Rede in Berlin.

Meine Damen und Herren! Ich habe leider nur kurze Zeit Gelegenheit, mit Ihnen beisammen zu sein, um zur Klärung beizutragen. Es war mir sehr erwünscht, in den beiden Herren Vorrednern zwei Richtungen der Gegnerschaft vertreten zu sehen. Herr Klausner hat mir schon früher einmal die Ehre erwiesen, mich anzugreifen. Es war zu einer Zeit, da es mir noch möglich war, alle Angriffe zu lesen, und ich glaube kaum, daß ich heute noch die Worte des Herrn Klausner im Gedächtnis hätte, wenn sie nicht zu den ersten gehört hätten, die gegen mich gerichtet waren. Herr Klausner hat seinerzeit, als der „Judenstaat“ erschien, in einer Kritik darüber geäußert: „wenn dies die Ideen eines einzelnen sind, so sind es die Ideen eines Verrückten.“ Inzwischen hat der einzelne Genossen gefunden, und ich glaube, man müßte die Irrenhäuser wesentlich vergrößern und auch noch neue bauen, wollte man sie alle darin unterbringen. Wir haben wenigstens einiges erreicht, wir haben erreicht, daß die Bewegung aus dem Rahmen einer Diskussion herausgetreten ist, während Herr Klausner sich begnügt hat, die Sache als eine verrückte zu erklären. Er gibt selbst zu, das Wesen des Zionismus nicht zu kennen. Mich erinnert dies an das Wort eines englischen Parlamentariers: „Ich kenne die Gründe der Regierung nicht, aber ich missbilige sie.“ Herr Klausner, der das Wesen des Zionismus nicht kennt, missbilligt es. Ich will die Bestrebungen des Zionismus daher in der Form wiederholen, wie sie der Baseler Kongress angenommen. Der Baseler Kongress hat das Programm des Zionismus dahin formuliert: „Wir wollen eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte schaffen für die Juden, die sich nicht assimilieren können oder wollen.“ Jedes Wort in diesem Satze glaube ich verteidigen zu können, und Sie werden finden, daß ich dabei der Vernunft keine große Gewalt antue. Vor allem meinte Herr Klausner in seiner Polemik, daß unsere Brüder in Basel den Judenstaat, mein Kind, wie er sich ausdrückt, scheel angesehen und es verleugnet haben. Vergessen Sie nicht, was diese Broschüre ist und war und was der Baseler Kongress geworden. Diese Broschüre war der Versuch eines einzelnen, in diese Judenfrage etwas Licht und den Vorschlag einer Lösung zu bringen, niemand ist dafür verantwortlich als ich. Und was war der Baseler Kongress? Da sind bereits die zielbewussten Vertreter der Juden zusammengekommen und haben sich darum gekümmert, dem Zionismus die nächsten Ziele und Grenzen zu stecken.

Auf das sehr delikate Gebiet Ihrer staatsbürgerlichen Auffassung darf ich nicht eingehen, da ich als Ausländer zu Ihnen spreche. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich es nicht gut einsehen kann, wie der Versuch, für einen Teil des sich überflüssig fühlenden Volkes eine Heimstätte zu schaffen, wie die Gewinnung eines Territoriums auf dem Wege einer öffentlichen Diskussion, wie das schädlich zurückwirken könnte auf die Rechte derjenigen, welche bleiben wollen. Wissen Sie denn nicht, in welchem kolonialen Zeitalter wir leben? Es ist eine, Konsequenz der Übervölkerung und der sich dadurch immer krasser gestaltenden sozialen Frage, daß manche Völker bestrebt sind, überseeische Kolonien zu gründen, um den Strom der Auswanderung dorthin zu lenken. Dies ist die Politik, die England seit Dezennien treibt, und die für viele Völker vorbildlich wirkt. Ich glaube, daß Deutschland auch ein Größer-Deutschland zu werden den Anlauf genommen hat, seit es über die Meere blickt und überall Kolonien zu gründen sich bemüht.


Wenn zum Beispiel galizische Bauern nach Amerika auswandern, so kann ich nicht einsehen, inwiefern es auf die Zurückbleibenden schädlich einwirken sollte. Eine geleitete Auswanderung jüdischer Massen kann nicht schaden. Allerdings wollen wir versuchen, die Auswanderung in richtige Bahnen zu leiten, ihr ein festes Ziel zu geben, damit wir sie nicht ins Elend hinausführen. Herr Klausner hat nichts dagegen, wenn wir sie überall hinleiten, um ihr Los zu verbessern, nur nach einem Orte will, er nicht, daß sie gehen sollen, nach Palästina, weil er glaubt, daß sie einst nach Gottes Willen dahin kommen werden. Ich meine, wenn Herr Klausner sich einen Augenblick von seinen prophetischen Vorstellungen freimachen kann, so wird er doch im Territorium Palästina — und es gibt ein Palästina, es liegt am Mittelländischen Meer — Orte finden, die sich zur Ansiedlung eignen. Und wenn wir nun meinen, daß dieses Land sich besonders eignet, weil wir, durch ein ideales Band noch immer mit ihm verbunden sind, wenn wir nun glauben, daß das, was nie bisher geschehen konnte, nur bewirkt werden kann, wenn die Situation ausgenützt wird, wenn das alte Volksideal politische Formen annimmt, so scheint mir auch darin nichts Unrechtes zu liegen.

Man hat ja versucht, in anderen Ländern Kolonien zu gründen, und Sie kennen den Namen des wohltätigen Mannes, des Baron Hirsch, der eine Kolonisation in Argentinien versucht hat. Nach den Erfahrungen ist Argentinien eine Art Königsgrab für Hirsch. Man hat eine Anzahl von Menschen verpflanzt, ohne ihnen wohl zu tun, und weil sie das Band nicht hatten, das notwendig ist, um Menschen an die Erde zu fesseln, ist diese wohltätige Kolonie dem Untergang preisgegeben. Nun scheint es, daß die Herren gegen den Wohltätigkeits-Zionismus nichts hätten, nämlich gegen den, der „wohltätig“ Juden in Palästina ansiedelt. Aber Sie können ein Volk nicht mit Wohltätigkeit behandeln. Die Wohltätigkeit kann sich nur auf den einzelnen erstrecken. Nirgends gibt es mehr Schnorrer als bei den Juden, und das Schnorrertum ist ein großes Gebrechen. Wohltätigkeit an einem ganzen Volke ausgeübt heißt Politik, und die Wohltätigkeit, die ein Volk zu seinem eigenen Gedeihen auszuüben versucht, ist die Politik dieses Volkes. Es gibt keine Politik, die nicht von Absichten der Wohlfahrt durchdrungen ist. Wir glauben, die große Frage nicht dadurch lösen zu können, daß wir die einzelnen gar nicht übersehbaren Leute wegschicken: „Wirf ihn hinaus, er zerreißt mir das Herz!“ Die Frage ist auf diese Weise nicht zu lösen; denn er kommt zurück, den man hinauswerfen ließ, und der verpflanzte Schnorrer ist nicht gerettet, während, wenn man die Sache von vorneherein in der umfassenden Weise löst, dem geholfen ist, der geht und dem, der bleibt. Wer sich assimilieren will, assimiliert sich. Nur meinen wir, daß die Herren, denen es die Nützlichkeit anrät, den Zionismus zu fördern, nicht durch alle möglichen Behauptungen die gedeihliche Vorbereitung dieses Gedankens zu hemmen versuchen sollten. Und wenn wir dasjenige, was den Herren besonders bedenklich zu sein scheint, wenn wir die Kolonisation nicht nur politisch machen wollen, sondern von vorneherein sie öffentlich-rechtlich zu sichern erstreben, so scheint mir darin nichts Unvernünftiges zu liegen. Nicht einer unsicheren Zukunft dürfen wir unser Volk preisgeben. Es muss dafür gesorgt werden, daß es in Sicherheit leben kann, und wenn wir das unter den Augen der ganzen Welt, in der Art der modernen Völker versuchen“ so kann auch darin eine Gefahr nicht erblickt werden. Beide Redner scheinen vor dem Worte „Staat“ zurückzuschrecken. Nun, was ist ein Staat? Eine große Kolonie. Was eine Kolonie? Ein kleiner Staat. Und die Menschheit schien nie etwas Furchtbares darin zu erblicken. Nun meint der erste Redner, daß, wenn es gelänge, ein Gemeinwesen in Palästina zu errichten, dieses dem Proletariat wenig nützen würde, und daß es dort ebenso wenig auf wirtschaftlichem Gebiete besser würde, wie es hier bei uns der Fall ist. Ich kann es nicht verstehen, daß der Redner für das Proletariat in diesem gedachten Gemeinwesen etwas befürchtet. Ich kann Ihnen sagen, daß ich diesen Proletariatsunterschied nicht mache, daß es für mich keine Verschiedenheit unter den Juden gibt, und der ganze Zug der Bewegung ist eine Bedachtnahme auf das Los gerade unserer Ärmsten. Und wenn wir ihnen nicht das Huhn im Topfe garantieren können, gibt es ihnen denn der Sozialismus? Ich glaube, von den beiden Zukunftsstaaten, dem sozialistischen und dem zionistischen, hat der letztere mehr Aussicht auf Verwirklichung als der erstere. Wenn ich das bedenke, daß bei neuen Einrichtungen immer alles besser gemacht wird, als es bei den alten war, so gebe ich mich der Hoffnung hin, daß im neugegründeten Judenstaat auch wirtschaftlich gesunde Verhältnisse herrschen werden. Und wenn wir zur Gründung einer neuen Sache schreiten, so haben ja die Herren, die sich des Proletariats annehmen zu müssen glauben, Gelegenheit, ihre Wünsche zu äußern und für deren Verwirklichung Sorge zu tragen.

Ich will mich nicht zu sehr wiederholen, daher lassen Sie mich schließen. Unser Standpunkt ist kein fanatischer, wir sind moderne Menschen und haben es nicht verstehen können, warum Fehler einer früheren Zeit in dieser Zeit noch fortdauern sollen. Betrachten Sie diese Bewegung als eine Wohlfahrtsbewegung, die den Armen dienen will, niemand feindlich ist und der Menschheit eine gewisse Erleichterung bereiten kann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften