Unterredung Theodor Herzls mit Baron Hirsch.

UNTERREDUNG THEODOR HERZLS MIT BARON HIRSCH

(Pfingstsonntag 1895)


Herzl: Sie werden in dem, was ich Ihnen sagen will, einiges zu einfach, anderes zu phantastisch finden. Aber mit Einfachem und Phantastischem führt man die Menschen. Es ist erstaunlich — und bekannt — mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.

Nun war ich keineswegs von vornherein darauf aus, mich mit der Judenfrage zu beschäftigen.

Sie dachten ja ursprünglich auch nicht daran, Patron der Juden zu werden. Sie waren ein Bankier, machten große Geschäfte; endlich verwendeten Sie Ihre Zeit und Ihr Geld auf die Judensache. — So war ich von Haus aus Schriftsteller, Journalist, dachte nicht an die Juden. Aber meine Erfahrungen, Beobachtungen, der wachsende Druck des Antisemitismus zwangen mich zur Sache.

Gut. Legitimiert bin ich also.

Auf die Geschichte der Juden, mit der ich anfangen sollte, gehe ich nicht ein. Sie ist bekannt. Nur eins muss ich hervorheben. Durch unsere zweitausendjährige Verstreuung sind wir ohne einheitliche Leitung unserer Politik gewesen. Das aber halte ich für unser Hauptunglück. Das hat uns mehr geschadet als alle Verfolgungen. Denn es war niemand da, der uns — wäre es auch nur aus monarchischem Eigennutz — zu rechten Männern erzogen hätte. Im Gegenteil. Zu allen schlechten Gewerben wurden wir hingedrängt, im Ghetto festgehalten, wo wir aneinander verkamen, und als man uns herausließ, wollte man plötzlich, daß wir gleich die Gewohnheiten der Freiheit hätten.

Wenn wir nun eine einheitliche politische Leitung hätten, deren Notwendigkeit nicht weiter zu beweisen ist, und die durchaus keinen Geheimbund vertreten soll — wenn wir diese Leitung hätten, könnten wir an die Lösung der Judenfrage herangehen. Und zwar von oben und von unten und von allen Seiten.

Nach dem Zweck aber, den wir dann, wenn wir ein Zentrum, einen Kopf haben, verfolgen wollen, werden die Mittel sein.

Zwei Zwecke können es sein. Entweder Bleiben oder Auswandern.

Für beide sind gewisse Maßregeln der Volkserziehung die gleichen. Denn selbst wenn wir auswandern, dauert es lange, bis wir im Gelobten Land ankommen. Moses brauchte vierzig Jahre. Wir werden vielleicht zwanzig oder dreißig brauchen. Jedenfalls steigen inzwischen neue Geschlechter herauf, die wir uns erziehen müssen.

Für die Erziehung will ich nun gleich von vornherein ganz andere Methoden vorschlagen, als Sie sie haben.

Zunächst ist da das Prinzip der Wohltätigkeit, das ich für durchaus falsch halte. Sie züchten Schnorrer. Charakteristisch ist, daß bei keinem Volk so viel Wohltätigkeit und so viel Bettel vorkommt wie bei den Juden. Es drängt sich einem auf, daß zwischen beiden Erscheinungen ein Zusammenhang sein müsse! So daß durch die Wohltätigkeit der Volkscharakter verlumpt.

Hirsch: Sie haben ganz Recht.

Herzl: Vor Jahren hörte ich, daß Ihre Versuche mit den Juden in Argentinien keine oder schlechte Resultate ergeben.

Hirsch: Wollen Sie, daß ich Ihnen zwischendurch antworte, wenn ich eine Einwendung habe?

Herzl: Nein, mir ist lieber, wenn Sie mich den ganzen Körper meiner Auseinandersetzung geben lassen. Ich weiß, daß einzelnes den Tatsachen nicht entsprechen wird, weil ich bisher keine Ziffern und Daten sammelte. Lassen Sie mich nur meine Prinzipien formulieren.

Ihre argentinischen Juden führen sich liederlich auf, hat man mir erzählt.

Jedenfalls war die Sache nicht so anzufangen, wie Sie es taten. Sie schleppen diese Ackerjuden hinüber. Die müssen glauben, daß sie fernerhin ein Recht auf Ihre Unterstützung haben, und gerade die Arbeitslust wird dadurch nicht gefördert. Was ein solcher Exportjude Sie kostet, ist er nicht wert. Und wieviel Exemplare können Sie überhaupt hinübersetzen? Fünfzehn — zwanzigtausend! ... In einer Gasse der Leopoldstadt in Wien wohnen mehr.

Nein, direkte Mittel sind zur Bewegung von Menschenmassen überhaupt nicht verwendbar. Wirken können Sie nur mit indirekten.

Um die Juden aufs Land zu ziehen, mussten Sie ihnen ein Märchen der Goldgewinnung erzählen. Phantastisch konnte es so lauten: Wer ackert, sät und erntet, findet in der Garbe Gold. Ist ja auch beinahe wahr. Nur wissen die Juden, daß es ein kleines Klümpchen sein wird. So konnten Sie ihnen vernunftmäßiger sagen: wer am besten wirtschaftet, bekommt eine Prämie, die sehr hoch sein kann.

Nur glaube ich nicht, daß man die Juden in ihren jetzigen Wohnorten aufs Land setzen kann. Die Bauern würden sie mit Dreschflegeln erschlagen. Ein Hauptnest des deutschen Antisemitismus ist Hessen, wo Juden Klein-Ackerbau treiben.

Mit zwanzigtausend Ihrer argentinischen Juden haben Sie noch nichts bewiesen, selbst wenn die Leute gut tun.

Misslingt es aber, so liefern Sie einen furchtbaren Beweis gegen die Juden.

Genug der Kritik. Was ist zu tun?

Zum Bleiben wie zum Wandern muss die Rasse zunächst an Ort und Stelle verbessert werden. Man muss sie kriegsstark, arbeitsfroh und tugendhaft machen. Nachher auswandern — wenn es noch nötig ist.

Für diese Verbesserung können Sie Ihre Mittel besser verwenden, als Sie es bisher getan haben.

Statt sich die Juden einzeln zu kaufen, setzen Sie in den Hauptländern des Antisemitismus Riesenprämien aus: für actions d'éclat, für Handlungen von großer moralischer Schönheit, für Mut, Selbstaufopferung, sittliches Verhalten, große Leistungen in Kunst und Wissenschaft, für den Arzt in Epidemiezeiten, den Krieger, den Erfinder eines Heilmittels, eines Wohlfahrtsmittels, gleichviel was — kurz, für alles Große.

Durch die Prämie wird Doppeltes erreicht: erstens die Verbesserung aller, zweitens die Bekanntmachung. Weil nämlich die Sache ungewöhnlich und glänzend ist, wird man allerwärts davon reden. So erfährt man, daß es auch und wie viele gute Juden es gibt.

Das erste aber ist wichtiger: die Verbesserung. Auf den einzelnen jährlich Prämiierten kommt es ja gar nicht an. Mir sind die anderen wichtiger, die sich alle höher recken, um den Preis zu bekommen. So wird das moralische Niveau gehoben . . .

Hirsch: Nein, nein, nein! Ich will das Niveau gar nicht heben. Alles Unglück kommt daher, daß die Juden zu hoch hinaus wollen. Wir haben zu viel Intelligenzen. Meine Absicht ist, die Juden von der Streberei abzuhalten. Sie sollen nicht so große Fortschritte machen. Aller Hass kommt daher. — Was nun meine Pläne in Argentinien betrifft, sind Sie auch schlecht unterrichtet. Es ist wahr, daß ich anfangs liederliche Burschen hinüberbekam, die ich am liebsten ins Wasser geworfen hätte. Aber jetzt habe ich schon viele ordentliche Leute drüben. Und meine Absicht ist, wenn die Kolonie gedeiht, ein schönes englisches Schiff zu mieten, hundert Zeitungskorrespondenten einzuladen — Sie lade ich schon heute ein — und mit ihnen hinüberzufahren nach Argentinien. Es hängt freilich von den Ernten ab. Nach einigen guten Jahren könnte ich der Welt zeigen, daß die Juden also doch zu Ackerbauern taugen. Das wird dann vielleicht zur Folge haben, daß man sie auch in Russland auf den Feldern arbeiten lässt.

Herzl: Ich habe Sie nicht mehr unterbrochen, obwohl ich nicht fertig war. Es war mir interessant, zu hören, was Sie eigentlich vorhaben. Aber ich sehe ein, daß es unnütz wäre, Ihnen meine weiteren Gedanken zu sagen.

Hirsch: Ich bemerke ja, daß Sie ein intelligenter Mensch sind. Aber Sie haben so phantastische Einfälle.

Herzl (aufstehend): Ja, habe ich Ihnen denn nicht vorher gesagt, daß Ihnen das zu einfach oder zu phantastisch vorkommen wird? Sie wissen nicht, was das Phantastische ist, und daß man nur von einer Höhe aus die großen Züge der Menschen betrachten kann.

Hirsch: Auswandern wäre das Einzige. Es gibt Länder genug zu kaufen.

Herzl: Ja, wer sagt Ihnen denn, daß ich nicht auswandern will? Da steht es, in diesen Notizen. Ich werde zum deutschen Kaiser gehen, und der wird mich verstehen, denn er ist dazu erzogen, große Dinge zu beurteilen . . .

Dem deutschen Kaiser werde ich sagen: Lassen Sie uns ziehen! Wir sind Fremde, man lässt uns nicht im Volk aufgehen, wir können es auch nicht. Lassen Sie uns ziehen! Ich will Ihnen die Mittel und Wege angeben, deren ich mich für den Auszug bedienen will, damit keine wirtschaftliche Störung, keine Leere hinter uns eintrete.

Hirsch: Woher nehmen Sie das Geld? Rothschild wird fünfhundert Frank unterschreiben.

Herzl: Das Geld? Ich werde eine jüdische Nationalanleihe von zehn Milliarden Mark aufbringen.

Hirsch: Phantasie! Die reichen Juden geben nichts her. Die Reichen sind schlecht, interessieren sich für die Leiden der Armen nicht.

Herzl: Sie reden wie ein Sozialist, Baron Hirsch!

Hirsch: Ich bin auch einer. Ich bin gleich bereit, alles herzugeben, wenn es die anderen auch tun müssen . . .

Das war nicht unser letztes Gespräch. Sobald ich wieder von London herüberkomme, gebe ich Ihnen ein Lebenszeichen.

Herzl: Wann Sie wollen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften