Leroy-Beaulieu über den Antisemitismus.

Herr Anatole Leroy-Beaulieu, der den Juden schon eines seiner besten Bücher verdankt: „Israël chez les nations“, hat sich unlängst wieder mit uns beschäftigt. Diesmal war der elegante Schriftsteller weniger glücklich als in seinem ersten israelitischen Werk. Er macht in seinem Büchlein „l'Antisémitisme“ den Eindruck, als hätte er nicht viel über die Judenfrage zu sagen. Und während man die 433 Seiten von „Israel unter den Nationen“ mit beständiger Teilnahme lesen und sich an der leicht hinplaudernden Gelehrsamkeit des Verfassers erfreuen konnte, empfindet man bei diesem kurzen Vortrag von 75 kleinen Seiten bald eine gewisse Leere.

„L'Antisémitisme“ war nämlich ein freier Vortrag, eine sogenannte „Conférence“, die Herr Leroy-Beaulieu im Institut catholique zu Paris vor einigen Monaten hielt. Dieser Schauplatz, die Person des Redners und die Art der Unterbrechungen, denen er ausgesetzt war, hätten eigentlich die großen Blätter veranlassen sollen, sich eingehender mit der Sache zu beschäftigen. Aber man spricht bekanntlich nicht gern von der Judenfrage; man glaubt noch immer, sie durch Schweigen totmachen zu können. Es ist etwas Unheimliches in solcher Verblendung sonst kluger Leute. Es ist, wie wenn jemand an einem Ort, wo nicht geraucht werden soll, die brennende Tabakpfeife in die Tasche steckte. Er kriegt ein Brandloch in den Rock und wird nachher doch erwischt.


Zu den verschwiegenen Ereignissen in der modernen Entwicklung der Judenfrage gehört auch Leroy-Beaulieus Vortrag im katholischen Institut. Es war eine merkwürdige Begebenheit, die mit allgemeiner Unzufriedenheit endete. Die Antisemiten, gegen die Herr Leroy-Beaulieu vom katholischen Katheder herab loszog, hatten einen schlechten Tag. Aber auch Herr Leroy-Beaulieu hatte keinen guten. Und am übelsten waren die Juden daran, denn sie wurden von Herrn Leroy-Beaulieu verteidigt. Ein solcher Verteidiger ist das schwerste Mißgeschick, das einen Angeklagten treffen kann. Herr Leroy-Beaulieu spricht von den Juden mit einem geradezu vernichtenden Wohlwollen, er beschämt sie durch seine Güte, und nie haben sie so viel Ursache zerknirscht zu sein, als wenn er sie entschuldigt. Ein Jude von gesundem, nicht unbescheidenem Selbstgefühl muss sich ganz verknittert und weggeworfen vorkommen, nachdem er die Schrift dieses verbindlichen Akademikers zu Ende gelesen hat. Woher das kommen mag? Wir sind doch wahrhaftig nicht verwöhnt. Wir hören Tag für Tag die, wie es scheint, schwierige Frage erörtern, ob wir denn auch Menschen seien wie andere. Es gibt Leute, welche diese Frage mit Entschiedenheit verneinen, dann solche, die mit Einschränkungen bejahen; wenige sind ohne Vorbehalt für uns, und das ist menschlich erklärbar. Das „Liebe deinen Nächsten“ ist nichts Alltägliches — hätte es sonst ein derartiges Aufsehen in der Weltgeschichte erregt? . . . Kurz, wir sind nicht verwöhnt.

Wir haben auch schon das Klagen über unser Los verlernt. Wir tragen es, wie es kommt. Und nun faßt uns einer mit sanfter, glatter Hand an, wie um uns wohlzutun; aber wir fühlen dabei nur Schmerz. Ist unsere krankhafte Überempfindlichkeit daran schuld? Nein, der gute Mann streichelt unsere offenen Wunden. Er möge sie brennen, schneiden, er möge uns neue schlagen, wenn er ein rechter Feind ist; doch was soll das Streicheln, da er ja kein rechter Freund ist?

Darin liegt es. Über die Judenfrage kann man heute nur als offener Parteigänger schreiben. Das heißt: die Judenfrage hat zwei Aspekte, einen geschichtlichen und einen aktuellen. Der historische läßt sich mit kühler Ruhe betrachten, ja die akademische Gelassenheit ist dabei sehr verdienstlich. Aber die aktuelle Judenfrage verträgt diese kühle Art der Behandlung nicht. Hüben und drüben leidet und kämpft man, hüben ist mehr Leiden, drüben mehr Streiten. Kommt aber einer, der dieses Schauspiel mit ungetrübter Seelenruhe betrachten, man könnte sagen: genießen will, so wird er in beiden Lagern Zorn erregen. Wer jetzt in der Judenfrage mittun will, muss zunächst erklären, ob er Weif oder Waibling ist. Geschichtsschreiber kann es in diesem Zustande der Sache noch nicht geben, höchstens Kriegsberichterstatter, und die mögen vorsichtig sein, sonst werden sie nach Kriegsrecht behandelt.

Es war also unvorsichtig von Herrn Leroy-Beaulieu, daß er am 27. Februar 1897 in das Katholische Institut ging, um den Antisemiten milde zu erklären, inwiefern er nicht vollkommen mit ihnen übereinstimmen könne, und den Juden, die von ferne horchten, welche Gebrechen er an ihnen rüge. Für die weisen Dämpfungen, Vorbehalte, Einschränkungen in dieser Rede hat niemand Sinn. Man sollte nicht glauben, wieviel Ärgernis eine so sanfte Auseinandersetzung zu erregen vermag. Herrn Leroy-Beaulieus Vortrag ist ein schönes Beispiel dafür, wie toll die Behutsamkeit ausfallen kann. Und doch steht er nach wie vor auf dem Standpunkt seines Buches „Israel unter den Nationen“, er sagt nicht ein Wort, dessen Wirksamkeit er nicht schon erprobt hätte; der kluge Mann hat nur vergessen, daß Buch und Rede, Geschichte und Politik zweierlei Dinge sind. Ein Philosoph muss schweigen, ein Politiker reden können.

Später, nach seiner „Conférence“, sah Herr Leroy-Beaulieu es ein. Beweis dafür das Vorwort des kleinen Buches. Da veröffentlicht er seine Antwort an den „Generaldelegierten der antisemitischen Liga in Frankreich“. Der Brief ist saftig. Herr Leroy-Beaulieu hat die Gemütsruhe verloren, die wir an ihm bewunderten, solange die Juden die Angegriffenen waren. Dieser feine Gelehrte hat auch Temperament. Er schreibt dem Generaldelegierten: „Mein Herr! Sie haben mich in einem offenen Briefe zu einer Disputation unter den Auspizien der antisemitischen Liga von Frankreich eingeladen. Sie haben die Güte, mich im vorhinein der Höflichkeit Ihrer Freunde zu versichern. Diese Höflichkeit habe ich unglücklicherweise bei meinem Vortrag im Katholischen Institut kennengelernt. Wenn es einen Ort in Paris gab, wo Ihre Freunde, die sich Christen nennen und sich gern als Vorkämpfer der Kirche aufspielen, ihre Wohlerzogenheit und Achtung vor der Redefreiheit hätten zeigen müssen, so war es sicherlich das Amphitheater des Katholischen Institutes. Sie haben das leider nicht verstanden. Zum Ärgernis der großen Mehrheit meiner Zuhörer haben sie mich fort und fort unterbrochen durch blödsinnige Spaße und grobe Gassenbübereien. Ich habe eine Erfahrung gemacht. Wer auf die Aufrichtigkeit oder Wohlerzogenheit Ihrer Freunde rechnete, wäre naiv.“

Der ungarische Schriftsteller Agai erzählt in einem Feuilleton die folgende hübsche Geschichte. Einmal war er in Ostende mit einem ungarischen Bischof beisammen. Der Kirchenfürst hatte unter seinem langen Rock Stiefel an. Langer Rock und Stiefel sind aber die Merkmale, woran die Ostender Gassenjugend die polnischen Juden erkennt. So liefen denn die Buben hinter dem Bischof drein, hänselten ihn und bewarfen ihn mit Steinen, wie sie es den nach Ostende verirrten polnischen Juden zu tun pflegen. Der geistliche Herr geriet völlig außer sich und trachtete nur, einen Wachmann zu finden, der ihn vor dem unerklärlichen Mutwillen der Buben schützen sollte. Den Wachmann fragte er, was denn die Jungen hätten. Der lächelte gutmütig: „So machen sie es nun einmal mit den Juden.“ — „Was, Jude? Ich bin ein Bischof!“ Und er schlug den Rock zurück, daß der verblüffte Polizist das große goldene Kreuz erblickte. Als aber der Bischof noch ganz erregt von dem Abenteuer mit seinem Landsmann Agai zusammentraf und es ihm erzählte, sagte dieser: „Sehen Sie nun, bischöfliche Gnaden, wie das schmeckt: ein Jude zu sein. Sie haben es nur eine Viertelstunde gekostet — wir machen das seit achtzehnhundert Jahren durch . . .“

Wie dem Bischof zu Ostende, ist es Herrn Leroy-Beaulieu im Katholischen Institut zu Paris ergangen. Und doch schlug er oft genug den Rock zurück und zeigte das Kreuz auf seiner Brust. Mehrmals wiederholte er, daß er ein guter Arier, Christ, Franzose sei. Solche Erklärungen sind das erstemal nützlich und klingen bei der Wiederkehr matt. Und sie haben ihn vor dem Unwillen der Antisemiten, deren Neigung er gewinnen wollte, nicht geschützt. Er aber ist entrüstet über die Form ihrer Opposition. Schon nach so kurzer Zeit, Herr Leroy-Beaulieu? Noch einige solche Erfahrungen, und Sie würden die Frage vielleicht weniger „wissenschaftlich“ auffassen.

Wissenschaftlich fasst er sie auf, das ist wahr. Er setzt die drei Seiten des Antisemitismus auseinander: die religiöse, die nationale, die soziale. Auf allen drei Seiten, sagt er, sind die Klagen der Antisemiten zum Teile begründet. Wörtlich schreibt er: „Der Unterschied zwischen den Antisemiten und mir ist in diesem dreifachen Feldzuge hauptsächlich ein Unterschied im Vorgehen und in der Methode; aber das allein ist wichtig genug.“

Das ist eine loyale Erklärung unseres „Verteidigers“, die wir uns merken und den jüdischen Schwachköpfen gelegentlich vorhalten wollen. Den Antisemiten hat die Erklärung nicht genügt, und sie folgten dem Vortrag mit Murren und heftigem Widerspruch. Nun muss gesagt werden, daß die Argumentation Leroy-Beaulieus voll der angenehmsten Feinheit ist. Wer nicht Jude oder Antisemit ist, wird sie mit Vergnügen lesen, vorausgesetzt, daß die Frage dann überhaupt noch Interesse hat. Leroy-Beaulieu besitzt die schmackhafte Gelehrsamkeit, deren große Muster in Frankreich Renan und Taine waren. Die Dinge, über die er spricht, kennt er gründlich, wenn er auch leicht und gefällig darstellt. Er zeigt eine ebenso tiefe als lieblose Kenntnis der jüdischen Art, er sieht jeden Splitter in unserem Auge. Wir dürften und wir würden uns darüber nicht beklagen, wenn er als unser Gegner spräche. Aber er will als Gerechter genommen werden, und dazu fehlt ihm, wenn man so sagen kann, die Lieblosigkeit gegen die anderen. Es sind das vielleicht nur Nuancen, „Unterschiede im Vorgehen und in der Methode“, aber sie genügen vollkommen. Geben wir „ihm seinen richtigen Platz, erkennen wir ihn als das, was er ist, als unseren Gegner, und die Diskussion mit ihm wird an Klarheit gewinnen. Er ist einer unserer verbindlichsten, gebildetsten, feinsten Gegner, aber unser Gegner. Die Antisemiten, die sich von ihm bekämpft glauben, weil er gegen ihre Form der Judenfeindschaft spricht, haben ihn nicht verstanden: er schadet uns.

Herr Leroy-Beaulieu schadet uns, wie uns manche unserer Nation entfremdete Juden schaden, und deren Gedankengänge sind auch öfters die seinigen. Verhältnismäßig am schönsten und großmütigsten räsonniert er gegen den religiösen Antisemitismus. Das ist der erste Teil seiner Ausführungen. Zunächst berichtigt er den Irrtum, als ob die antichristliche Bewegung des vorigen Jahrhunderts, namentlich in Frankreich, von den Juden ausgegangen wäre. „Es war kein Jude, der das Losungswort „Ecrasons l'infâme!“ ausgab. Voltaire war es, und statt ein Zögling oder Freund der Juden gewesen zu sein, könnte er eher von den Antisemiten als einer ihrer Vorläufer reklamiert werden.“

Unter Ludwig XVI. gab es in Paris kaum einige hundert Juden, die meisten waren arm und unbekannt, in entlegene Vorstädte verwiesen. Die waren zu schwach, um irgendwelchen Einfluß auf die Revolution, auf die Verweltlichung und Entchristlichung der modernen Gesellschaft nehmen zu können. Später freilich scheinen die Juden an der Entchristlichung der Gesellschaft gehörig mitgearbeitet zu haben. Wie haben sie das getan? Als. einzelne oder in jüdischen und verjudeten Vereinigungen. Als einzelne waren und sind sie ohnmächtig. Von jüdischen Vereinigungen kennt Leroy-Beaulieu nur eine nennenswerte: die Alliance Israelite Universelle. Und als verjudete Vereinigung wäre höchstens die Freimaurerei zu erwähnen.

Leroy-Beaulieu erklärt die Beschaffenheit der Alliance Israélite, die in den siebziger Jahren von Crémieux gegründet wurde und in allen Ländern, namentlich in den barbarischen, die Interessen der Glaubensgenossen, die Freiheit der Religionsübung und die Sicherheit der Personen gewährleisten sollte. Er findet gegen diese der „Evangelischen Allianz“ nachgebildete Vereinigung nichts einzuwenden. Wir Zionisten sind da anderer Ansicht als Herr Leroy-Beaulieu und die Allianzjuden. Wir halten diese Einrichtung für eine törichte. Nie hat eine Vereinsnarretei im Verhältnis zum äußersten möglichen Nutzen soviel geschadet wie diese komische „Universelle Allianz“, die weder universell noch eine Allianz und am allerwenigsten jüdisch ist. Mit ihrem pomphaften und leeren Namen hat diese Allianz unsere Gegner glauben gemacht, daß eine geheime internationale Verbrüderung zur Herstellung einer jüdischen Weltherrschaft bestehe. Je eher diese Allianz vom Erdboden verschwinden wird, desto besser wird es sein. Wir Zionisten sind auf das deutlichste und entschiedenste gegen jede solche internationale Vereinigung von Juden, die, wenn sie wirksam wäre, den mit Recht verpönten „Staat im Staate“ vorstellte und, da sie machtlos und nichtssagend ist, nur Nachteile bietet. Es ist hier nicht der Platz, unseren entgegengesetzten Standpunkt ausführlich zu erklären. Nur das sei gesagt, daß wir zur Lösung der Judenfrage nicht einen internationalen Verein, sondern eine internationale Diskussion wünschen, das heißt: nicht Bündeleien, geheime Interventionen, Schleichwege, sondern die freimütige Erörterung unter der beständigen und vollständigen Kontrolle der öffentlichen Meinung.

Sehr interessant sind die Ausführungen Leroy-Beaulieus über die Freimaurerei. Er weist nach, daß die Juden erst spät, in manchen Ländern noch jetzt nicht in die Logen gelangen konnten. Der Antiklerikalismus der Freimaurerei ist also nicht das Werk der Juden, wenn sie auch allmählich und vielleicht mit Leidenschaft daran teilgenommen haben. Es war wohl der größte politische Fehler der eben freigelassenen Juden. Psychologisch ist dieser Fehler allerdings erklärbar. Mit einer wahren Wonne nahmen viele am Sturm gegen die Kirche teil, von der aus die Juden Jahrhunderte hindurch so bitterlich verfolgt worden waren. Auch auf diesem Punkte ist unsere Erziehung seither vervollständigt worden. Der moderne Jude wird auch, wenn er ein Freidenker ist, ja dann erst recht, jeden nach seiner Fasson selig werden lassen. Haben wir etwa jetzt Religionsfeldzüge zu führen, wir, die solche nicht einmal zur Zeit unserer staatlichen Existenz führten, wir, die niemals Proselyten machen wollten? Vor den Geheimnissen des Lebens stehen auch wir mit dem demütigen Wort „Ignorabimus“! Für die Zustände der Schwachen, für die Erziehung der Jugend und für den Abschiedstrost der Alten scheint uns die Religion noch immer unersetzlich. So war denn der Antiklerikalismus der Juden nichts als Ranküne. Und Ranküne ist die dümmste Politik. Wir büßen sie.

Schwach ist Leroy-Beaulieu in der Besprechung des nationalen Antisemitismus. Wir werden bei der Konklusion sehen, warum. Den nationalen Antisemitismus erläutert er ausweichend. Er mahnt nur die Kaiholiken, den Vorwurf des Kosmopolitismus nicht leichthin zu gebrauchen; denn auch die Kirche sei kosmopolitisch, sie sei es vor allem. Er konstatiert, was wir ja zur Genüge wissen: daß die Juden noch vor wenigen Jahren überall im Begriffe waren, sich zu assimilieren, und daß diese Bewegung gerade durch diejenigen zum Stillstand gebracht wurde, die den Juden vorwerfen, daß sie nicht in der sie umgebenden Bevölkerung aufgehen. Er spöttelt ferner über den ethnographischen Dilettantismus der Antisemiten. Die Juden, seien keine zusammenhängende Rasse u. dgl. Als ob die judenfeindliche Bewegung dadurch irgendwie alteriert würde, daß ihr Schlagwort wissenschaftlich bemängelt werden kann. Das ist Gelehrtennaivität.

Konnten und mussten wir vorhin mit Leroy-Beaulieus eigenen Worten feststellen, daß er kein Freund der Juden ist, so werden wir im dritten Teil seiner Ausführungen finden, daß er den Juden dennoch kein Unrecht tun will. Wir wären ihm dafür dankbar, wenn er nicht irrtümlich als Verteidiger der Juden gälte. Wir brauchen nicht zu untersuchen, wer an diesem Mißverständnisse Schuld trägt: er selbst oder andere; vielleicht nur seine zu subtile Stellungnahme. In solchen Meinungskämpfen, wie sie die Judenfrage veranlaßt, ist die contradictio in adjecto unbegreiflich und darum unerträglich. Man kann kein judengerechter Antisemit, kein welfischer Waibling sein.

Im dritten Teile, welcher die ökonomische Seite der Frage behandelt, erklärt Leroy-Beaulieu, wie die Juden durch geschichtliche Umstände auf den Handel, auf das Geldgeschäft geworfen wurden; wie das einst ackerbauende und kriegerische Volk entkräftet wurde; wie es dennoch die körperliche Arbeitslust nicht verlor, Beweis die Massenverhältnisse im Osten Europas, das furchtbare Sweating in England und Amerika, wo man den Juden nicht Parasitismus im Zwischenhandel, sondern die Erniedrigung des Standard of life der Arbeiter vorwirft. Wir wissen das alles sehr genau, aber er sagte es den Antisemiten. Diesen geht das freilich zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus. Sie klagen über einen Zustand, es ist ihnen gleichgültig, wie er historisch zu erklären sei. In seinem nationalökonomischen Wesen ist der Antisemitismus eine schutzzöllnerische Bewegung. Sah man das nicht vor kurzem selbst im „judenfreundlichen“ Ungarn bei der merkwürdigen, viel zu wenig beachteten Grenzsperre gegen die russische Einwanderung? Herr Leroy-Beaulieu versteht so viel, er versteht so fein; nur seine Zeit versteht er nicht. Er glaubt noch starr an das laissez faire, laissez aller. Das ist vorbei. Ob man darüber jammere oder jubele, es ist vorbei. Man wird irgendeinmal wieder dazu kommen, jetzt steht die Welt in einem anderen Zeichen. Herr Leroy-Beaulieu liebt die Juden nicht, und dennoch bekämpft er den Antisemitismus; hier sind wir endlich bei der Erklärung des Widerspruchs. Er ist ein Liberaler, starr doktrinär von der alten Schule, linkes Zentrum.

Seine Prinzipien sind ihm teurer als seine Antipathie. Die Antisemiten sind einheitlicher gesinnt, vielleicht weil sie ihre Prinzipien nach ihrer Antipathie richten.

Und Herr Leroy-Beaulieu zieht aus seinen Prämissen seine Schlüsse. Er ist für Freiheit, gleiches Recht für alle; erstens, weil das sein Prinzip ist; zweitens, weil es in der Judenfrage keinen anderen Ausweg gibt. Welche Lösung schlagen die Antisemiten vor? Ausnahmegesetze oder Austreibung der Juden. Beide hält Leroy-Beaulieu nicht für empfehlenswert. Die Ausnahmegesetze, die er in Rußland zu studieren Gelegenheit hatte, bewährten sich nicht. Auch wäre das in einer Autokratie Mögliche schwer in eine Demokratie zu verpflanzen. Gegen die Austreibung aber spräche nach seiner Ansicht namentlich, daß der Judenaustreibung später die Austreibung anderer, endlich der Jesuiten folgen könnte. Hierzu kommt die Schwierigkeit, daß man auch in anderen Ländern die Juden ausweisen möchte. Wohin sollten die alle gehen? „Das Problem scheint mir unlöslich“, schreibt er und fügt gleich hinzu: „Allerdings gäbe es noch ein Verfahren, das zu verschweigen meine Loyalität mir verbietet. Das wäre die Wiederherstellung des Judenstaates.“ Und er spricht kurz von unserer zionistischen Bewegung. Doch glaubt er nicht, daß die Errichtung des Judenstaates die geeignete Lösung wäre. Das wundert uns weiter nicht nach seinen Voraussetzungen, insbesondere nicht nach der Schwäche seiner Bemerkungen über die nationale Seite der Judenfrage. Er meint auch, daß das Land unserer Väter nicht mehr Raum genug für uns hätte. Das lasse er unsere Sorge sein. Zunächst würden nicht alle Juden hingehen. Die sich Wohlbefinden, würden bleiben, wo sie sind, bis ihre Vermögen zerfallen, sie und ihre Familien in der jetzigen Umgebung resorbiert sind. Es wäre ja nicht einmal im Interesse der antisemitischen Länder, alle Juden zu verlieren. Es würde ein gesunder Abfluß beginnen und dauern, solange der Antisemitismus dauert. An dem Tag, in der Minute, wo die Stimmung eines Landes zugunsten der Juden umschlägt, rührt sich keiner mehr vom Fleck, gewiß kein Gutsituierter. Der Zionismus gibt den Völkern das Mittel an die Hand, sich die Zahl ihrer Juden nach dem Bedürfnis zu regulieren. Das, das ist die Lösung der Judenfrage.

Und was soll mit den jetzigen Bewohnern Palästinas, mit Muselmanen und Christen geschehen? erkundigt sich Herr Leroy-Beaulieu.

Was? Die wären nach unserer Ansicht am besten daran, weil sie Arbeit, Verkehr und Kultur in ihr armes verkarstetes Land bekämen. Und was sollte mit den heiligen Stätten geschehen? Wir glauben, daß diese nie mehr in den Besitz irgendeiner Macht gelangen werden. Sie sind völkerrechtlich wohl für ewig extra commercium. Was allen gehört, kann und wird niemandem gehören. Wer vermag es sich vorzustellen, daß die verschiedenen christlichen Konfessionen den Besitz der heiligen Orte einer einzigen in Besitz gäben. Die wachsende Differenzierung der christlichen Bekenntnisse hat ja so weit geführt, daß man sich dabei beruhigte, die heiligen Orte in der Hut von Nichtchristen zu wissen. Und angenommen, aber nicht zugegeben, daß es jemals dazu käme, ist es noch mehr denn fraglich, ob man gerade dem offiziell irreligiösen Frankreich die res sacrae der Kulturwelt überließe.

Das ist nämlich die Idee des Herrn Leroy-Beaulieu, wie er, die Buchöffentlichkeit vergessend, gesteht, „da wir hier unter uns Franzosen sind“. Er möchte — partant pour la Syrie — nach der Teilung der Türkei das Land der Juden für Frankreich haben. Nun, mit der Teilung der Türkei hat es noch seine guten Wege. Seit Herr Leroy-Beaulieu seinen Vortrag hielt, hat die Türkei ganz gediegene Proben ihrer Lebenskraft gegeben. An die Teilung der Türkei denkt gegenwärtig kein ernster Politiker mehr. Freilich braucht die Türkei dringender als je eine finanzielle Hilfe, und diese wird sie nur durch die Juden erhalten können. Es handelt sich nicht darum, dem Sultan eine Provinz zu nehmen, sondern nur darum, eine völkerrechtliche gesicherte Heimstätte für diejenigen Juden zu schaffen, die anderswo nicht existieren können.

Wir haben das schon oft gesagt, und wir werden es unermüdlich fortsagen, bis man uns versteht. Wir Zionisten gehen unseren Weg weiter, ungebeugt, unverdrossen, unter Spott und Anfeindungen, über Intrigen und Gemeinheiten hinweg, bis man uns versteht. Aber wenn uns Krämer, Eigensüchtige und niedere Leute mißverstehen, die Liebhaber der schönen und großen Ideen sollten uns ihre Sympathien schenken. Das ist doch nichts Geringes: die Renaissance eines unglücklichen, verlorenen Volkes. Ein Leroy-Beaulieu der Zukunft wird vielleicht unsere Bewegung — ob sie gesiegt haben oder unterlegen sein wird — mit Wohlwollen schildern.

Für den Leroy-Beaulieu von heute aber — er wird diese Zeilen lesen — wollen wir den Duft und die Musik Berangerscher Verse hierhersetzen; deren er sich vielleicht nicht mehr entsinnt. Er wird sie gedankenvoll genießen:

Combien de temps une pensée,
Vierge obscure attend son époux!
Les sots la traitent d'insensée,
Le sage lui dit: Cachez-vous.
Mais la rencontrant loin du monde
Un fou, qui croit au lendemain,
L'epouse: eile devient féconde
Pour le bonheur du genre humain.

Ihre wörtliche Übersetzung ist:

Wie lange harrt eine Idee
Als dunkle Jungfrau ihres Freiers!
Die Dummen schelten sie verrückt
Der Weise spricht zu ihr: verbirg dich!
Da trifft sie fern von allen Leuten
Ein Narr, der noch an morgen glaubt,
Und freit sie; da sie fruchtbar wird,
Ist es der ganzen Menschheit Glück.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften