Dritter Brief an Baron Hirsch, Paris. 1895
Pfingstmontag, 3. Juni 1895.
Hochgeehrter Herr!
Um dem esprit de l’escalier vorzubeugen, machte ich mir Notizen, bevor ich zu Ihnen ging
Heimgekehrt sah ich, daß ich auf Seite 6 stehengeblieben bin, und ich hatte 32 Seiten. Durch Ihre Ungeduld haben Sie nur Absätze kennengelernt, wo und wie die Idee zu blühen anfängt, das haben Sie nicht erfahren.
Schadet nichts. Erstens erwartete ich keine sofortige Bekehrung. Zweitens steht mein Plan durchaus nicht auf Ihren zwei Augen.
Wohl hätte ich Sie als eine vorhandene und bekannte Kraft der Kürze wegen gern benützt. Aber Sie wären eben nur die Kraft gewesen, mit der ich begonnen hätte. Es gibt andere. Es gibt endlich und vor allem die Masse der Juden, zu der ich den Weg zu finden wissen werde.
Diese Feder ist meine Macht. Sie werden sich davon überzeugen, wenn ich bei Leben und Gesundheit bleibe — eine Einschränkung, die ja Sie selbst auch bei Ihrem Werk machen müssen.
Sie sind der große Geldjude, ich bin der Geistesjude. Daher kommen die Verschiedenheiten unserer Mittel und Wege. Bemerken Sie, daß Sie von meinen Versuchen noch nichts hören konnten, weil der erste eben bei Ihnen, an Ihnen stattfand.
Natürlich sind Sie mir mit leiser Ironie gegenübergestanden. So habe ich's erwartet. Ich sagte es Ihnen in der Einleitung. Neue Ideen werden so aufgenommen. Dabei hatten Sie nicht einmal die Geduld, sie bis zu Ende anzuhören. Ich werde mich dennoch aussprechen. Ich hoffe, Sie werden das herrliche Wachstum meiner Ideen erleben. Sie werden sich des Pfingstsonntagvormittags erinnern, denn Sie sind, glaube ich, mit aller Ihrer Ironie ein unbefangener und großen Entwürfen zugänglicher Mann, auch versuchten Sie ja viel für die Juden zu tun — in Ihrer Art. Aber werden Sie mich verstehen, wenn ich sage, daß Ihre Methode durch den ganzen Entwicklungsgang der Menschheit Lügen gestraft wird? Wie, Sie wollen eine große Gruppe von Menschen auf einem bestimmten Niveau erhalten, ja sogar herabdrücken? Allons donc! Wir wissen doch, welche Phasen unser menschliches Geschlecht durchlaufen hat, von den Urzuständen herauf bis zur Kultur. Es geht immer aufwärts, justament, trotz alledem und ewig, immer höher, immer höher, immer höher! Es gibt Rückschläge, jawohl. Das ist keine Phrase. Unsere Großväter wären verblüfft, wenn sie wiederkämen, aber wer wird künstlich einen Rückschlag herbeiführen wollen, ganz abgesehen davon, daß es nicht geht. Wenn es ginge, glauben Sie, daß es die Monarchien, die Kirche nicht durchführten? Und was haben diese Mächte für Mittel über Leib und Seele der Menschen! Was sind Ihre Mittel dagegen? Nein, wenn es hoch kommt, halten Sie die Entwicklung ein Weilchen auf und dann werden Sie vom großen Sturmwind hinweggefegt.
Wissen Sie, daß Sie eine furchtbar reaktionäre Politik haben — ärger als die absolutesten Autokratien — zum Glück reichen Ihre Kräfte dazu nicht aus. Sie meinen es gut, parbleu, je le sais bien. Darum möchte ich ja Ihrem Willen die Richtung geben. Lassen Sie sich dadurch nicht gegen mich einnehmen, daß ich ein jüngerer Mann bin. Mit meinen 35 Jahren ist man in Frankreich Minister, Napoleon war Kaiser.
Sie haben mir mit Ihrem höflichen Hohn das Wort abgeschnitten. Ich bin noch im Gespräche zu dekonzertieren. Ich habe noch nicht den Aplomb, der mir wachsen wird, weil er nötig ist, wenn man Widerstände brechen, Gleichgültige erschüttern, Leidende aufrichten und mit den Herren der Welt verkehren will.
Ich sprach von einem Heer, und Sie unterbrachen mich schon, als ich von der (moralischen) Trainierung zum Marsch zu reden anfing. Ich ließ mich unterbrechen. Und doch habe ich auch das Weitere schon entworfen: den ganzen Plan. Ich weiß, was alles dazu gehört: Geld, Geld, Geld. Fortschaffungsmittel, Verpflegung großer Massen (worunter nicht Essen und Trinken, wie in Moses einfachen Zeiten zu verstehen), Erhaltung der Manneszucht, Organisierung der Abteilungen, Entlassungsverträge mit Staatshäuptern, Durchzugsverträge mit anderen, Garantieverträge mit allen und Anlage neuer herrlicher Wohnorte; vorher die gewaltige Propaganda, die Popularisierung der Idee durch Zeitungen, Bücher. Traktätchen, Wandervorträge, Bilder, Lieder, alles von einem Zentrum aus zielbewusst und weitblickend geleitet. Aber ich hätte Ihnen schließlich sagen müssen, welche Fahnen, und wie ich sie aufrollen will. Und, hätten Sie mich spöttisch gefragt: eine Fahne, was ist das? Eine Stange mit einem Fetzen Tuch. Nein, mein Herr, eine Fahne ist mehr als das. Mit einer Fahne führt man die Menschen, wohin man will, selbst ins Gelobte Land.
Für eine Fahne leben und sterben sie, es ist sogar das Einzige, wofür sie in Massen zu sterben bereit sind, wenn man sie dazu erzieht.
Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes — besonders, wenn es so in aller Welt zerstreut ist — macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern. Und in kurzer Zeit. Bismarck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasten pflanzten.
Wie? Sie verstehen das Imponderabile nicht? Und was ist die Religion? Ja, nur das Phantastische ergreift die Menschen. Und wer damit nichts anzufangen weiß, der mag ein vortrefflicher, braver und nüchterner Mann sein und selbst ein Wohltäter in großem Stil. Führen wird er die Menschen nicht, und es wird keine Spur von ihm bleiben.
Dennoch müssen die Volksphantasten einen festen Grund haben. Wer sagt Ihnen, daß ich nicht durchaus praktische Ideen für das Detail habe? Detail, das freilich noch immer riesenhaft ist.
Der Auszug ins Gelobte Land stellt sich praktisch als eine ungeheuere, in der modernen Welt beispiellose — Transportunternehmung dar. Was, Transport? Ein Komplex aller menschlichen Unternehmungen, die wie Zahnräder ineinandergreifen werden. Und bei dieser Unternehmung wird schon in den. ersten Stadien die nachstrebende Menge unserer jungen Leute Beschäftigung finden: alle die Ingenieure, Architekten, Technologen, Chemiker, Advokaten, die in den letzten dreißig Jahren aus dem Ghetto herausgekommen sind und glaubten, daß sie ihr Brot und ein bißchen Ehre außerhalb des jüdischen Schachers finden würden, die jetzt verzweifeln müssen und ein furchtbares Bildungsproletariat zu bilden beginnen. Denen aber meine ganze Liebe gehört und die ich so vermehren will, wie Sie sie vermindern möchten. In denen ich die künftige noch ruhende Kraft der Juden sehe. Meinesgleichen, mit einem Wort.
Und aus diesen Bildungsproletariern bilde ich die Generalstäbe und Cadres des Landsuchungs-, Landfindungs- und Landeroberungsheeres. Schon ihr Abzug wird in den Mittelständen der antisemitischen Länder ein wenig Luft machen und den Druck erleichtern.
Sehen Sie nicht, daß ich mit einem Schlag das Kapital und die Arbeit der Juden für den Zweck bekomme? Und ihre Begeisterung dazu, wenn sie erst verstehen, um was es sich handelt.
Das sind freilich nur große Umrisse. Aber woher wissen Sie, daß ich die Details dafür nicht schon entworfen habe? Ließen Sie mich ausreden?
Allerdings, die Stunde war vorgerückt, Sie wurden vielleicht erwartet, hatten zu tun, was weiß ich? Nur kann von derartigen Zufällchen die Bewegung einer solchen Frage nicht abhängen. Beruhigen Sie sich, sie hängt wirklich nicht davon ab.
Sie werden den Wunsch haben, unser Gespräch fortzuführen, und ich werde — ohne auf Sie zu warten — immer bereit sein, Ihnen die Fortsetzung zu liefern.
Arbeiten die Anregungen, die ich Ihnen gab, in Ihnen weiter, und wollen Sie mit mir reden, so schreiben Sie mir, „venez me voir“. Das genügt, und ich werde auf einen Tag nach London kommen. Und wenn ich Sie an dem Tage ebensowenig überzeuge wie gestern, so werde ich ebenso unverdrossen und heiter weggehen, wie ich gestern weggegangen bin.
Wollen Sie mit mir eine Wette eingehen? Ich werde eine Nationalanleihe der Juden schaffen. Wollen Sie sich verpflichten, 50 Millionen Mark beizutragen, wenn ich die ersten hundert Millionen aufgebracht habe? Dafür mache ich Sie zum Oberhaupt.
Was sind zehn Milliarden für die Juden? Sie sind doch reicher als die Franzosen von 1871 und wieviel Juden waren darunter. Übrigens könnten wir zur Not schon mit einer Milliarde marschieren. Denn das wird arbeitendes Kapital sein, der Grundstock unserer späteren Bahnen, unserer Auswandererschiffe und unserer Kriegsflotte. Damit werden wir Häuser, Paläste, Arbeiterwohnungen, Schulen, Theater, Museen, Regierungsgebäude, Gefängnisse, Spitäler, Irrenhäuser — kurz, Städte bauen und das neue Land so fruchtbar machen, daß es dadurch das Gelobte wird.
Diese Anleihe wird selbst zur Hauptform der Vermögenswanderung werden. Da ist der staatsfinanzielle Kern der Sache. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier zu bemerken, daß ich das alles als Politiker ausführe. Ich bin kein Geschäftsmann und will nie einer werden.
Man findet jüdisches Geld in schweren Massen für eine chinesische Anleihe, für Negerbahnen in Afrika, für die abenteuerlichsten Unternehmungen — und für das tiefste, unmittelbarste, quälendste Bedürfnis der Juden selbst fände man keines?
Bis Mitte Juli bleibe ich in Paris. Dann verreise ich auf längere Zeit. Es gilt der Sache. Ich bitte Sie aber, über diesen Punkt wie über alle anderen von mir berührten volles Stillschweigen zu beobachten. Meine Handlungen mögen Ihnen derzeit noch nicht richtig vorkommen; eben darum mache ich Sie darauf aufmerksam, daß mir an absoluter Geheimhaltung viel gelegen ist.
Im übrigen versichere ich Sie aufrichtig, daß mir unsere Unterredung, selbst in der Unvollständigkeit, interessant war, und daß Sie mich nicht enttäuscht haben.
Ich begrüße Sie hochachtungsvoll. Ihr ergebener
Dr. Herzl.
Hochgeehrter Herr!
Um dem esprit de l’escalier vorzubeugen, machte ich mir Notizen, bevor ich zu Ihnen ging
Heimgekehrt sah ich, daß ich auf Seite 6 stehengeblieben bin, und ich hatte 32 Seiten. Durch Ihre Ungeduld haben Sie nur Absätze kennengelernt, wo und wie die Idee zu blühen anfängt, das haben Sie nicht erfahren.
Schadet nichts. Erstens erwartete ich keine sofortige Bekehrung. Zweitens steht mein Plan durchaus nicht auf Ihren zwei Augen.
Wohl hätte ich Sie als eine vorhandene und bekannte Kraft der Kürze wegen gern benützt. Aber Sie wären eben nur die Kraft gewesen, mit der ich begonnen hätte. Es gibt andere. Es gibt endlich und vor allem die Masse der Juden, zu der ich den Weg zu finden wissen werde.
Diese Feder ist meine Macht. Sie werden sich davon überzeugen, wenn ich bei Leben und Gesundheit bleibe — eine Einschränkung, die ja Sie selbst auch bei Ihrem Werk machen müssen.
Sie sind der große Geldjude, ich bin der Geistesjude. Daher kommen die Verschiedenheiten unserer Mittel und Wege. Bemerken Sie, daß Sie von meinen Versuchen noch nichts hören konnten, weil der erste eben bei Ihnen, an Ihnen stattfand.
Natürlich sind Sie mir mit leiser Ironie gegenübergestanden. So habe ich's erwartet. Ich sagte es Ihnen in der Einleitung. Neue Ideen werden so aufgenommen. Dabei hatten Sie nicht einmal die Geduld, sie bis zu Ende anzuhören. Ich werde mich dennoch aussprechen. Ich hoffe, Sie werden das herrliche Wachstum meiner Ideen erleben. Sie werden sich des Pfingstsonntagvormittags erinnern, denn Sie sind, glaube ich, mit aller Ihrer Ironie ein unbefangener und großen Entwürfen zugänglicher Mann, auch versuchten Sie ja viel für die Juden zu tun — in Ihrer Art. Aber werden Sie mich verstehen, wenn ich sage, daß Ihre Methode durch den ganzen Entwicklungsgang der Menschheit Lügen gestraft wird? Wie, Sie wollen eine große Gruppe von Menschen auf einem bestimmten Niveau erhalten, ja sogar herabdrücken? Allons donc! Wir wissen doch, welche Phasen unser menschliches Geschlecht durchlaufen hat, von den Urzuständen herauf bis zur Kultur. Es geht immer aufwärts, justament, trotz alledem und ewig, immer höher, immer höher, immer höher! Es gibt Rückschläge, jawohl. Das ist keine Phrase. Unsere Großväter wären verblüfft, wenn sie wiederkämen, aber wer wird künstlich einen Rückschlag herbeiführen wollen, ganz abgesehen davon, daß es nicht geht. Wenn es ginge, glauben Sie, daß es die Monarchien, die Kirche nicht durchführten? Und was haben diese Mächte für Mittel über Leib und Seele der Menschen! Was sind Ihre Mittel dagegen? Nein, wenn es hoch kommt, halten Sie die Entwicklung ein Weilchen auf und dann werden Sie vom großen Sturmwind hinweggefegt.
Wissen Sie, daß Sie eine furchtbar reaktionäre Politik haben — ärger als die absolutesten Autokratien — zum Glück reichen Ihre Kräfte dazu nicht aus. Sie meinen es gut, parbleu, je le sais bien. Darum möchte ich ja Ihrem Willen die Richtung geben. Lassen Sie sich dadurch nicht gegen mich einnehmen, daß ich ein jüngerer Mann bin. Mit meinen 35 Jahren ist man in Frankreich Minister, Napoleon war Kaiser.
Sie haben mir mit Ihrem höflichen Hohn das Wort abgeschnitten. Ich bin noch im Gespräche zu dekonzertieren. Ich habe noch nicht den Aplomb, der mir wachsen wird, weil er nötig ist, wenn man Widerstände brechen, Gleichgültige erschüttern, Leidende aufrichten und mit den Herren der Welt verkehren will.
Ich sprach von einem Heer, und Sie unterbrachen mich schon, als ich von der (moralischen) Trainierung zum Marsch zu reden anfing. Ich ließ mich unterbrechen. Und doch habe ich auch das Weitere schon entworfen: den ganzen Plan. Ich weiß, was alles dazu gehört: Geld, Geld, Geld. Fortschaffungsmittel, Verpflegung großer Massen (worunter nicht Essen und Trinken, wie in Moses einfachen Zeiten zu verstehen), Erhaltung der Manneszucht, Organisierung der Abteilungen, Entlassungsverträge mit Staatshäuptern, Durchzugsverträge mit anderen, Garantieverträge mit allen und Anlage neuer herrlicher Wohnorte; vorher die gewaltige Propaganda, die Popularisierung der Idee durch Zeitungen, Bücher. Traktätchen, Wandervorträge, Bilder, Lieder, alles von einem Zentrum aus zielbewusst und weitblickend geleitet. Aber ich hätte Ihnen schließlich sagen müssen, welche Fahnen, und wie ich sie aufrollen will. Und, hätten Sie mich spöttisch gefragt: eine Fahne, was ist das? Eine Stange mit einem Fetzen Tuch. Nein, mein Herr, eine Fahne ist mehr als das. Mit einer Fahne führt man die Menschen, wohin man will, selbst ins Gelobte Land.
Für eine Fahne leben und sterben sie, es ist sogar das Einzige, wofür sie in Massen zu sterben bereit sind, wenn man sie dazu erzieht.
Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes — besonders, wenn es so in aller Welt zerstreut ist — macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern. Und in kurzer Zeit. Bismarck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasten pflanzten.
Wie? Sie verstehen das Imponderabile nicht? Und was ist die Religion? Ja, nur das Phantastische ergreift die Menschen. Und wer damit nichts anzufangen weiß, der mag ein vortrefflicher, braver und nüchterner Mann sein und selbst ein Wohltäter in großem Stil. Führen wird er die Menschen nicht, und es wird keine Spur von ihm bleiben.
Dennoch müssen die Volksphantasten einen festen Grund haben. Wer sagt Ihnen, daß ich nicht durchaus praktische Ideen für das Detail habe? Detail, das freilich noch immer riesenhaft ist.
Der Auszug ins Gelobte Land stellt sich praktisch als eine ungeheuere, in der modernen Welt beispiellose — Transportunternehmung dar. Was, Transport? Ein Komplex aller menschlichen Unternehmungen, die wie Zahnräder ineinandergreifen werden. Und bei dieser Unternehmung wird schon in den. ersten Stadien die nachstrebende Menge unserer jungen Leute Beschäftigung finden: alle die Ingenieure, Architekten, Technologen, Chemiker, Advokaten, die in den letzten dreißig Jahren aus dem Ghetto herausgekommen sind und glaubten, daß sie ihr Brot und ein bißchen Ehre außerhalb des jüdischen Schachers finden würden, die jetzt verzweifeln müssen und ein furchtbares Bildungsproletariat zu bilden beginnen. Denen aber meine ganze Liebe gehört und die ich so vermehren will, wie Sie sie vermindern möchten. In denen ich die künftige noch ruhende Kraft der Juden sehe. Meinesgleichen, mit einem Wort.
Und aus diesen Bildungsproletariern bilde ich die Generalstäbe und Cadres des Landsuchungs-, Landfindungs- und Landeroberungsheeres. Schon ihr Abzug wird in den Mittelständen der antisemitischen Länder ein wenig Luft machen und den Druck erleichtern.
Sehen Sie nicht, daß ich mit einem Schlag das Kapital und die Arbeit der Juden für den Zweck bekomme? Und ihre Begeisterung dazu, wenn sie erst verstehen, um was es sich handelt.
Das sind freilich nur große Umrisse. Aber woher wissen Sie, daß ich die Details dafür nicht schon entworfen habe? Ließen Sie mich ausreden?
Allerdings, die Stunde war vorgerückt, Sie wurden vielleicht erwartet, hatten zu tun, was weiß ich? Nur kann von derartigen Zufällchen die Bewegung einer solchen Frage nicht abhängen. Beruhigen Sie sich, sie hängt wirklich nicht davon ab.
Sie werden den Wunsch haben, unser Gespräch fortzuführen, und ich werde — ohne auf Sie zu warten — immer bereit sein, Ihnen die Fortsetzung zu liefern.
Arbeiten die Anregungen, die ich Ihnen gab, in Ihnen weiter, und wollen Sie mit mir reden, so schreiben Sie mir, „venez me voir“. Das genügt, und ich werde auf einen Tag nach London kommen. Und wenn ich Sie an dem Tage ebensowenig überzeuge wie gestern, so werde ich ebenso unverdrossen und heiter weggehen, wie ich gestern weggegangen bin.
Wollen Sie mit mir eine Wette eingehen? Ich werde eine Nationalanleihe der Juden schaffen. Wollen Sie sich verpflichten, 50 Millionen Mark beizutragen, wenn ich die ersten hundert Millionen aufgebracht habe? Dafür mache ich Sie zum Oberhaupt.
Was sind zehn Milliarden für die Juden? Sie sind doch reicher als die Franzosen von 1871 und wieviel Juden waren darunter. Übrigens könnten wir zur Not schon mit einer Milliarde marschieren. Denn das wird arbeitendes Kapital sein, der Grundstock unserer späteren Bahnen, unserer Auswandererschiffe und unserer Kriegsflotte. Damit werden wir Häuser, Paläste, Arbeiterwohnungen, Schulen, Theater, Museen, Regierungsgebäude, Gefängnisse, Spitäler, Irrenhäuser — kurz, Städte bauen und das neue Land so fruchtbar machen, daß es dadurch das Gelobte wird.
Diese Anleihe wird selbst zur Hauptform der Vermögenswanderung werden. Da ist der staatsfinanzielle Kern der Sache. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier zu bemerken, daß ich das alles als Politiker ausführe. Ich bin kein Geschäftsmann und will nie einer werden.
Man findet jüdisches Geld in schweren Massen für eine chinesische Anleihe, für Negerbahnen in Afrika, für die abenteuerlichsten Unternehmungen — und für das tiefste, unmittelbarste, quälendste Bedürfnis der Juden selbst fände man keines?
Bis Mitte Juli bleibe ich in Paris. Dann verreise ich auf längere Zeit. Es gilt der Sache. Ich bitte Sie aber, über diesen Punkt wie über alle anderen von mir berührten volles Stillschweigen zu beobachten. Meine Handlungen mögen Ihnen derzeit noch nicht richtig vorkommen; eben darum mache ich Sie darauf aufmerksam, daß mir an absoluter Geheimhaltung viel gelegen ist.
Im übrigen versichere ich Sie aufrichtig, daß mir unsere Unterredung, selbst in der Unvollständigkeit, interessant war, und daß Sie mich nicht enttäuscht haben.
Ich begrüße Sie hochachtungsvoll. Ihr ergebener
Dr. Herzl.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften