Nordaus „Doktor Kohn“

Dieses Drama, das sie heute nicht zu spielen wagen, wird dennoch bleiben. Es ist von dem robusten Wuchs der Werke, welche dauern. Grillparzer durfte sagen:

Mag uns're Zeit mich bestreiten,
Ich laß es ruhig gescheh’n —
Ich komme aus anderen Zeiten
Und hoffe in and're zu geh'n.


Das gilt auch von dem neuen Stücke Max Nordaus. Er kann es ruhig geschehen lassen, wenn ihn die einen beschimpfen und die anderen verschweigen. Sein „Doktor Kohn“ wird in spätere Zeiten hinübergehen und melden, was unsere Tage waren. Und zum beredten Werke gesellen sich nun auch dessen Schicksale in der Öffentlichkeit. Künftig wird man staunen und schaudern über die Verlogenheiten und Feigheiten, mit denen ein so ehrliches Stück Poesie zu kämpfen hatte, und all das wird nur den Ruhm des aufrechten Dichters vermehren. Die unterwürfigen Erfolghascher mögen sich ducken und vor der geltenden öffentlichen Meinung kriechen; wer ein Mann ist, findet seine höchste Lust darin, er selbst zu sein. Was wäre das Schreiben von Büchern und Stücken für eine elende Beschäftigung, wenn man nur die herrschenden Ansichten der Menge wiedergebe. Manche kostbaren und überfeinen Poeten finden ja den geschickten Ausweg, dem Streite der Meinungen einfach auszuweichen. Sie schlagen sich vom Brande der Tagesfragen weg einfach seitwärts in die Büsche. Sie singen wie der Vogel singt. Die Kunst soll nur um der Kunst willen da sein, und was noch solchen Gefasels mehr ist. Wir aber meinen, daß die Kunst vor allem einen Sinn haben müsse, und das kann kein anderer sein als der Sinn des wirklichen Lebens, das wir schluchzend und lachend durchmachen. Eine Beziehung auf denjenigen Teil des Lebens, der uns am vertrautesten ist, auf unsere eigene Gegenwart, die ja nicht nur aus Verlobungen und Ehebrüchen besteht, wird daher nichts Unpoetisches sein. Man hat es in den letzten Jahren allgemein sehr lobenswert gefunden, daß literarische Bühnenwerke die Lokalfarbe von Städten und Bezirken, ja sogar den Dialekt getreu brachten. Aber die Darstellung der Zeitbewegungen ist verpönt. Und doch ist das nur eine chronologische Lokalfärbung menschlicher Schicksale.

Zwar die Sozialisten haben ihrem Gegenwartsdrama doch allmählich die bürgerliche Achtung erzwungen. Aber wenn auch die soziale Frage gedichtet und endlich gespielt werden durfte, so ist das noch lange nicht der Fall bei anderen Fragen. Unsere zum Beispiel, die Judenfrage, darf nicht in die höhere Literatur eintreten. Erstens, weil sie schon endgültig behandelt ist in Lessings „Nathan“. Zweitens, weil es eine Judenfrage überhaupt nicht gibt. Drittens, weil diese Frage die Eigenschaft besitzt, alle Leute furchtbar aufzuregen. Es ist, wie man sieht, ungefähr das bekannte Räsonnement um den zerbrochenen Topf, den der Entlehner erstens ganz zurückgegeben hat, der zweitens schon beim Ausleihen gebrochen war und drittens überhaupt nicht ausgeliehen wurde.

Die Leute, welche Lessings „Nathan“ für das letzte dichterische Wort in der Judenfrage halten, sind ungefähr ebenso gescheit wie die, welche Freytags „Journalisten“ für ein definitives Werk über die Zeitungsschreiberei ansehen. Ah, gewiß, das waren merkwürdige Werke für ihre Zeit, aber die Zeit ist anders geworden. Für den Mendelssohnismus — wenn der Ausdruck gestattet ist — war „Nathan“ wohl das letzte Wort, und keinem von uns fällt es ein, dieses Wort und die ihm korrespondierende Bewegung im Judentum geringzuschätzen. Aber die Geschichte der Juden ist weitergegangen, nicht ohne große neue Schmerzen. Schon sind die Zeiten, die für den Dichter des „Nathan“ die späteren waren, vorüber. Die Judenfrage sucht eine andere dichterische Gestaltung, und es ist im Zusammenhange mit der ganzen Art, wie sich neuerlich die Geschicke unseres Volkes entwickeln, wenn es jetzt Juden selbst sind, die nicht mehr im Ghetto, nicht mehr im vertraulichen Flüstertone der Jargondichtung, sondern vor aller Welt das poetische Wort zur Judenfrage ergreifen. So wie wir Zionisten zu Basel eine politische Tribüne in Europa aufgerichtet haben, wo wir sagen können, was uns am Herzen liegt, so suchen wir auch die literarische Gelegenheit für diesen gleichen Zweck zu schaffen. Die Sitzung dauert fort! wie jener französische Kammerpräsident sagte. Max Nordau hat das Wort.

Und wie in Basel für die Hörer, wenn dieser köstliche Redner die Rednerbühne besteigt, um in großartigen Zügen die Zustände der verstreuten Judenheit im abgelaufenen Jahre zu schildern, ist es ein festlicher Augenblick für den Leser des Buchdramas.

„Doktor Kohn“ ist das Trauerspiel der Assimilation. Einzelne alberne Burschen, die in verschämtjüdischen Blättern darüber schrieben, haben den Sinn des Stückes natürlich vollkommen mißverstanden. Oder will es der Schick der verschämtjüdischen Blätter — das sind solche, die nur von Juden gemacht und zumeist von Juden gelesen werden — daß man die Sache nicht zu verstehen scheine? Sie meinten, es wäre dem Dichter darum zu tun gewesen, in der Gestalt und im Schicksal des Doktor Kohn zu zeigen, wie unangenehm es zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts sei, ein Jude zu sein. Ganz falsch. Der Dichter wollte vielmehr darlegen, wie unangenehm es — von der Nutzlosigkeit abgesehen — sei, wenn man sein Judentum verleugne. Ein „bürgerliches Trauerspiel“ heißt das Stück. Nun, das Bürgerliche darin ist der Fall des Julius Christian Moser, während die daneben einhergehende Tragödie des Dr. Kohn eigentlich eine romantische ist.

Das Stück spielt in einer kleinen mitteldeutschen Universitätsstadt. Da lebt Julius Christian Moser, ein geheimer Kommerzienrat und Landwehrhauptmann a. D. Er ist ein gar stattlicher Herr, sehr angesehen, reich, mit der adeligen Offiziersfamilie der Herren von Quincke verschwägert. Seine Frau ist eine geborene von Quincke, seine Söhne sind stramme Antisemiten, der ältere Leutnant im Leibregiment, der jüngere Bursch im schneidigen Korps der Franko-Thuringen. Kurz, Herr Moser hat es soweit gebracht, als er es nur bringen konnte; jede Spur seines unauslöschlichen Geburtsmakels scheint verwischt zu sein. Denn Herr Moser hat mit seinem Namen einen gelungenen Buchstabenwitz gemacht — er hieß ursprünglich Moses! Er ist ein getaufter Jude, aber so herrlich assimiliert, daß ihm keiner, der es nicht wüßte, die Schande antun könnte, ihn für einen Sohn des verachteten Volkes zu halten. Auf den jüdischen Wildling ist ein deutsches und adeliges Reis gepfropft, und die Sprossen, die er getrieben hat, die Söhne, erinnern ihn in nichts mehr an den alten Stamm; sie wollen auch durch nichts mehr daran erinnert werden. Aber Herr Moser, né Moses, hat auch ein Töchterlein, Christine, und von dieser Seite bricht das Ungemach herein.

In der kleinen mitteldeutschen Universitätsstadt hat sich nämlich ein Privatdozent der Mathematik, ein gewisser Dr. Leo Kohn, habilitiert. Dr. Kohn lernt Christine kennen und lieben, und sie liebt ihn wieder. Er wagt es nicht, um sie zu werben, solange er nur Privatdozent ist, und die Professur will man ihm nicht geben, weil er ein Jude ist und Kohn heißt. Aber bei der Preisausschreibung der Stockholmer Akademie gewinnt er den Weltpreis für Mathematik, und da ihm nun eine Professur, wenn auch nicht an dieser Hochschule, sicher ist, entschließt er sich, als Freier vorzutreten. Vorher hatte ihn der ihm übrigens wohlgesinnte Rektor der Universität verständigt, daß der Senat Kohns Gesuch um Ernennung zum außerordentlichen Professor abschlägig beschieden habe, weil die Satzungen der Hochschule diese als eine christlich-evangelische hinstellen. Dr. Kohn beruft sich hiergegen vergeblich auf die Verfassung, welche Gleichberechtigung statuiert. Er meint aber, daß durch dieses Bekennen der Farbe doch etwas gewonnen sei. „Die Lüge der Gleichberechtigung ist vor Hier Augen aufgedeckt, es wird amtlich verkündet, daß die Verfassung ein Fetzen Papier sei, an den man sich nicht zu kehren hat.“

„Rektor Kielholt: Regen Sie sich nicht unnütz auf, mein guter Dr. Kohn. Ich meine, Sie sollten dieses Farbebekennen nicht so eifrig wünschen. Maßgebende Persönlichkeiten, die heutzutage die Gleichberechtigung wenigstens noch theoretisch und grundsätzlich anzuerkennen heucheln, verdienen dafür immerhin einigen Dank. Denn sie üben Rücksicht zu ihrem eigenen Schaden. Sie verzichten auf sichere Volkstümlichkeit, wenn sie sich die Mühe nehmen, um den Brei zu gehen, statt stramm zu erklären: Juden haben nichts zu fordern und nichts zu erwarten.

Kohn: Nun ja. Das ist wenigstens ein klarer Standpunkt. Ich ziehe ihn der Zweideutigkeit vor.“ Und an einer späteren Stelle:

„Kielholt: . . . Wenn Sie in Fechterstellung fallen und im Namen der Gleichberechtigung vom Leder ziehen, so ist dies der größte Fehler. Ich wollte, ich könnte dies allen Ihren Stammgenossen beibringen. Sie tun, als hätten Sie etwas zu fordern. Schließlich haben Sie uns doch die Gleichberechtigung nicht mit bewaffneter Faust abgetrotzt. Sie ist doch kein zweiseitiger Vertrag. Wir haben sie Ihnen freiwillig zugestanden, sie ist ein Geschenk, und den Umfang des Geschenkes hat der Geber allein zu bemessen.

Kohn: Das ist das tragische Missverständnis zwischen uns. Wir bilden uns ein, in unserer Eigenschaft als Menschen den vollen Anspruch auf alle Menschenrechte zu haben, und Sie sind überzeugt, daß Sie uns eine Gnade erweisen, wenn Sie den Juden als Menschen anerkennen. Ihre stillschweigende Voraussetzung ist, daß der Jude die Menschenwürde nicht natürlich besitzt, sondern sie erst erlangt, wenn Ihre Gnade sie ihm ausdrücklich verleiht: Solange selbst die gerechtesten und wohlwollendsten Christen so fühlen, ist der Abgrund zwischen uns freilich unüberbrückbar.“

Dr. Kohn wirbt also auf Grund des errungenen Preises, der ihm eine gesellschaftliche Stellung verbürgt, um Christine. Herr Moser ist davon nicht angenehm berührt, aber in einer großen Unterredung, die mehr ein Kampf als ein Gespräch ist, ringt ihm Kohn Achtung und Zustimmung ab. Nun beginnen die Kämpfe in der übrigen Familie. Frau Moser, geborene von Quincke, ist entsetzt, weil ihre Tochter dasselbe tun will, was sie einst tat: einen Juden heiraten! Freilich, der Jude Kohn, der ein Jude von heute ist und das zionistische Ideal in seinem Kampfgespräche mit Moser wie eine Fahne aufrollte, will nicht unterducken, während der Jude Moses zu jeder Selbstpreisgebung bereit war, um Fräulein von Quincke heimführen zu dürfen. Frau Moser ruft ihren Bruder, den Superintendenten von Quincke, zu Hilfe. Dieser macht alle Anstrengungen, Moser von der Verbindung mit dem Juden Kohn abzubringen. Aber das Merkwürdigste tritt ein. Von jedem Grunde, den der geistliche Herr gegen Kohn anführt, fühlt sich Moses in seiner Person getroffen. Kohn sei ein Fremder, ja, dann ist es auch er, Moser, geborener Moses. Man dürfe Kohn nicht in die Familie aufnehmen, ja, dann ist auch Moses hier nicht zu Hause. Der Gedankenaustausch wird zum Streite, führt zum Bruche zwischen den beiden Männern, die ein lebenslängliches Kompromiß geschlossen zu haben wähnten. Moser weist in höchstem Grimm seinem Schwager und Widersacher die Türe. Kohns Sache ist ihm zur eigenen geworden. Da stehen ihm in seinen Söhnen die Gegner auf, und da erreicht das Trauerspiel der Assimilation den Höhepunkt. Die beiden jungen Herren lehnen sich wider ihren Vater auf, weil er einen Juden zum Schwiegersohne nehmen will. Der Student benimmt sich ungezogen und wird von seinem Vater dafür mit körperlicher Züchtigung bedroht. Karl, der Offizier, aber lehnt sich in einer artigeren kälteren, freilich noch unerträglicheren Form auf.

Karl: Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, so haben wir uns ihrem Ehrbegriff zu unterwerfen. Der Ehrbegriff unserer Gesellschaft gestattet keine Verschwägerung mit einem Juden.

Moser: Das sagst du, der du selbst Jude bist?

Karl (ausrufend): Ich?!

Moser: Ich denke!

Karl (sich beherrschend): Du willst mich demütigen, Vater.

Moser: Dein Vater ist Jude und du bist es genug, daß du dich schämen solltest, derartige Redensarten zu wiederholen.

Karl (finster): Das hast du mir nie gesagt.

Moser: Es war das Unrecht meines Lebens.

So weit ist also der Geheimrat und Landwehrhauptmann a. D. gelangt, daß er sein verleugnetes, vergessenes Judentum selbst hervorholt und es seinem Sprößling ins Gesicht wirft. Dieser freilich will sich nicht ergeben. Als Kohn erscheint, beschimpft ihn der Leutnant. Das Duell ist unvermeidlich. Kohn wird von der Kugel des Leutnants getroffen.

Die armen Eltern des zu Tode Verwundeten kommen nun in das Mosersche Haus, wo er liegt. Er stirbt. Als Moser diese beiden in ihren alten jüdischen, ihm selbst fremd gewordenen Gebräuchen erstarrt und verknöchert sieht, meint er, daß sie seinem Abfall vom Judentume recht gäben. Mit solchen Leuten habe er nichts gemein. Das ist der Punkt, auf dem es schwer wird, dem Dichter recht zu geben. Moser, den wir in einer zunehmenden tragischen Läuterung kennenlernten, darf nicht zu einem solchen Schlußräsonnement geführt werden. Mit armen Leuten aus dem Lebenskreise des Ehepaares Kohn hätte der Geheimrat auch dann keine Interessen- und Gedankengemeinschaft, wenn sie keine Juden wären. Ihre Beschränktheit, Armseligkeit, ja ihre Lächerlichkeit und sogar ihre Verächtlichkeit kann die historische Tatsache der Volksgenossenschaft nie und nimmer aufheben. In einem Volke gibt es verschiedene Leute mit verschiedenen Gewohnheiten, Gedanken, Gefühlen, Tugenden und Niederträchtigkeiten. So eng ist die Gemeinschaft der einzelnen im Volke nicht, daß eine völlige oder auch nur annähernde Übereinstimmung gefordert werden könnte. Von einer Partei kann man sich lossagen, nachdem man ihr angehört hat; von seinem Volke nicht, wenigstens nicht, solange es bedrängt ist. Da muss vielmehr jeder zu den Fahnen heimeilen, wie weit er sich auch entfernt habe. Daß nun Herr Moser sich zum Schluss mit dieser Ausrede von der Verschiedenheit zwischen seinen und den fromm-jüdischen Anschauungen beschwichtigt, läßt ihn schwächlicher erscheinen, als er sich im Verlaufe der Handlung zeigte. Und dem energischen Lehrsatze des Stückes wird im allerletzten Augenblicke die Spitze abgebrochen.

Dennoch wollen wir unsere Freude an diesem mächtigen Drama haben. Den Leuten außerhalb des jetzigen Gettos wird es sagen, daß das Judentum nicht tot ist, weil es in einer Zeit schwerster moralischer Leiden noch imstande ist, Blüten zu treiben, welche nur ein unverzagtes, unverwüstbares Volk hervorbringen kann: nationale Kunstwerke. Dr. Kohn sagt in dem Stücke, bevor er verschwindet: „Vielleicht bin ich nur darum in dieser unglücklichen Lage, weil nicht immer jeder einzelne Jude sich gegenwärtig gehalten hat, daß der Hass der Feinde ihm die Würde eines rechtmäßigen Vertreters seines ganzen Stammes aufnötigt. Was heute in diesem Räume aufeinanderstieß, das waren jahrtausendealte Strömungen der Weltgeschichte . . .“ Nicht besser läßt sich der gewaltige Inhalt dieses zionistischen Dramas kennzeichnen. Was im Raume seiner Handlung aufeinandergerät, sind jahrtausendealte Strömungen. Es ist voll von Geschichte und Gegenwart, und ergreifend ist es wie die Wahrheit.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften