Rede in der Österreichischen Israelitischen Union. Wien

Einige von Ihnen werden gehört haben, daß ich den jüdischen Staat gründen will, und Sie sind hierhergekommen, um sich den komischen Kauz anzusehen, der eine solche, immerhin ungewöhnliche Unternehmung vorhat, die wenigstens schon lange nicht da war. Andere werden von einer wunderlichen Idee gehört haben, die man den Zionismus nennt, und die auch eine recht kuriose Geschichte sein soll. Genaues weiß man darüber freilich noch nicht. Es heißt nur, daß alle Juden plötzlich ihr Ränzel schnüren, die Länder, in denen sie wohnen, verlassen und sich aufmachen sollen irgend wohin, nach einer neuen Gegend, um sich dort anzusiedeln.

In dieser Weise wenigstens hat mir ein ziemlich bekanntes Mitglied der hiesigen Gemeinde seine Auffassung der Sache im vorigen Jahre mitgeteilt. Er höre, sagte er, ich wolle die Juden irgendwohin führen, wo noch keine Menschen gewesen sind. Nun, meine Damen und Herren, eine so boshafte Schädigung unserer Antisemiten liegt durchaus nicht in den Absichten der Zionisten. Denken Sie sich das Judengeschrei aus dem öffentlichen Leben weg, und was bleibt noch übrig? Ich habe also vor, Ihnen zu erklären, was es eigentlich mit diesem phantastischen, verleumdeten und mißverstandenen Zionismus für eine Bewandtnis hat. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihnen gar nicht sagen werde, ich sei ein Zionist. Nein, Sie alle sind es. Ich werde Sie auch sehr überraschen, indem ich Ihnen gar nichts Neues erzähle, sondern nur Dinge, die Sie kennen. Ich will Ihnen nur das zeigen, was Sie von jeher zu sehen gewohnt waren. Allerdings werde ich gewisse Schlüsse ziehen, die nicht ganz hergebracht sind, und zu diesem Zwecke müssen Sie mir erlauben, einen ganz kurzen Rückblick auf die Entwicklung des Judentums, das ich als eine Nation auffasse, zu werfen.


Sie wissen, daß unsere Geschichte, die Diasporageschichte, im Jahre 70 nach Christi Geburt begonnen hat. Der Titusfeldzug, den Mommsen als die Ursache der Verbreitung des Christentums bezeichnet und der mit unserer Fortführung in die Kriegssklaverei geendet hat, das ist der eigentliche Beginn der Judengeschichte, die uns näher angeht, weil wir noch heute unter den Konsequenzen der damaligen Ereignisse leiden. Es ist Herzls Zionistische Schriften das etwas, was wir uns als Menschen von heute kaum vorstellen können. Wir wissen auch, daß es Kriege gibt, und daß sie darauf ausgehen, die gegnerische Macht bis zur ' Wehrlosigkeit niederzuwerfen. Aber daß über den Krieg hinaus den Einzelnen so schwere Konsequenzen treffen sollen, wie das in den früheren Zeiten der Fall war, ist uns unfaßbar. Und die Kriegssklaverei hat nicht nur die Mitlebenden von damals, nicht nur die an den Kriegsursachen Mitschuldigen, sondern sie hat 60 Generationen getroffen. Seit 60 Generationen wirkt diese Fortführung in die Kriegsgefangenschaft fort, eine Tatsache, die uns zwar fremdartig berührt, die aber doch in unseren Zuständen fortwirkt. Ich überspringe viele Entwicklungsstadien, wie wir in die römischen Kolonien eingedrungen sind, wie wir um das Mittelmeerbecken herumzogen und bis nach jener Ultima Thule kamen, die den Römern der fernste Ort war. Die Juden möchte ich nur in einem einzigen sehr wichtigen Stadium ihrer Geschichte, dort, wo sie sich ein neues Vaterland geschaffen haben, das dritte, wie der Geschichtsschreiber Graetz sagt, im Spanien des Mittelalters aufsuchen. In Spanien, sowohl im maurischen wie im christlichen, ist es den Juden abwechselnd gut und schlecht gegangen wie überall. Sie wissen, und ich möchte im Hinblick auf das, was ich später begründen werde, darauf hinweisen, welche typische Reihenfolge in unserem Schicksale überall wahrzunehmen ist, wo wir hinkommen:

Wir wandern ein und kommen dorthin, wo der Judenschreck, die Angst vor den Juden oder vielmehr der Hass noch nicht besteht. Wir siedeln uns dort an, akkommodieren uns, assimilieren uns, versuchen Wurzel zu schlagen, und da wir nüchtern, sparsam, fleißig sind und die Arbeit nicht so scheuen, wie die Legende behauptet, fangen wir an, selbst unter den härtesten Bedingungen zu gedeihen. Wir bringen es vorwärts in Handel und Verkehr, wir streben nach Betätigung auf Feldern der Ehre, wir pflegen Künste und Wissenschaften, und wir werden unangenehm bemerkt. Plötzlich besinnt sich die Majorität darauf, daß wir anders sind, daß wir eine Minorität sind, und der Antisemitismus, der schon verschiedene Formen und Namen gehabt hat und im Grunde genommen immer dasselbe ist, entsteht.

Wenn es die Bedingungen des öffentlichen Lebens erlauben, wird geplündert, gebrandschatzt, totgeschlagen, und die Juden werden, um Ruhe zu schaffen, endlich von der Autorität gebeten, weiterzuziehen. Dies war geradezu klassisch in dem Lande Spanien, wo die Juden sehr große Rollen spielten. Denn immer kurz vor den Verfolgungen war ein Höhepunkt der Blüte und des Wohlstandes. So ist an verschiedenen Höfen immer die Gestalt großer Juden sichtbar gewesen, die natürlicherweise Unwillen erregt haben, und wenn es möglich war, ihnen irgend etwas in die Schuhe zu schieben, so ist es geschehen. Wenn z. B. der Herrscher Don Pedro Grausamkeiten beging, so war daran sein Günstling Don Samuel Albulafia schuld.

In diesem Spanien nun musste in einer sehr merkwürdigen Zeit, nachdem die Mauren verjagt worden waren, das Land auch judenrein gemacht werden. Das geschah in zwei Abteilungen. Zuerst hat man die wirklichen, aufrechten Juden verfolgt und vertrieben, während sich eine Anzahl von, sagen wir: Religionspolitikern, dem, anderen Glauben akkommodierte und als Marranen weiter existierte. Diese Marranen jedoch sind späterhin der Verfolgung auch nicht entgangen und ebenfalls hinausgeworfen worden.

In dieser Geschichte, welche die typische ist, interessiert mich besonders die Zeit, in der sie sich abgespielt hat. Das war nämlich in demselben Jahre, in welchem Christoph Kolumbus hinaufzog mit seinen Karavellen, um das neue Land zu entdecken, ein Ereignis, das so wunderbare Folgen für die Entwicklung der Menschheit gehabt hat. In demselben Jahre, in welchem eine neue Epoche für die Menschheit begann, mussten die Juden plötzlich heimatlos, besitzlos hinauswandern in Exile, die für sie voll von Schrecken waren.

In diesem 15. Jahrhundert, in welchem die Renaissance, die wir so sehr bewundern und lieben, zu spielen begann, hatte noch ein anderer Mann gelebt, der auf die Entwicklung der Menschheit ungeheuren Einfluß nahm: Gutenberg!

Nun möchte ich mir erlauben, eine ziemlich willkürliche Antithese aus diesen beiden Namen zu machen und den Irrtum, den die Juden seit dem Beginne der neuen Zeit begangen haben, an diesen beiden Namen demonstrieren.

Für die Juden gibt es nämlich eine Hilfe, eine Befreiung aus dem Drucke, aus der Beschimpfung mit allen ihren Folgen; entweder, wie die einen behaupten, durch das Wort, d. h. durch die Aufklärung der Geister, durch das Hinaufführen zu höheren Stufen der Bildung und Gesittung, oder, wie andere meinen, durch die Tat. Das Wort ist der Weg, auf den wir durch die Erfindung Gutenbergs gerieten. Die Tat ist der Weg des Kolumbus, welcher für Zustände, die nicht hinwegraisonniert werden können, nicht das Raisonnement, sondern eine wirkliche Tat anwenden will. Wohin es uns geführt hat, daß wir als die Diener des Volksaufklärungsgedankens umherzogen, noch lange vor dem Aufklärungszeitalter, noch bevor die französischen Philosophen in ihren Schriften diese Revolution herbeiführten, die dann später auf der Gasse nur illustriert wurde — wie Jules Guesde einmal sagte — wohin es uns geführt hat, das wissen Sie.

Was wir für die Aufklärung notgedrungen getan haben, weil wir für die Aufklärung des Menschengeschlechtes sorgen müssen in unserem eigenen Interesse, und manche meinen ja, daß darin die historische Mission des Judentums bestehe, das ist Ihnen allen wohlbekannt, Sie wissen auch, in welche philosophischen Spitzen die Bemühung Mendelssohns ausgelaufen ist und Sie wissen auch, wie es nach dem Aufklärungszeitalter allmählich wieder bergab mit uns gegangen ist. Wir haben in dieser Bewegung immer nur sozusagen die Schweine zu hüten bekommen. Man bedient sich der Juden immer nur, solange man unterwegs ist, wenn man aber am Ziele ist, dann wird der Jude, der seine Schuldigkeit getan hat, verabschiedet. Es gibt da ein Erwachen aus einem Traume, das den Sozialdemokraten noch bevorsteht.

Lassen Sie mich nach diesem flüchtigen Blick auf eine einzige merkwürdige Epoche der politischen Geschichte ein Wort über die Geschichte des Verkehrs sagen. Wir vergessen oft, daß wir unter ganz veränderten Bedingungen leben, und wenn wir auch durch Beschränktheit und Grausamkeit, die zum ewigen Bestände der menschlichen Natur zu gehören scheinen, immer wieder in frühere Epochen zurückgeworfen werden, so geht doch nebenher eine andere und tatsächliche Entwicklung, die das heilt, was die andere verschuldet.

Ich habe im Jahre 1885 in Brüssel einen sehr merkwürdigen Festzug gesehen, es war etwas ganz Ungewöhnliches und zum Nachdenken Stimmendes; das war der Festzug aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Eisenbahnen. Ich erinnere mich, daß die ältesten Beförderungsmittel in diesem Zuge mitgeführt worden sind, von dem ersten Wagen an, dessen Räder noch volle Scheiben waren. Wagen, auf denen die nomadischen Völker Europas gewohnt haben — und auch heute noch haben Seiltänzer solche Wagenburgen —, dann die allmählich entwickelteren, bis hinauf zu den feinen Wagen und Verkehrsmitteln neuerer Zeit. Dabei wird es Sie vielleicht interessieren, daß die Fürsten der merovingischen Zeit noch auf Karren gefahren sind, die von Rindern gezogen wurden. Karl der Große ist auf einem Karren, der mit vier Ochsen bespannt war, durch seine Länder gefahren. Im 12. Jahrhundert erst wurde das Pferd vor den Wagen gespannt, im 13. bekam er vier Räder und wurde in den Ländern Europas eingeführt, in denen die durchbrochenen Scheiben des Rades, die geschlossene Kutsche mit ihren unterlaufenden Rädern lauter große Taten waren. Die erste Eisenbahn, der erste Waggon war noch etwas Betrübendes an Unbequemlichkeit, und wenn Sie heute einen Luxuszug oder einen Hofzug sehen, so erkennen Sie sofort den weiten Abstand zwischen einer Reise Karls des Großen damals und des Zaren heutzutage.

Zur Zeit der Judenverfolgung am Rhein begann man in Oberitalien Wechsel auszustellen, die das Münzgeschäft sehr erleichterten und die Differentia loci ausglichen. Die Aktie, die in den oberitalienischen Städten auch im 14. Jahrhundert aufgekommen ist, war noch sehr rudimentär. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die großen überseeischen Kompanien entstanden, wurde sie bis zum Inhaberpapier verfeinert.

Alle diese Elemente nun sind heute wichtige Bestände unseres Lebens und unserer Kultur, und das alles ist noch gar nichts. In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts hat eine neue Zeit begonnen. Alles andere, Kriege, Friedensschlüsse, fürstliche Heiraten und womit man uns sonst noch in den Geschichtsbüchern belästigt, ist gleichgültig gegenüber diesen großen Wasserscheiden der Geschichte. Wenn Sie sich denken, daß wir heute sehr ungeduldig sind, weil wir von dem Ausgang der Wahl Mac Kinleys oder Bryans nicht gleich am selben Tage Genaues wissen, und daß wir Großväter gehabt haben, die es sich nicht vorstellen konnten, daß man eine Nachricht nicht schneller bekommen kann, als der Wagen fährt — abgesehen von dem unbeholfenen optischen Telegraphen — so werden Sie erkennen, welche ungeheuere Veränderung im Weltall vor sich gegangen ist. Es ist ja nicht nur eine Bummlerneugierde, wenn wir wissen wollen, was drüben in Amerika vor sich geht. Es hängt davon ungeheuer viel ab, es können die furchtbarsten Krisen ausbrechen, und Sie wissen, daß ganz Europa mit einigem Bangen hinübergesehen hat nach dem Ausgange der Wahl. Wenn nun aus dieser Veränderung des Weltbildes, aus der Erleichterung des Verkehrs der Schluß gezogen werden muss, daß Leiden, die aus der Enge der Verhältnisse früherer Zeiten entsprungen sind, nicht mehr zeitgemäß sind, so werden Sie einigermaßen disponiert sein für das, was ich Ihnen jetzt vortragen will. Wir können heute sagen, daß die Erde wirklich für alle Raum hat. Sie alle kennen die Abbildungen von Städten aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert, wie Idein diese sind, und wir begreifen es beinahe, daß eine engherzige und nicht sehr regsame Bevölkerung ein wirtschaftliches Element, das sich rührig zeigt, Hasst und drangsaliert. Aber das alles hat ja keinen Sinn mehr. Es muss nicht sein. Der Antisemitismus ist ein Anachronismus nicht in dem Sinne, wie man es zu sagen pflegt: „Hundert Jahre nach Lessing!“ usw. Jawohl, hundert Jahre nach Lessing gibt es noch Leute genug, die borniert und jeder edleren Regung unfähig sind — und solche wird es immer geben. Aber es ist dennoch nicht mehr notwendig, unter dem Antisemitismus zu leiden. Allerdings dauert es einige Zeit, bis man zu diesem Schlüsse vordringt, und nicht nur wir, die wir schließlich alle gedrückte Leute waren und sind, denen es gar nicht gestattet ist, größere Träume zu träumen, sondern auch die professionellen Politiker haben die Konsequenzen aus den Verkehrswundern sehr spät gezogen. Was ist nun die Konsequenz der Verkehrsentwicklung? Die Kolonialpolitik. Und wir sehen, daß in den Staaten, die an ihre Zukunft denken — in allen geschieht es ja nicht — Kolonialpolitik getrieben wird. Wir sehen, wie der dunkle Erdteil erforscht und durchquert wird, wie man von ihm Besitz ergreift, sich um jedes Stück Land rauft, weil die Leute, welche die Geschicke von Menschen zu dirigieren haben, wissen, was Land ist, und für die kommenden Zeiten Vorsorgen.

Im künftigen Jahrhundert nun wird man sich nach einem anderen Erdteil wenden, die Politik des künftigen Jahrhunderts ist eine asiatische seit dem chinesisch-japanischen Kriege und seit der gedankenvollen Anleihe, die sich daran geknüpft hat und der wir den provisorischen Frieden verdanken, in dem wir leben.

Wenn nun diese Wendung nach Asien in der Kolonialpolitik sich fühlbar gemacht hat, so ist es nicht unvernünftig, wenn auch wir, gedrängt durch die tägliche Wahrnehmung, die täglich ärger wird, an eine Kolonialpolitik denken.

Diese ist nicht von neuem Datum, und ich bin weit entfernt, da irgend etwas für mich in Anspruch nehmen zu wollen, ich bin hierzu erst gestoßen worden durch glückliche und merkwürdige Resultate, die bereits erzielt waren. Diese Politik existiert bei uns schon lange. Sie wurde in den vierziger Jahren begonnen von Sir Moses Montefiore, der mit dem Vizekönig von Ägypten unterhandelt hat, um für die Juden ein Territorium zu bekommen. Sie haben gehört, in welcher Weise das später weiter fortgepflegt und von Hirsch und Edmund Rothschild wiederaufgenommen wurde.

Die verschiedenen Kolonisationsversuche, die einzelne Vereine, und zwar in allen Ländern der Erde, unternahmen, beweisen zunächst, daß diese Kolonisationsbewegung spontan überall aufgegangen ist als ein notwendiger, vorschauender, vorbauender, vorsorgender Gedanke für den Fall einer Entwicklung, die hoffentlich nicht so arg sein wird, wie manche Pessimisten sich es vorstellen.

Jedenfalls ist er ganz vernünftig und verdient wirklich nicht die Schmähungen, denen er ausgesetzt ist, ein Gedanke, der sich verteidigen läßt, wenn Sie sich die Zustände vergegenwärtigen, die wir jetzt haben, wenn Sie sehen, welchen Charakter der Antisemitismus hat, dessen wir uns erfreuen.

Dieser Antisemitismus ist ganz verschieden von allen Formen des Judenhasses, die wir in der Geschichte kennengelernt haben, und muss verschieden sein, weil er hinter einer vollständigen Emanzipation auftritt. Die Kolonisationsbewegung ist keineswegs, wie manche, die päpstlicher sind als der Papst, behauptet haben, eine unpatriotische, denn sie will ja nur dort eine Erleichterung schaffen, wo Druckerscheinungen wahrzunehmen sind.

Dieser jetzige Antisemitismus hat, wie ich schon wiederholt ausgeführt habe, aber denjenigen wiederhole, die es noch nicht hörten, zwei Gründe. Der erste Grund ist der, daß es uns in der langen Dauer der Verfolgungen unmöglich geworden ist, spurlos resorbiert zu werden. Wir bleiben wahrnehmbar, wir sind eine Gruppe, eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehört und einen gemeinsamen Feind hat, das scheint mir die ausreichende Definition für die Nation zu sein. Ich verlange von der Nation nicht eine Gleichsprachigkeit oder vollkommen gemeinsame Merkmale der Rasse. Diese ganz ruhige Definition genügt für die Nation. Wir sind eine erkennbar zusammengehörende historische Gruppe von Menschen, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten werden. Das sind wir, ob wir es leugnen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht. Der andere Grund des Antisemitismus ist der, daß wir zuviel Intelligenzen produzieren und dieses Übel jährlich, ja täglich ärger wird. Sie müßten denn die großen Reservoire, aus denen unsere Kräfte nachströmen, vollkommen verschließen, wie man es versucht hat, oder ableiten. Nun ist unsere Überproduktion an Intelligenzen eine einheimische und eine von außen zuströmende. Wie wollen Sie schon mit der einheimischen fertig werden? Um dem Antisemitismus den Boden zu entziehen, müssen Sie ihm doch die Gründe entziehen, und glauben Sie ja nicht, daß Sie durch philosophische Erwägungen, durch einen Appell an die Menschlichkeit einen einzigen Antisemiten hinter dem Ofen hervorlocken werden. Dem Antisemitismus können Sie weder die historischen Gründe wegnehmen noch auch die gegenwärtigen. Baron Hirsch hat gemeint, das geistige Niveau der Juden müsse heruntergeschraubt werden. Er hat es gut gemeint, aber er hat nicht richtig räsoniert, denn die Entwicklung zeigt, daß es immer hinaufgeht. Es ist einfach nicht möglich, das Niveau herunterzudrücken, sondern es wird immer höher. Jeder jüdische Bourgeois, jeder jüdische Kaufmann und Gewerbsmann hat diesen edlen Trieb in sich, seinen Sohn etwas lernen zu lassen, weil er weiß, daß Wissen zur Freiheit führt, ebenso wie wir wissen, daß es auch uns zur Freiheit führen wird.

Nehmen Sie sich eine Statistik her, da können Sie sehen, daß an den Universitäten und in allen Zweigen, wo wir uns betätigen, ein Mißverhältnis unserer Intelligenzen herrscht. Sie können also auch das nicht beheben und das wird, wie gesagt, immer ärger, und da wir uns mit dem Fortschritt schneller vertraut machen, — wir machen zwar nicht alle Erfindungen, benützen sie aber sämtlich eiligst, und dazu haben wir das Recht, so geht das immer weiter, und man weiß nicht, in welcher Weise das die Erbitterung noch steigern muss. Wie verhält es sich aber weiter mit der Verhinderung des Zuflusses nichteinheimischer Intelligenzen? Da hat man teils von Seiten einzelner Regierungen und teils aus der Judenschaft heraus gewisse Abwehrmaßregeln versucht. Auf der einen Seite hat man nichts dagegen gehabt, wenn die Juden sich aus Russland entfernt haben, man hat es ihnen sogar nahegelegt, und auf der anderen Seite, wo man sie auch nicht gern sehen will, haben sich Wohltätigkeitskomitees gebildet, die die Leute möglichst rasch weit weggeschafft haben in ein anderes Land, ungefähr so wie jemand gesagt hat: „Schafft mir ihn aus den Augen, er zerbricht mir das Herz.“ Diese Leute wurden also in eine neue Diaspora hinausgestreut, weit über den Erdkreis, und ich möchte Ihnen da zwei Beispiele zitieren, die auch für die Kolonisierungsfähigkeit der Juden nicht gleichgültig sind. Das eine Beispiel liefert uns der Afrikareisende Juncker, der eines Tages in Südwestafrika vor die Agentur des Hamburger Wildtierhändlers Hagenbeck kam. Vor dem Hause spielte das kleine Kind des Agenten mit kleinen Löwen und Tigern, und der Agent hieß Kohn.

Einem Bericht über die Südseeinseln habe ich folgendes entnommen: Ungefähr in der Mitte zwischen Australien und Südamerika ist eine kleinere Inselgruppe, die Cooksgruppe. Eine dieser Inseln heißt Rarontonga. Auf dieser ist der Chef der wichtigsten Verkehrsunternehmung, der Cooks-Trade-Company, ein Österreicher, namens Kohn.

Überall findet man also Juden und nirgends lässt man sie zu Hause sein. Es eignet sich auch nicht jeder Ort zu ihrer Aufnahme.

So muss sich die Jewish Colonisation Association, die Erbin des Baron Hirsch, jetzt schon damit beschäftigen, daß die Resultate in Südamerika ungünstige sind. Die Juden gedeihen dort nicht, und es zeigt sich ein ganz deutlicher Antisemitismus auch schon dort.

Was soll also aus den Juden werden? Totschlagen kann man nicht alle, und die üblen Druckerscheinungen mehren sich. Jeder Tag liefert uns Berichte, und man braucht nur unsere Zeitungen zu lesen, um eine gedrängte Übersicht der alle Wochen vorkommenden Misshandlungen und Verfolgungen von Juden zu finden.

Unter solchen Umständen hat sich uns der Gedanke aufgedrängt, ein Becken zu konstruieren, welches von überall her die für überflüssig angesehenen, als schädlich empfundenen Juden aufnimmt, und als dieses Becken erscheint den Kolonisationsfreunden der alte historische Ort, wo das Volk der Bibel gewohnt hat, welches unsere breiten, noch nicht so gebildeten Massen noch immer sehr lieben. Man findet das ja lächerlich. In dem Lande, welches auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt, ist durch einen merkwürdigen Zufall die Wiederanpflanzung möglich. Sie wissen alle, was jetzt am Bosporus vorgeht. Es ist das unter dem Namen „Die Lage der Türkei“ bekannt. Die Lage der Türkei ist eine ziemlich schlechte.

Ich war im Juni dieses Jahres dort, um mir Rechenschaft zu geben über all diese Verhältnisse, und ich habe auch einiges feststellen können. Die Lage ist eine sehr schlechte, und das läßt sich für die Lösung der Judenfrage gebrauchen. Sie werden erst kürzlich von Versuchen gehört und gelesen haben, die gemacht werden, um die finanzielle Lage der Türkei zu sanieren.

Die finanzielle Lage ist nämlich tatsächlich die Wurzel all dieser Zustände. Die Türkei ist ein Land, welches durch Krieg groß geworden ist, sich durch Kriege erhalten hat und im jetzigen kostspieligen bewaffneten Frieden zugrunde geht. Als die Zeit kam, die wir vorhin als eine Geschichtsscheide erkannt haben, die Zeit der modernen Erfindungen, vermochte dieser Staat nicht, sich anzupassen und teilzunehmen, und so ist er allmählich heruntergekommen.

Die Landeskultur in der Türkei ist eine betrübende. Wenn Sie über die bulgarische Grenze hinauskommen, sind Sie plötzlich in der Wildnis. Bulgarien ist noch kultiviert, die Türkei nicht mehr. Dieser Staat kann unseren jetzigen Frieden nicht ertragen, denn der erfordert sehr viel Geld, das Land aber verarmt immer mehr und mehr. Die Folgen zeigen sich auch in der Verwaltung, die nicht recht funktioniert. Dies führt zur Korruption, diese zu Revolten, zu Massakern und diese zu — diplomatischen Noten. Die Finanzen der Türkei in die Hand zu nehmen, ist nur möglich mit Hilfe der jüdischen Hochbank.

Ich meine, daß diese diplomatisch-finanzielle Aktion für die Kolonisation und somit für die Lösung der Judenfrage nachteilig ist, und ich hoffe, daß sich die jüdische Hochbank dazu nicht hergeben wird.

Freilich ist ein Wunsch, der hier in solcher Weise ausgesprochen wird, noch nicht sehr kräftig, aber ich bitte Sie, zu glauben, daß wir unsere Wünsche bereits an verschiedenen Punkten und in verschiedenen Städten und Ländern vorzubringen in der Lage sind, und es wird vielleicht nicht ganz wirkungslos sein, wenn wir die großen jüdischen Finanziers darauf aufmerksam machen.

Die Gefahr, daß diese finanzielle Intervention jetzt gleich erfolgen werde, ist übrigens darum nicht sehr groß, weil der Sultan einen rechten Widerwillen dagegen hat, daß sich fremde Leute in seine Steuern einmischen. Es ist also Hoffnung vorhanden, daß sich die jetzige Gestaltung der Türkei noch eine Zeitlang erhalten wird.

Der Sultan kann nämlich eine Hilfe für seine Finanzen, die einzig wirksame, einzig aufrichtige, nur durch eine Verständigung mit Juden, und zwar mit Juden, welche die jüdische Politik und nicht Kabinettspolitik in irgendeinem Auftrage betreiben, erzielen. Ich will Ihnen das gleich erläutern.

Die Kolonisation in großem Maßstabe, die wir für wünschenswert halten, kann nur gedacht werden als eine, die unter ihrem Selbstschutze steht und ihre Autonomie hat, sonst verpflanzen wir neue Armenier irgendwohin.

Die Erlaubnis der Masseneinwanderung wäre nun ein großes Zugeständnis von Seiten der türkischen Regierung, für das man ihr wieder Zugeständnisse machen müßte. Das kann ungefähr in folgender Weise gemacht werden: Es wird für die Erlaubnis der Einwanderung der Juden in Palästina in dem großen Maßstabe, wie es notwendig ist, eine Anleihe geboten. Diese Anleihe basiert auf dem Tribut, welchen die Juden zu zahlen haben. Dafür gibt es in der Geschichte eine Menge von Beispielen; das ist also nichts Ungewöhnliches. Der Tribut wäre für die ersten Jahre von 100.000 Pfund Sterling beginnend gedacht und würde bis zur Höhe von etwa einer Million Pfund Sterling ansteigen. Auf diesen Tribut wird dann das Anlehen gemacht. Es könnte also die Türkei ein ansteigendes Anlehen bekommen, das mit 2 Millionen Pfund Sterling beginnt und bis zu 20 Millionen Pfund Sterling ginge. Das ist wenigstens etwas, das ernsthaft diskutiert wird und nicht nur am Kaffeehaustische oder im Wirtshaus, sondern von Leuten, die einiges zu verfügen haben.

Der Tribut, welcher dem Anlehen zugrunde liegen soll, kann durch die bestehenden Kolonisierungsgesellschaften garantiert werden. Es gibt namentlich einen sehr großen Fonds, der dazu beinahe ausreichen würde. Immerhin wäre man dabei noch auf die Mitwirkung, wenn schon nicht auf das Geld der Hochbank angewiesen.

Käme man aber nicht in der nächsten Zeit zu einer solchen Verständigung mit der Türkei, so könnten die Juden inzwischen überall einen Nationalfonds für diesen Zweck sammeln. Der Fonds müßte selbstverständlich überall in der Verwahrung derjenigen bleiben, die ihn gesammelt haben. Auch bedingte Subskriptionen würden genügen.

Ich wollte Ihnen damit nur einen Entwurf mitteilen, wie die Kolonisation Palästinas in großem Maßstabe durchgeführt werden kann.

Was dieses Land, das ungefähr so groß ist wie Belgien und ein kaltes, gemäßigtes und ein warmes Klima hat, dessen Seeküste das Klima und die Früchte des südlichen Italiens und Siziliens aufweist — was dieses Land dann weiter zu seiner Entwicklung braucht und wie das gemacht werden kann, darüber will ich mich nicht in Einzelheiten verlieren. Es wird, wenn der Gedanke der Kolonisation Palästinas so allgemein werden wird, wie er es verdient, an großen und wichtigen Aufgaben nicht fehlen. Daß ein solcher Fonds zu sammeln ist, wird jedem Juden einleuchten. Nicht nur denen, die, wie beispielsweise gewisse russische Zionisten, das Land, das sie kaufen wollen, unter sich auslosen und also darin eine Art von Lotterie konstruieren. Es wird auch denjenigen einleuchten, die keine Auswanderungsgedanken haben, weil sie erkennen werden, welche Sicherung ihrer Existenz darin liegt, wenn es gelingt, die Massen von russischen und rumänischen Juden dort anzusiedeln.

Zur Leitung der verschiedenen wirtschaftlichen und technischen Aufgaben würde eine Jugend verwendbar werden, der jetzt in vielen Ländern das Vorwärtskommen schon sehr erschwert ist. Es würde dadurch eine große Erleichterung bewerkstelligt werden, die sich überall bemerkbar machen müßte, und zwar bis zu dem Grade, wo man auch bemerkt, daß die Juden nicht mehr in genügender Anzahl voihanden sind. Es würde zum Schwinden und zum Zusammenbruche des Antisemitismus führen.

Das, was ich Ihnen hier auseinandergesetzt habe, mit leider unzulänglichen Mitteln der Rede, das mag etwas Ideales, allzu Ideales sein, obwohl icn Ihnen viele praktische Dinge gesagt habe, die ins Leben hinausgreifen. Aber selbst wenn es etwas Ideales ist, so wird man es vielleicht mit Genugtuung begrüßen können. Dieses Ideal ist freilich aus uns herausgestampft worden, aber es ist da und es hat uns wieder zurückgeführt dorthin, von wo wir uns haben wegschwemmen, haben auslaugen lassen.

Ich meine das Milieu unseres Geistes und unseres Charakters, in welchem so viele Generationen vor uns sich erhalten haben. Und wenn sie sich unter so schweren Bedingungen erhalten haben, so müssen sie sehr viel guten Charakter gehabt haben, und tatsächlich ist die ganze Geschichte der Judenverfolgungen ein für uns ruhmvolles Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Die Grausamkeiten des Mittelalters waren etwas Unerhörtes, und die Menschen, die der Folter widerstanden, müssen in sich etwas sehr Starkes gehabt haben, eine innerliche Einheit, die uns abhanden gekommen ist. Eine Generation, die vom Judentum abseits aufgewachsen ist, hat diese Einheit nicht und kann ebensowenig mit unserer Vergangenheit rechnen, als in die Zukunft blicken. Darum wollen wir uns wieder in das Judentum zurückziehen und uns aus dieser Burg nicht mehr wetfen lassen. Man mag diesen Volksgedanken, der da ist, wegzulächeln versuchen, aber er ist da. Ihn wollen wir hochhalten und hochflattern lassen. Und nachdem wir dieses Bekenntnis abgelegt haben, nachdem wir gesagt haben, daß wir Juden sind, dann erst wollen wir an der Misere anderer teilnehmen.

Uns ist nichts Menschliches fremd. Auch wir wollen an der Besserung der allgemeinen Zustände mitarbeiten, aber als Juden, nicht als unbestimmte Menschen, und was wir dann als Juden tun, das wird uns auch zur Ehre gereichen. Man wird uns achten lernen, wenn wir auch ein Ideal haben wie andere Völker. Manche glauben wohl, das sei eine uralte Schrulle, die auch wir jetzt mitmachen. Das ist aber ganz etwas Modernes, so modern wie unsere Leiden und Schicksale vom Tage. Wir haben immer etwas zu leiden gehabt und haben ausgehalten, und jetzt stehen wir doch in einer anderen, in einer aufgeklärten Zeit, wo die Standhaftigkeit leichter ist.

Man soll nicht mit einem billigen Witze sagen, daß wir im Sinne der Antisemiten sprechen. Das ist falsch! Es schwärmen ganz ernste und durchaus nicht judenfeindliche Christen für diese Idee. So wie in der Griechenzeit die Aufrichtung Griechenlands der Menschheit gefallen hat, so wird ein Schrei der Bewunderung durch die Welt gehen, wenn diese getretenen Juden sich unter den Beschimpfungen so hoch aufrichten. Und darum glaube ich, daß wir in einer solchen Zeit, ob uns auch manche einzelne Ansicht trennt, ob der eine sein Ideal etwas weiter vorwärts oder ostwärts setzt als der andere, daß wir uns einander nähern und fest zusammenhalten sollen, weil man uns auch in Bausch und Bogen bekämpft.

Ich weiß es nicht, ob wir noch in dieser Generation die Befreiung aus Schimpf und Elend erleben werden. Möglich ist es, vorausgesetzt, daß wir klug und entschlossen sind. Aber das weiß ich, daß schon das Wandern auf diesem Wege uns zu anderen Menschen machen wird. Wir gewinnen unsere verlorene innerliche Einheit wieder und mit dieser ein bißchen Charakter, und zwar unseren eigenen Charakter. Keinen maranischen, erborgten, unwahren, sondern unseren eigenen. Und dann erst wollen wir mit allen anderen rechtschaffenen Menschen wetteifern in Gerechtigkeit, Nächstenliebe und hohem Freisinn, wollen uns auf allen Feldern der Ehre betätigen, in Kunst und Wissenschaft es vorwärtszubringen trachten, damit ein Glanz von unseren Taten auf die Ärmsten unseres Volkes zurückfalle.

So verstehe ich das Judentum.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften