Zweiter Brief an Baron Hirsch. 1895

37 rue Cambon, 24. V. 1895.

Hochgeehrter Herr!


Ich bedauere sehr lebhaft, daß wir nicht hier zusammenkommen konnten.

Zu schreiben, was ich Ihnen sagen wollte, ist nicht leicht. Ich will von den äußeren Schicksalen, die ein Brief haben kann, absehen. Meine Absichten, die einem bedeutenden Zweck dienen, könnten durch müßige Neugier defloriert oder durch den Unverstand zufälliger Mitwisser verdorben werden. Ferner kann mein Brief in einem Augenblick in Ihre Hände kommen, wo Sie, durch anderes zerstreut, ihn nicht mit der ganzen konzentrierten Aufmerksamkeit lesen würden.

Wenn Sie mir aber durch Ihren Sekretär irgendeine höfliche Formel der prise en considération antworten ließen, wären Sie für mich dauernd erledigt. Und das wäre vielleicht im allgemeinen Interesse zu bedauern.

Dennoch werde ich Ihnen schreiben. Nur bin ich im Augenblick zu beschäftigt — wie der alte Witz sagt —, um mich kurz zu fassen. Tatsächlich möchte ich Sie nicht mit großmächtigen Auseinandersetzungen langweilen. Ich werde Ihnen, sobald ich Zeit finde, den Plan einer neuen Judenpolitik vorlegen.

Was Sie bisher unternommen haben, war ebenso großmütig als verfehlt, ebenso kostspielig als zwecklos. Sie waren bisher nur ein Philanthrop, ein Peabody. Ich will Ihnen den Weg zeigen, wie Sie mehr werden können.

Glauben Sie aber nicht, daß ich ein Projektenmacher oder Narr von einer neuen Spielart bin, wenn auch die Weise, wie ich Ihnen schreibe, ein bißchen vom Gewöhnlichen abweicht. Ich gebe die Möglichkeit von vornherein zu, daß ich mich irre, und lasse mir Einwendungen gefallen.

Ich erwarte durchaus nicht, daß ich Sie gleich überzeugen werde, denn Sie müssen eine Anzahl Ihrer bisherigen Gedanken umdenken.

Ich wünsche nur, obwohl ich Ihnen vermutlich ein unbekannter Mann bin, Ihre vollste Aufmerksamkeit. Im Gespräch hätte ich mir sie wahrscheinlich erzwungen, im brieflichen Verkehr ist das schwerer. Mein Schreiben liegt unter anderen auf Ihrem Tisch, und ich denke mir, daß Sie von Bettlern, Schmarotzern, Simulanten und Industriellen der Wohltätigkeit täglich genug Briefe bekommen. Darum wird mein Brief in einem zweiten Umschlag liegen, der die Aufschrift hat: Brief des Dr. Herzl. Diesen bitte ich Sie beiseite zu legen und erst zu öffnen, wenn Sie einen vollkommen ruhigen und freien Kopf haben. So wie ich's für unser unterbliebenes Gespräch gewünscht hatte.

Hochachtungsvoll ergeben

Dr. Herzl.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften