Feuer in Galizien.

Der Pater Stojalowski hat seine Leute schlecht unterrichtet. Es ist in einem modernen Rechtsstaate nicht gestattet, zu sengen, zu morden und zu plündern. Der Bezirkshauptmann von Jaslo bezeichnet in einem amtlichen Rundschreiben die Gerüchte als „lächerliche und abenteuerliche“, die „Gerüchte, als ob es gestattet wäre, an wem immer strafwürdige Handlungen, wie Raub, Gewalttätigkeiten usw. zu begehen.“

Diese Nachricht war nämlich von einem Hetzkreis ausgegangen, als dessen Haupt- und Mittelpunkt der Pater Stojalowski von der öffentlichen Meinung ziemlich übereinstimmend bezeichnet wird. Eine Wahl steht im Sanoker Kreise bevor, und um die Gemüter für die Kandidatur des Stojalowskischen Parteigängers richtig zu stimmen, die Juden einzuschüchtern, die Bauern zu gewinnen, wurde diese Hetze kunstvoll veranstaltet. Den einfältigen und grausamen Bauern spiegelte man vor, die Regierung habe gestattet, ab und zu die Juden zu plündern und zu massakrieren. Einige wollten wissen, für diese Lustbarkeit sei die Frist von vierzehn Tagen eingeräumt. Andere behaupteten, es sei ein intermittierendes Fest: dreimal die Woche während eines Monats. Man musste endlich ziemlich starke Militärabteilungen auf den blutgetränkten Schauplatz dieser vom Bezirkshauptmann von Jaslo mit Recht als lächerlich und abenteuerlich bezeichneten Gerüchte senden, um die Ruhe wiederherzustellen. Es kann in der Tat nicht gestattet sein, Raub, Gewalttätigkeiten u. dgl. an wem immer zu begehen. Selbst an Juden nicht.


Wir haben an solchem Ausgange des nicht nur lächerlichen, sondern auch grauenhaften Abenteuers von vorneherein nicht gezweifelt. Daß der alte Rebellengeist dieser slavischen Bauern, die manchmal aus ihrem dumpfen Brüten zu tierischen Gewaltsamkeiten auftaumeln, gebändigt werden würde, war vorauszusehen. Menschliche Rücksichten und Staatsnotwendigkeit gebieten es in gleicher Weise. Für die kurzsichtig in den Tag hineinlebenden Politiker ist damit der Zwischenfall erledigt. Höchstens triumphieren manche darüber, daß sich bei dieser Gelegenheit wieder einmal die im Antisemitismus schlummernde Ordnungsgefahr gezeigt habe. Denn bei den jüdischen Hütten und Schenken beginne der Brand nur, um dann hinüberzufliegen auf das Dach der Schlösser. Die Edelleute und Herren müßten sich daher vorsehen, daß sie nicht heimgesucht würden vom wildgewordenen Bauer, der seine Sense zuerst beim Juden dengelt, um nachher auch die Herren niederzumähen. So kommt es, daß gewisse jüdische Politiker in einiger Entfernung vom Tatorte geradezu Sicherheit schöpfen aus solchen Ausschreitungen. Wer den Staat erhalten und die Ordnung bewahren will, müsse gegen die Judenfeindschaft früher oder später Stellung nehmen. Israel kann ruhig schlafen. Wenn ein Brand ausbricht, wird schon die Löschmannschaft ausrücken. Man wird die Spitzen und die Spritzen der Behörden auf dem Brandorte sehen, bis der letzte Rauch von den geschwärzten Trümmern verschwunden ist.

Aber was würde man von einem Menschen oder einer Gemeinschaft halten, die ihre ganze Sicherheit bei einem brandgefährlichen Objekt in dem Eintreffen der Feuerwehr suchen würden. Die Feuerwehr kann sich einmal verspäten, sie kann an mehreren Orten zugleich in Anspruch genommen sein und beim besten Willen nicht rechtzeitig ankommen. Was dann? Die Vernichtung. Wir in unseren festen Häusern, mitten in der Kultur, bewahren sorgsam, wie es im Nachtwächterspruche heißt, „das Feuer und das Licht, daß niemandem nichts g'schicht!“ Zudem zahlen wir pünktlich unsere Beiträge zur Brandschadenversicherung. Das ist doch das Geringste an Vorsicht, was ein vernünftiger Hausvater aufbieten kann. Es gehört dazu nicht viel mehr als die Weisheit eines Nachtwächters. Und Israel, das Volk, das so viele Denker im Lauf einer langen, rühmund qualvollen Geschichte hervorgebracht hat, Israel hat nicht einmal die Weisheit eines Nachtwächters. Wir denken nicht vorher daran, die Brandgefahr abzuwenden, und ist der Schaden angerichtet, so weiß niemand, an wen er sich um Ersatz des Verlorenen wenden soll. Und wer vorher die Unverständigen mahnt, eine wechselseitige Brandschadenversicherung einzusetzen, der wird verlacht und bekämpft.

Aber wir wollen jetzt nicht nur von dieser materiellen Seite unseres Zionismus reden. Der schon wieder gedämpfte Brand in Galizien gibt uns manchen andern Stoff zum Nachdenken. Vor allem: wen hat auch dieses Unglück betroffen? Wieder diejenigen, die genug zu tragen haben. Wieder die Armen, Elenden, Mühseligen unter den Juden. Man hört sagen, die Wirte, deren Schenken geplündert und niedergebrannt wurden, seien Wucherer und Ausbeuter des kümmerlichen Landvolkes. Danach könnte man glauben, es wäre eine leichte Existenz, trunksüchtigen Bauern, die auf eine Bitte um Zahlung mit einer Drohung oder Mißhandlung antworten, den Rausch zu kreditieren. Wir im Mittelpunkte der zionistischen Bewegung haben leider täglich Gelegenheit, vom galizischen Proletariate zu hören und es in jammervollen Gestalten zu sehen. Keine Arbeit ist diesen Menschen zu schwer und — mit Schmerz und Mitleid sagen wir es — keine Beschäftigung manchen von ihnen zu ehrlos. Tout comprendre, c'est tout pardonner. Leben wollen diese Ärmsten, und sie wollen ihre verhärmten Weiber, ihre kranken, schwachen Kinder nicht Hungers verenden lassen. Wer wagt es, einen Stein auf sie zu werfen, wenn sie im Hausierund Wirtshandel nicht die moralischen Eleganzen eines tadellosen Gentleman haben? Wenn sie sich gegen das Gesetz vergehen, nimmt es sie schon gehörig beim Kragen. Und die moralischen Eleganzen, wer hat sie denn? Etwa die hochmütigen Emporkömmlinge, die von diesen galizischen Unglücksfällen als von etwas Fernem, außerhalb ihrer Sphäre Spielendem kühl reden und die sich zu einer großen solidarischen Hilfsaktion für die leiblich und sittlich Verkommenen ihres Stammes nicht verpflichtet halten?

Da ist die tiefe Wurzel aller Übel, von denen die Juden heimgesucht sind. Von außen wird unsere Solidarität angenommen, und danach handeln unsere Feinde. Für Fehler und Vergehen einzelner unter uns wird die Gesamtheit haftbar gemacht, aber im jüdischen Volke besteht das Gefühl der Solidarität nicht — noch nicht.

Und doch scheinen Vorfälle, wie beispielsweise die letzten in Galizien, heftig zur Solidarität zu mahnen. Nicht einmal das Mitleid mit unverschuldetem Mißgeschick braucht da zu sprechen. Das Weh, das wir nicht mit eigenen Augen sehen, die Klagen, die wir nicht unmittelbar hören, pflegen uns nicht stark aufzuregen. Aber die galizischen Juden und ihr Elend sind auch eine kolossale Gefahr. Man denke, daß in Galizien ungefähr eine Million Juden in schauerlichen Zuständen leben. Es sind keineswegs Bauern von geringer Intelligenz, es fehlt ihnen die, man möchte sagen: glückliche Fühllosigkeit und Bewußtlosigkeit. Auch der Ärmste und Letzte ist durch einige elementare Kenntnisse zum Verstehen aufgeweckt. Und diese Menschen fristen unter geradezu untermenschlichen Bedingungen ein Leben, das diesen Namen kaum noch verdient. Ist es zu verwundern, wenn das namenlose Elend sie auf Abwege bringt? Manche Erscheinung in diesen gequälten Massen spricht erschütternd zu uns. Man hat unter anderem beobachtet, daß galizische Jüdinnen in den letzten Jahren auffallend zahlreich der Prostitution zufallen. Sie kommen als Ware nach allen Weltgegenden in den schrecklichsten Handel. Bedenkt man die alte Reinheit des jüdischen Familienlebens, so schnürt einem eine solche Tatsache das Herz zu. Und die so in ihrer moralischen Widerstandskraft Geschwächten sind nicht nur den grimmigsten Entbehrungen, sondern auch Verfolgungen und Misshandlungen durch den Pöbel ausgesetzt. So ist wahrlich für sie Anlaß genug vorhanden, ihre „Heimat“ zu verlassen. Aber wohin sie auch kommen, man stößt sie zurück. Es gibt heutzutage vielleicht in der ganzen weiten Welt keine verzweifelteren Menschen als die armen galizischen Juden. Sie wissen buchstäblich nicht mehr, wo aus, wo ein. Und wenn sie sich verstörten Blickes an ihre glücklicheren Stammesgenossen wenden, weist man sie ab, oder, was noch schlimmer ist, gibt ihnen Almosen. So werden die drohenden Bettler und die feigen Bettler gezüchtet.

Arbeit brauchen sie. Nur durch Arbeitshilfe sind sie zu retten. Aber die Arbeit ist nur dann denkbar, wenn die Früchte der Arbeit gesichert sind. Die Sicherheit des Besitzes ist die große Stärkung des Bauers in seinem wahrlich harten Kampfe mit der Ackererde. Dem Juden fehlt nun in Galizien — vielleicht auch anderswo — die Hoffnung auf einen in aller Zukunft ungestörten Besitz. In einer langen Ruhezeit pflegt ja auch beim Juden allmählich und schüchtern diese Hoffnung zu erwachen. Ein Beispiel dafür liefern die Juden in Ungarn. Feindselige Ausschreitungen der Mitbürger zerreißen aber die begonnene Hoffnung und damit die Arbeitslust. Darin sehen wir die Bedeutung aller judenfeindlichen Exzesse, auch der letzten galizischen. Waren es die letzten? Diese haben jedenfalls auch die Arbeitslustigen auf Jahre hinaus demoralisiert, von den tiefer in den Bettel gesunkenen Proletariern ganz zu schweigen.

Da gibt es jedoch getröstete jüdische Menschenfreunde, welche die Berichte über die Unruhen in den Blättern beim Morgenkaffee lesen und konstatieren, daß nur in ein paar Dutzend Ortschaften Häuser demoliert, Läden geplündert und einige Juden verletzt worden sind. Was ist da weiter daran? Es gibt auch anderswo Unglücksfälle, Menschen und Güter gehen zugrunde; nur unsere Leute sind so wehleidig, daß sie gleich schreien, als ob die Welt zugrunde ginge. Jawohl, es gibt Juden in günstiger Lage, die so gefaßt räsonieren; freilich sind diese der Auswurf unseres Volkes, und jeder rechte Zionist kann nur mit Ekel und Verachtung von ihnen reden. An solche Bursche, die zuweilen durch gar bedenkliche Streiche zu ihrer gesicherten Lage gelangt sind, v/enden sich unsere Worte nicht. Nur mit unseren ernsten und rechtschaffenen Volksgenossen erörtern wir diese furchtbar ernsten Fragen. Auf den Zusammenhang zwischen den Exzessen und dem moralischen Verkommen wollen wir hinweisen. Diese Unruhen in Galizien haben die breiten Massen unserer dortigen Brüder vielleicht auf zehn Jahre aus dem Gleichgewicht gebracht. Für wieviele jüdische Kinder in Galizien werden die unvergeßlichen Schreckensbilder im Sanok-Jasloer Kreise ein tiefster Eindruck aus der Jugendzeit bleiben ihr Leben lang. Die Sterblichkeit ist groß unter diesen Kindern der Elenden; aber wenn sie mit dem Leben davonkommen, werden sie sich jemals von den frühen grausamen Erfahrungen innerlich freimachen können?

Diese Betrachtungen haben keineswegs den Zweck, die galizischen Juden zu verteidigen. Sie haben ja nichts angestellt, weswegen man ihnen den roten Hahn aufs Dach setzen musste. Sie haben nur das Verbrechen begangen, zu leben, kummerlich und sorgenvoll zu leben. Gerade darum müssen die unbegründeten, unbegreiflichen Überfälle in moralischer Beziehung auf unsere Massen einfach verheerend wirken. Der Mittelstand unserer galizischen Juden, die Advokaten, Ärzte, Techniker, Fabrikanten und besseren Kaufleute sind schon durch ihre Bildung befähigt, ihr Rechtsund Ehrgefühl, ungeachtet der Exzesse, ja diesen zum Trotze zu bewahren. Das Rechtsund Ehrgefühl der Unteren aber wird vernichtet. Der Sozialpsychologe kann an solchen Erscheinungen nicht achtlos vorübergehen.

Israel! Andere Völker werden auch von Missgeschicken heimgesucht, aber es kommt ihnen immer wieder eine ungetrübte Zeit. Jedem Kriege folgt ein Frieden. Nur das verstreute Israel wird irnmer besiegt und kommt nach den Niederlagen nicht zur Ruhe. Die materielle Sicherheit ist aber die Grundlage der moralischen Gesundheit, und darum wünschen wir mit aller Inbrunst, erstreben wir mit all unserer Kraft für unser Volk die materielle Sicherheit, die es nur auf seinem eigenen Boden finden kann. Und die moralische Gesundheit eines tatsächlich in der ganzen Welt verstreuten Volkselements ist von Wichtigkeit für die ganze Welt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften