bekenntnis fortbestehen lassen, und die große Revolution gab auch den armen Juden die Menschenrechte. Die Judenemanzipation wurde nach und nach von den zivilisierten Staaten nachgemacht. Die Emanzipation lockerte den Boden, in dem nun Mendelssohns Gedankensaat prächtig aufging. Und was Mord, Plünderung, Hetze von Land zu Land, Scheiterhaufen und Ächtung in schauerlichen Jahrhunderten nicht vermocht hatten — unter dem Sonnenblick der Liebe geschah es: das Volksgefühl der Juden verlor sich. Was ist eine Nation? Eine historische Menschengruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit, die durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten wird. Wenn die Juden, wie Mendelssohn wollte, nur im Gottesdienste zusammentrafen und sich im übrigen dem Volk anpassten, unter dem sie gerade lebten, so waren sie nicht mehr miteinander verwandt, als etwa die verschiedenen Völker des christlichen Gottesdienstes. Die Geschichte der Gruppe sollte beendigt sein, ihre Zusammengehörigkeit unkenntlich werden, und durch die Emanzipation war sie des äußeren Feindes ledig. Der Feind aber ist der eiserne Reifen der Nation. Es klingt ja wie eine Tautologie, wie der albernste Truism, wenn man sagt: die Nationen werden so lange dauern, als eine der anderen feindlich ist. Aber das ist die Wahrheit. Der Weg zum allgemeinen Menschentum ist noch weit, wenn auch nicht hoffnungslos. Auch wir wollen ihn beschreiten, aber auf eine andere Weise, als es der hochherzige Mendelssohn tat. Wir wollen die eigene Nationalität nicht aufgeben, sondern sie pflegen, und zwar keineswegs aggressiv, sondern nur defensiv. Zudem wollen wir eine freundliche Gesinnung gegen die anderen Völker hegen und auch dazu beitragen, die Gegensätze, die sie untereinander haben, zu mildern. Zu solchem Werk ist das jüdische Volk vielleicht besonders geeignet, weil seine Glieder so lange verstreut unter den Völkern waren.

Das ist die ideelle Grundlage unseres Zionismus. Wir haben sie freilich nicht aus lauter Idealismus entdeckt. Die Wahrheit, wie wir dazu gelangten, ist leider wenig rühmlich, aber wir wollen sie ruhig eingestehen. Wir wurden dazu geführt durch den neuen Feind, der uns überfiel, als wir eben in voller Auflösung begriffen waren: durch den Antisemitismus. Ich weiß noch, welchen Eindruck es auf mich machte, als ich im Jahre 1882 als zweiundzwanzig jähriger Mensch das Buch von Dühring über die Judenfrage las, ein Buch, das ebenso voll von Hass wie von Geist ist. Ich glaube, ich wusste vorher gar nicht mehr, daß ich ein Jude war. Das Buch Dührings wirkte auf mich, wie wenn ich einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Und so ist es wohl manchem westlichen Juden ergangen, der sein Volkstum schon völlig vergessen hatte: die Antisemiten haben es in ihm wieder aufgeweckt. Freilich, von solcher Erregung bis zu dem bewussten Entschlüsse, wie er in der jetzigen zionistischen Bewegung sich äußert, ist es noch ziemlich weit. Ich für meinen Teil brauchte dazu zwölf oder dreizehn Jahre, und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich das erzähle. Ich darf es vielleicht aus zwei Gründen tun: erstens, weil wir das Menschliche doch immer am verlässlichsten an uns selbst studieren, und zweitens, weil ein Stückchen Aktualität dabei ist. Zum Zionisten hat mich nämlich — der Prozess Dreyfus gemacht. Nicht der jetzige in Rennes, sondern der ursprüngliche in Paris, dessen Zeuge ich 1894 war. Ich lebte damals in Paris als Zeitungskorrespondent und wohnte der Verhandlung des Kriegsgerichtes bei, bis sie geheim erklärt wurde. Ich sehe den Angeklagten noch in seiner dunklen, verschnürten Artilleristenuniform in den Saal kommen, ich höre ihn noch seine Generalien abgeben: „Alfred Dreyfus, capitaine d'artillerie“, mit näselnder, gezierter Stimme. Und auch der Wutschrei der Menge auf der Straße vor der Ecole Militaire, wo er degradiert wurde, gellt mir noch unvergesslich in den Ohren: „à mort! à mort les juifs!“ Tod allen Juden, weil dieser eine ein Verräter war! Aber war er wirklich ein Verräter? Ich hatte damals ein Privatgespräch mit einem in der letzten Zeit vielgenannten Militärattache. Der Oberst wusste von der Sache nicht mehr, als in den Zeitungen gestanden; er glaubte jedoch an die Schuld des Dreyfus, weil es ihm unmöglich schien, daß sieben Offiziere einen Kameraden ohne die erdrückendsten Beweise verurteilen könnten. Ich wieder glaubte an seine Unschuld, weil ich einen jüdischen Offizier nicht für fähig hielt, einen Landesverrat zu begehen. Nicht, als ob ich die Juden im allgemeinen für besser hielte als die anderen Menschen. Aber gerade unter den besonderen Umständen des Kapitäns Dreyfus, der mir persönlich nicht einmal einen sympathischen Eindruck machte, kam mir die Sache unwahrscheinlich vor. Ein Jude, der als Generalstabsoffizier eine Laufbahn der Ehre geebnet vor sich hat, kann ein solches Verbrechen nicht begehen, sagte ich dem Oberst. In einer tieferen Schicht der Gesellschaft würde ich diese Möglichkeit bei Juden ebensowenig wie bei Christen leugnen. Bei Alfred Dreyfus lag hingegen eine psychologische Unmöglichkeit vor. Ein wohlhabender Mensch, der nur aus Ehrgeiz diese Karriere gewählt hat, kann gerade das ehrloseste Verbrechen nicht begangen haben. Die Juden haben infolge der langen bürgerlichen Ehrlosigkeit eine oft krankhafte Sucht nach Ehre, und ein jüdischer Offizier ist in dieser Beziehung ein potenzierter Jude. Mein damaliges Raisonnement war wohl das aller unserer Stammesgenossen seit Beginn der Affäre. Gerade weil uns allen die psychologische Unmöglichkeit von vornherein so klar gewesen, ahnten die Juden allerwärts die Unschuld des Dreyfus, noch bevor der denkwürdige Feldzug um die Wahrheit anfing. Man hat aus dieser Stimmung der Juden in ungünstiger Weise auf unsere Solidarität in allen, auch den schlimmsten Dingen, Schlüsse gezogen. Ich verwahre mich gewiss nicht gegen die nationale Solidarität der Juden, doch in diesem Falle lag etwas anderes vor. Die Juden waren einfach die ersten, die den Justizirrtum errieten, weil ihnen das Delikt unmöglich schien und weil sie zahllose Opfer falscher Anschuldigungen im Laufe der Jahrhunderte zu beklagen hatten. Nun sollte man sich aber vor einer sentimentalen oder melodramatischen Auffassung des Falles Dreyfus hüten. Das ist mehr als eine abstrakte Begebenheit, wenn sie auch an ein zuckendes, gequältes Menschenkind geknüpft ist. Man könnte sagen, das Schicksal des armen Hauptmannes sei nur eine für die gröbere Wahrnehmung dienende Illustration zu einer Bewegung der Geister, die sich im Franzosenlande abspielt. Längst handelt es sich für den philosophischen Betrachter nicht mehr um die Schuld oder Unschuld dieses jüdischen Artillerieoffiziers. Die Frage des Justizirrtums ist aller Teilnahme wert, aber wir haben zu ihr keine andere Stellung zu nehmen, als wenn es sich um den leidenden Angehörigen eines anderen Volkes handelte. Solange Menschen richten, kann und wird es Irrtümer geben, und die Gerechten aller Bekenntnisse und Nationen werden in dem Wunsche zusammentreffen, sie gutzumachen. Aber der Fall Dreyfus enthält mehr als einen Justizirrtum; er enthält den Wunsch der ungeheuren Mehrheit in Frankreich, einen Juden und in diesem einen alle Juden zu verdammen. Tod den Juden! heulte die Menge, als man dem Hauptmanne seine Tressen vom Waffenrocke riß. Und seither ist das „Nieder mit den Juden!“ ein Feldgeschrei geworden. Wo? In Frankreich! Im republikanischen, modernen, zivilisierten Frankreich, hundert Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte. Der Fall Dreyfus lässt sich in der Geschichte nur vergleichen mit dem Widerruf des Ediktes von Nantes. Auch das geschah nach einer langen Zeit. Mehr als neunzig Jahre waren vergangen, seit Heinrich IV. dieses Edikt erlassen hatte, da nahm Ludwig XIV. die Hugenottenfreiheit zurück. Zwar ist jetzt der Staat nicht mehr das Ich eines Sonnenkönigs; der Staat deckt sich mit dem Volkswillen, doch das Ergebnis ist jenem ähnlich. Das Volk, wenigstens ein sehr großer Teil davon, will nicht mehr die Menschenrechte für die Juden. Das Edikt der großen Revolution wird widerrufen.

Und da sind wir bei unserer Sache, da sind wir bei der geschichtlichen Lehre, die ein unbefangener Betrachter aus dem Falle Dreyfus ziehen musste. Bis dahin hatten die meisten von uns geglaubt, die Lösung der Judenfrage sei von der allmählichen Entwicklung der Menschheit zur Duldung zu erwarten. Wenn aber ein im übrigen fortschreitendes, gewiss hochzivilisiertes Volk auf solche Wege gelangen konnte, was war von anderen Völkern zu erhoffen, die noch heute nicht auf der Höhe sind, auf der die Franzosen bereits vor hundert Jahren hielten?

Für die Juden gibt es keine andere Hilfe und Rettung, als die Rückkehr zur eigenen Nation und die Sesshaftmachung auf eigenem Grund und Boden. Das schrieb ich in meinem Buche „Der Judenstaat“ im Jahre 1895 unter dem erschütternden Eindrucke des ersten Prozesses Dreyfus. Als ich zu diesen Konklusionen gelangte, da war ich meinem Volke noch ein Fremder. Ich wusste wenig von den Zuständen unserer armen Massen und nichts von den neueren Bewegungen im Judentum. Erst durch meine Publikation geriet ich in diesen Kreis, erfuhr ich von den Männern, die lange oder kurz vor mir ähnliches geschrieben hatten. Wer weiß, ob ich es gewagt hätte, mein Buch zu veröffentlichen, wenn mir die bedeutenderen Arbeiten des Deutschen Heß und des Russen Pinsker bekannt gewesen wären? Als ich es wagte, da hielt ich mich für einen Einsamen, der einen alten und gänzlich verschollenen Ruf neu ausstieße.

Indessen war der Zionismus bereits früher da. Er war vorhanden in Gedanken, Wort, Schrift und Tat. Was ist der Zionismus? Die Bestrebung, eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zu schaffen. (Baseler Programm von 1897.) Der Wunsch nach einer Rückkehr in die historische Heimat hatte in Wirklichkeit seit der Zerstörung unseres Reiches auf dem tiefen Grunde der Volksseele geschlummert. Den sehnsüchtigen Ruf: „Übers Jahr in Jerusalem!“ hatte eine Generation der anderen übergeben, und nur in den letzten Jahrzehnten des nationalen Verkommens war bei manchen Rabbinern die wässrige Deutung üblich geworden, das Jerusalem dieses Spruches solle eigentlich heißen London, Berlin oder Chikago. Wenn man die jüdischen Überlieferungen in dieser Weise auslegt, dann bleibt freilich vom Judentum nicht mehr viel anderes übrig als das Jahresgehalt, das diese Herren beziehen. Doch gegenüber solchen bequemen und unaufrichtigen Kommentatoren war in den letzten zwanzig Jahren unter dem neuen Druck des Antisemitismus ein rüstigeres Geschlecht aufgestanden. Die Ideen von Heß, die männlichen Vorschläge von Pinsker, Rülf, Birnbaum und anderen hatten zur Erziehung unserer Jugend im Osten von Europa viel beigetragen, die neuesten Judenhetzen in Russland und Rumänien hatten einzelnen reichen Wohltätern den Gedanken nahegelegt, daß etwas für die aufgeschreckten Schwärme unglücklicher Stammesgenossen geschehen müsse, die von Land zu Land umherirrten. Baron Hirsch hatte versucht, die Heimatlosen in Argentinien anzusiedeln, Baron Edmund Rothschild unternahm das gleiche in Palästina. Außerdem bildeten sich in den verschiedenen Städten Kolonisationsvereine; man nennt sie mit einem schönen Sammelnamen Choveve Zion, die Liebhaber von Zion. In England war ihr Führer Colonel Goldsmid. Aber diese vereinzelt, unabhängig voneinander und planlos arbeitenden Gruppen konnten das Ziel nicht erreichen, wenn sie auch einen hochwichtigen, für unsere ausschließende Tätigkeit unentbehrlichen Beweis lieferten: daß nämlich die Juden sich zur Landwirtschaft eignen. Der Jude will den Boden mit dem Blute und Schweiß seiner Arbeit düngen — allerdings nur einen einzigen Boden, den von Palästina. Baron Hirsch hatte dieses ideale Moment außer acht gelassen, darum ist sein Versuch in Argentinien misslungen, und wie schon früher erwähnt wurde, seine Kolonisten wählen Delegierte zum Zionisten-Kongress. Hingegen sind die Versuche in Palästina geglückt. Dort gibt es jüdische Bauern in blühenden Kolonien. Leider nur wenige, und die Liebhaber von Zion können nicht mehr ansiedeln, weil das Land der türkischen Regierung gehört, welche durch die stärkere Einwanderung von Juden misstrauisch wurde und endlich im Jahre 1891 die Grenzen sperrte.

Nachdem meine Freunde und ich uns von dieser Sachlage Rechenschaft gegeben haben, beschlossen wir nach zwei Richtungen einzugreifen. Erstens wollten wir alle isolierten Bestrebungen in eine einzige zusammenfassen und der Welt verkünden. Zweitens wollten wir mit der türkischen Regierung in loyale Unterhandlungen eintreten, um die rechtlichen Sicherheiten für die große Ansiedlung zu erlangen. Denn es ist klar, daß damit nichts getan wäre, wenn die Kolonisten der Willkür untergeordneter Verwaltungsbeamten preisgegeben blieben und vielleicht nach kurzer Rast, nach heroischer Arbeit, wieder auf- und davongejagt werden könnten.

Diese Erwägungen führten uns dazu, im Jahre 1897 den ersten Zionisten-Kongress nach Basel einzuberufen. Der Erfolg war ein überraschender. Ich weiß nicht, wieviel mir das Schicksal von der Verwirklichung unserer Idee zu sehen noch gestatten wird, ob ich dabei sein werde, wenn das jüdische Volk anfangen wird, das Land unserer Väter urbar und gesund zu machen, Straßen, Häfen, Bahnen, Kanäle, Wasserleitungen, Häuser, schöne Städte und den Tempel zu bauen. Aber das weiß ich, daß ich an jenem Augustsonntag 1897 in Basel etwas sehr Großes erlebt habe, vielleicht das Größte, was es in der ganzen Bewegung geben kann. Das jüdische Volk fand sich an dem Tage wieder. Zweihundert Vertreter von Vereinen aus der ganzen Welt versammelten sich in Basel, und sie erklärten schluchzend und jauchzend, daß es noch immer ein jüdisches Volk gebe, daß dieses Volk nicht untergegangen ist und nicht untergehen will. Das ist die Hauptsache. Ist einmal das Volksbewusstsein und der Volkswille vorhanden, dann gilt es nur noch, die vernünftigen Mittel und Wege zur Ausführung zu bringen. Ein Volk ist unerschöpflich an Kräften, wie es auch nicht durch die zeitlichen Grenzen des Individuums beschränkt wird. Freilich darf die Ausführung nicht unnötig verzögert werden, sonst werden die klarsten Bestrebungen blass und unwirklich wie Träume. Wir haben uns also nicht übermäßig bei den Gefühlsduseleien des Wiederfindens aufgehalten und bemühten uns vielmehr, weiterzugehen.

Späterhin, wenn wir selbst oder andere die Geschichte dieser Bewegung schreiben werden, wird wohl in der Entfernung alles anders aussehen, als es wirklich war. Manches, woran wir uns vor Anstrengung nahezu verbluteten, wird sich wie die leichteste Arbeit ausnehmen, und wieder anderes, was uns wie ein Geschenk zuflog, wird als die Frucht einer großartigen Bemühung erscheinen. Wochen und Monate mussten wir uns an lächerlich geringen Hindernissen abquälen, dann schwebten wir wie im Luftschiff über einen Berg hinweg. Wir hatten und haben mit geheimen Feindschaften zu kämpfen, die uns niemand glauben würde, so sehr sind sie gegen die Natur. Aber wir hatten und haben auch verschwiegene Freunde und Gönner, die uns ebenfalls niemand glauben würde. Einer ist da vor allem, dem die zionistische Bewegung unendlich viel verdankt, ein weiser, gütiger, sehr hoher Herr, der aber nicht will, daß man ihn nenne. Und so gibt es vieles, gerade das Beste, was man nicht sagen kann, wenn man in verantwortlicher Weise an einer solchen Bewegung teilnimmt.

Im logischen Zug unserer Aufgabe liegt es, daß wir die Regierungen und die öffentliche Meinung über unser Werk aufklären. Das geschieht auf mannigfaltige Art. Die Judenfrage spielt sich ja mehr oder weniger in jedem Lande ab. Auch die Vereinigten Staaten, namentlich Newyork mit seiner plötzlich angeschwollenen Einwohnerschaft von einigen hunderttausend proletarischen Juden, sind an der Sache interessiert. Für die Vereinigten Staaten bedeutet die zionistische Lösung die Ableitung einer wahrscheinlich unerwünschten Einwanderung. In den osteuropäischen Massenherbergen des Elends hausen noch Millionen Juden, die sonst über den Atlantischen Ozean gehen, mit ihrem Hunger die jenseitigen Arbeitslöhne drücken und überhaupt mit dem Mute der Verzweiflung dort in den wirtschaftlichen Wettkampf stürzen werden. Man kann sich allerdings gegen den Zuzug durch Landungsschwierigkeiten und dergleichen ein wenig, nicht ganz schützen. Aber rühmlicher und amerikanischer wird es ein, wenn das freieste Volk der Erde die Freiheitsbestrebungen des jüdischen Volkes unterstützt und ihm, statt den Weg nach Amerika zu erschweren, den Weg nach Zion erleichtern hilft. Die Stimme der Vereinigten Staaten wird auch in Europa, auch im Orient vernommen.

Wer die jetzige politische Weltlage kennt, für den war es von Anfang an klar, daß wir uns bemühen mussten, das Wohlwollen des mächtigen deutschen Kaisers für unsere Bewegung zu gewinnen. Ich hatte vom ersten Tage an nicht gezweifelt, daß dies gelingen würde. Alles, was ich von der genialen Persönlichkeit Wilhelms II. wusste, ließ mich mit Bestimmtheit erwarten, daß wir in ihm einen Versteher und Helfer finden würden. Kleinen Leuten, Krämerseelen, Politikern von beschränktem Gesichtskreise konnte unser Plan allzu gigantisch und darum unausführbar erscheinen. Ihm nicht! Noch ist dieser merkwürdige Fürst nicht in seiner ganzen Größe erkannt. Eine schmähsüchtige Opposition verzerrt die mitunter überraschenden Äußerungen eines kraftvollen hochfliegenden Geistes. Aber wer kann leugnen, daß er eine eigentümlich großartige Politik macht, daß er die Lebensbedingungen des jungen Deutschen Reiches erweitert und stärkt und daß er bei aller Kühnheit seiner Konzeptionen mit weisester Behutsamkeit vorgeht. Es wurde mir einmal erzählt, daß er die Gewohnheit habe, sich an der Hand von Aufzeichnungen über seine Handlungen selbst Rechenschaft zu geben, ob das, was er tun will, sich mit den Prinzipien decke, die er sich noch als Prinz für die Zeit seiner Regierung vorgeschrieben hat. Ich weiß nicht, ob das sich genau so verhält, aber es ist ihm zuzutrauen.

Es ist mir nicht unbekannt, daß in Amerika in letzter Zeit stellenweise nicht die beste Stimmung für Wilhelm II. geherrscht hat. Dennoch wird es gestattet sein, den Eindruck zu sagen, den der Kaiser macht, wenn man sich ihm nähert. Immer unvergesslich wird mir namentlich eine Unterredung in Konstantinopel bleiben. Eine Stunde lang wurden alle mit dem Zionismus zusammenhängenden Fragen erörtert. Seine Majestät führte das Gespräch in einem herzgewinnend frischen und natürlichen Ton, und ich kann nur sagen, wenn es auch vielleicht höfisch klingt, daß ich von Bewunderung erfüllt wurde durch den Reichtum seiner Kenntnisse und seine wahrhaft weltumspannende Auffassung der Dinge. Von diesem Herrscher ist noch viel Großes zu erwarten. Die Zeit wird lehren, ob mein Urteil befangen oder überschwenglich ist. Einige Wochen später stellte ich in den Zelten von Jerusalem die zionistische Abordnung, die ich hingeführt hatte, dem Kaiser in feierlicher Audienz vor. Auf meine offizielle Ansprache erwiderte Seine Majestät, daß er dem Zionismus sein wohlwollendes Interesse zugewendet habe.

Auf dieser Reise lernten wir Palästina zum erstenmal aus eigener Anschauung kennen. Wir waren sehr bewegt, als eines sonnenfrohen Morgens die blasse Küste des Landes von unserem Schiffe aus sichtbar wurde. Das gehörte zu den Augenblicken höchster Poesie, die man auch in einem vollen Leben nicht oft hat. Es gab auch noch andere rührende und ergreifende Momente, wie zum Beispiel die Ankunft in einer Mondnacht in der heiligen Stadt Jerusalem. Da ragten von einem silbernen Duft umflossen die Umrisse der alten Mauern in den Himmel hinauf. Und mit einem Schlage wurde uns verständlich, daß außer der mystischen Sehnsucht auch noch ein irdisches Verlangen in den alten Gebeten der Juden um Heimkehr nach Jerusalem gezittert haben muss. Das war eine herrliche Stadt, in den Bergen gar hoch und stolz gelegen. Und als wir an einem späteren Tage, auf dem Ölberg stehend, das ganze Stadtbild unter uns sahen, wie man vom Gianiculo über Rom hinblickt, da sagten wir uns im Gemüte, daß Jerusalem auch wieder schön und herrlich werden kann in Zeiten, die wir vorbereiten.

Jetzt ist das Land arm und verwahrlost, die Hügellehnen sind entwaldet, die Ortschaften mit den hochberühmten Namen liegen traurig in Trümmern, die Felder brach. Das heilige Land ist eine Wüste. Aber es gibt Oasen! Die Oasen sind unsere jüdischen Kolonien. Der Zionismus, diese Schwärmerei, diese Utopie, hat bereits sichtbare, greifbare Dörfer und Pflanzungen hervorgebracht. In schmucken Häusern wohnen aufrechte jüdische Bauern, die mit Lust den geliebten Boden bestellen. Und man musste die zwanzig Burschen von Rechowoth sehen, die uns auf arabischen Pferden entgegensprengten, als wir ihre Kolonie besuchen kamen. Verwegene Reitertänze führten sie auf ihren Rennern aus und jauchzten dazu hebräische Lieder von außerordentlichem Schwung. Wenn ein, zwei Dutzend solcher Dörfer entstehen konnten, so können noch Hunderte und Tausende von Niederlassungen entstehen. Wer zweifelt daran, da wir doch die Menschenkräfte haben und die materiellen Mittel herbeizuschaffen vermögen.

Die Frage ist nur, wie wir das rechtliche Terrain für eine große Ansiedlung schaffen werden. Die Baseler Kongresse haben sich mit dieser Frage eingehend befasst. Auf dem zweiten Kongresse wurde die Gründung der Jüdischen Kolonialbank beschlossen, die als das finanzielle Instrument unserer Sache zu dienen hat. Den Aufruf zur Zeichnung der Shares unterfertigten die politischen Leiter der Bewegung, die nie etwas mit Geschäften zu tun hatten, wie überhaupt keiner der Gründer von diesem Unternehmen irgendeinen pekuniären Vorteil haben will oder kann. Hunderttausend Zeichner in allen Weltteilen meldeten sich auf den Ruf, und wir konnten dem dritten Kongresse die Mitteilung machen, daß die Jüdische Kolonialbank (The Jewish Colonial Trust) mit dem Sitze in London errichtet worden ist. Nunmehr werden wir uns bemühen, von der türkischen Regierung einen Charter unter der Souveränität Seiner Majestät des Sultans zu erlangen, um die von uns gemeinte Besiedlung des Landes vornehmen zu können. Das liegt noch vor uns. Wir hoffen, daß es uns gelingen werde, wenn auch noch so große Schwierigkeiten entgegenstehen. Wir können einen Strom von Reichtum und Wohlfahrt in die Türkei leiten, wir bringen friedliche Arbeiter und rastlosen Unternehmungsgeist ins Land, wir liefern dem Staate enorme mittelbare und unmittelbare finanzielle Vorteile. Warum sollten wir uns nicht der Zuversicht hingeben, daß unsere vernünftigen und loyalen Vorschläge über alle Hindernisse hinweg, die ich gewiss nicht unterschätze, zu einem guten Ende kommen werden.

Ist einmal der Charter erlangt, so werden wir die Auswanderung mit Hilfe der bestehenden praktischen Kolonisationsvereine und selbstverständlich im Einvernehmen mit den Regierungen in geregelte Bahnen lenken.

Das sind neue große Aufgaben, die unser harren und für die wir schon jetzt einen Stab entschlossener, gebildeter, begeisterter Leute erziehen. Alle die jungen Juristen, Mediziner, Techniker, die jetzt die Propaganda der Idee in allen Ländern besorgen, sollen dann zur unmittelbaren Arbeit einberufen werden.

Wie sich das weiter entwickeln wird? Wie Organisches sich entwickelt. Aus sich heraus! Die Kräfte täglich neu erzeugend, die es braucht, und mit den Aufgaben wachsend, nochmal wachsend und wieder wachsend. Wir Juristen, die heute an der Spitze stehen, werden den Technikern, die man morgen brauchen wird, die Führung teilweise oder ganz überlassen. Dort an der Barre des Mittelmeeres, die jetzt eine Hemmung des Verkehrs zwischen Europa und Asien vorstellt, ist ein Kulturwerk zu stiften, sind neue Wege zu schlagen. Das Problem ist für unsere jetzige technische Macht über die Naturkräfte kein unlösliches. Ich glaube an dieses Kulturwerk, und ich glaube, es wird herrlich sein.

Als ich meine erste Publikation in dieser Sache vorbereitete und einigen meiner Freunde von diesem Vorhaben Mitteilung machte, erschraken sie sehr, weil sie fürchteten, ich würde mich dadurch für immer in den Augen aller Vernünftigen unmöglich machen. Da ich mich nicht umstimmen ließ, rieten sie mir, die Idee wenigstens in der unverbindlichen und unterhaltenden Form eines Romanes vorzubringen mit Liebesgeschichten, menschlichen Einzelschicksalen und einer Malerei künftiger Zustände im Judenlande. Das war ja auch mehr im Einklang mit meiner bisherigen Tätigkeit als Stückeschreiber und Feuilletonist. Wohl sah ich ein, daß dies ein gutes Propagandamittel für die Idee wäre und mir die Gefahr ersparte, mich bis auf die Knochen zu blamieren. Aber dann wäre keine Tat daraus geworden. Man hätte in den Salons und Eisenbahncoup6s davon gesprochen, viele hätten über den launigen Einfall gelacht, und manche hätten vielleicht heimlich in das Buch hineingeweint. Was war damit erreicht? Noch ein Märchen in tausend und einer Nacht des Leidens. Nein, es sollte Tag und Tat werden. Aufrütteln mussten wir das jüdische Volk, statt es einzulullen. Und wirklich, es hat sich aufrütteln lassen, es streckt die Glieder, es gerät in die Bewegung, die wir nach ihrem Ziele Zionismus nennen. Und jetzt meine ich, ist auch die Stunde gekommen, ihm das Märchen kommender Zeiten zu erzählen. Es wird ein Roman und spielt von jetzt in zwanzig Jahren. Ich schildere die Gesellschaft, die Einrichtungen, die wir schaffen können — nicht etwa mit Hilfsmitteln, die erst noch zu erfinden sind, sondern mit solchen, über die unsere Kultur heute schon verfügt. Wir sind am Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Christi Geburt angelangt. Die Menschheit besitzt schon viele Werkzeuge der Glückseligkeit, aber sie werden noch nicht recht angewendet. Es ist zu zeigen, wieviel Gerechtigkeit, Güte und Schönheit auf die Erde gebracht werden kann, wenn es nur ordentlich gewollt wird.

Was sind das für unerwartete Zeiten, in denen wir leben! Leicht und frei ist der Verkehr der Völker geworden. Die Entfernungen sind beinahe aufgehoben. Die Kriegsmächte beginnen über den ewigen Frieden zu beraten. Immer mehr Angelegenheiten werden in internationalen Versammlungen erörtert. Für Wissenschaft und Kunst gibt es keine Grenzen mehr. Die großen Dichter und Philosophen schaffen ihre Werke für die ganze Welt. Die öffentliche Meinung ist nicht mehr auf einen Ort, eine Stadt, ein Land beschränkt. Ein Unglück, das hier geschieht, kann in der nächsten Stunde bei unseren Antipoden bekannt sein und wird bei ihnen Teilnahme erregen. Eine Erfindung, welche der Menschheit nützt, wird von hunderttausend Herolden ausposaunt. Ein Unrecht, das irgendwo begangen wird, braucht nur signalisiert zu werden, um in allen Weltteilen Stürme der Entrüstung hervorzurufen. Was sind das für merkwürdige Zeiten! In einer noch nicht weit zurückliegenden Zeit hätte man dies alles für unmöglich erklärt und den, der es wünschte, für einen törichten Schwärmer. Und siehe, das Mystische wird natürlich, als ob sich die angesagten Zeiten erfüllen wollten. So kommt es, daß moderne, in ihrem eigenen Tage fußende Menschen das als eine natürliche, notwendige und ausführbare Sache erkennen, worum in zahllosen Gotteshäusern die Jahrhunderte her Gebete und Gebete in den Himmel aufgestiegen sind: die Rückkehr der Juden!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften