Ergebnisse des Kongresses.

Wenn wir uns bemühen wollen, gerecht zu sein, gebührt unser erster, unser bester Dank den ehrlichen Gegnern, die sich durch den schönen Kongress von Basel von ihren bisherigen Irrtümern abbringen ließen und unumwunden eingestanden, daß sie eines Besseren belehrt sind. Wir dürfen nicht unbescheiden triumphieren, weil der Kongress unsere Vorhersagungen bestätigte. Freuen wir uns still, ohne dünkelhafte Rechthaberei, denn wir stehen erst am Anfange eines ungeheuren Werkes, und wer gestern gegen uns war und sich uns heute ergriffen anschließt, beweist damit eine edle Fähigkeit, sich zu begeistern, für die wir nicht genug erkenntlich sein können. Willkommen also die Neuen in unseren Reihen.

Schon haben wir die gestrigen Miseren und Anfeindungen vergessen. Der Kongress ist über die Erwartung gelungen, das ist die Hauptsache; daneben schrumpft alles andere zusammen. Auch die jetzt noch grollen und schmähen, werden eines Tages kommen müssen, und wenn vor nichts anderem, so doch endlich vor der Gewalt der Tatsachen sich beugen.


Was ist in Basel geschehen? War das eine Zusammenkunft von Schönrednern und Phantasten? Hat man sich dort an den eigenen Worten und unmöglichen Träumen berauscht? Ist man schließlich mit leeren Illusionen nach einer Versammlungskomödie auseinandergelaufen? Wir formulieren die Frage absichtlich so, daß unsere höhnischen Gegner nur zu bejahen brauchen. Mögen sie es tun. Wer in Basel war an diesen drei Tagen erwachender jüdischer Geschichte, wird das Kritteln der Hämischen mit Unmut abweisen. Es ist ja mancher hingekommen, der lachen wollte, und dem das Lachen verging, als die jüdische Nation, die arme, gequälte, aus vielen Wunden blutende, die Totgesagte, Totgeglaubte, cfie dennoch nicht sterben kann und will, plötzlich vor ihm aufstand, in der ganzen Majestät ihres Leidens und mit dem Glänze der Hoffnung in ihren Augen. Wir sind ein unglückliches Volk, aber ein Volk, ein Volk, das wurde in Basel von den Abgesandten vieler Hunderttausende aus der ganzen Welt bezeugt. Wer noch Lust hat, mag darüber spotten.

Man kann sich als Abkömmling des jüdischen Stammes von unserer Bewegung fernhalten; aber wir glauben nicht, daß sich einer den Beifall oder die Achtung von Nicht-Juden erwerben kann, der als Jude die Zionisten mit Kot bewirft. Wer auf diese Art beweisen will, was er für ein echter Marrane ist, dessen schmähliche Liebedienerei ist umsonst. Der eine Satz, welcher als Grundlage unserer Bewegung bisher formlos anerkannt war — die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen — ist nunmehr vom Kongress feierlich sanktioniert worden. Wir haben diesen Grundsatz als den Ausdruck unseres nationalen Willens dem Urteile der Welt unterbreitet und harren gelassen auf den Spruch, den sie fällen wird. Ist es noch fraglich, wie Menschen, die nicht völlig in Lieblosigkeit erstarrt sind, über einen so bescheidenen, so gerechten Wunsch urteilen werden? Wir haben ohne Gewinsel die Judennot vor aller Welt ausgebreitet und zugleich den Vorschlag gemacht, im allgemeinen Interesse eine Abhilfe aus unserer eigenen Kraft heraus zu schaffen. Sind wir in unserer Narretei sehr verbohrt, wenn wir annehmen, daß eine Sprache von solcher Offenheit die Teilnahme aller anständigen Menschen erregen muss?

Bisher war unsere Bewegung gleichsam im Ghetto geblieben, da hat sie freilich schon genug Missverständnisse und Kämpfe erregt. Nun ist sie ins Freie hinausgekommen und beschäftigt die öffentliche Meinung auf dem ganzen Erdenrund. Viele Hunderte von Zeitungen haben sie ihren Lesern in der eben vergangenen Woche mitgeteilt. Es gibt noch tote Stellen, wo man ratlos schweigt; auch das wird nicht mehr lange dauern. Wenn einmal die Glocken zu läuten anfangen, müssen alle Glocken läuten.

Es ist nun bekannt geworden, was der Zionismus ist und will. „Daß er etwas ist und daß er etwas will“ — wie wir vor Monaten in der „vorläufigen Anzeige“ sagten, die auf so viel Widerspruch stieß. Die Schilderung der Judenlage, die Fassung des Programmes, die Führung der Organisation und die Darstellung der bisherigen Kolonisationsversuche gewähren jedem, der sehen und hören will, ein deutliches Bild der zionistischen Bewegung. Sagen wir um ein Wort zu viel, wenn wir behaupten, daß es eine gesittete, gesetzliche und menschenfreundliche Bewegung ist? Sie vermag vielen, vielen zu nützen und keineswegs den Juden allein — und wem vermöchte sie zu schaden? Etwa denen, die schon assimiliert oder auf dem besten Weg zur Assimilierung sind? Welche Torheit! Denen erleichtert es geradezu den Übergang, sie sagen sich einfach von der Stammesgemeinschaft für immer los — „das Beißen ist überflüssig“.

Aber, wenn wir als eines der wichtigsten Ergebnisse des Kongresses das hinstellen dürfen, daß man fortab überall genau über das bisher entstellte oder verschwiegene Wesen des Zionismus unterrichtet ist, so dürfen wir darin doch nur ein erstes Ergebnis erblicken. Durch die ganze Anlage unserer Bewegung, die sich am hellen Tag unter aller Augen abspielt, sind wir auf das Wohlwollen, die Mithilfe der öffentlichen Meinung und der beteiligten Regierungen angewiesen. Wenn unser Bestreben, eine große und wachsende Schwierigkeit zu beseitigen, wirklich die Sympathien in dem Maße geweckt hat, wie wir es zu bemerken glauben, so muss man uns entschieden helfen. Das eingesetzte Komitee in Wien hat nebst der Vorbereitung des nächsten Kongresses die Aufgabe, sich der Zustimmung der offiziellen Kreise zu versichern. Es muss sich bald zeigen, ob man unsere gute Absicht versteht und würdigt. Wir können, wir werden nur arbeiten, wenn man uns bereitwillig hilft. Anderenfalls müßten wir uns damit begnügen, der öffentlichen Diskussion eine neue Grundlage gegeben zu haben, und müßten ruhig zuwarten, bis sich das Verständnis überall klärt. Wünschen die Regierungen eine Lösung der Judenfrage, die alle Teile befriedigt, so werden sie Gelegenheit haben, das durch ihr Entgegenkommen zu zeigen. Haben wir uns bisher von Exaltationen freigehalten, so liegt jetzt weniger als je ein Grund vor, die Bahn der Besonnenheit, der gesunden und ruhigen Arbeit zu verlassen. Wer wieder glaubt oder sagt, daß uns das Gelingen des Kongresses zu Torheiten verleiten werde, den werden wir wieder enttäuschen, wie wir auch bisher die Unheilsprophezeiungen unserer Gegner Lügen straften und ihre Ränke zu schänden machten. Der Zionismus hat bisher den Juden nicht geschadet, er wird ihnen auch weiterhin nicht schaden. Im Gegenteil. Gar manche, die den Namen unseres Stammes mit einem Tone der Verachtung auszusprechen gewohnt waren, sind von unserer Bewegung betroffen, vielleicht sogar schon beschämt. Ein wackerer Bürger von Basel, der auf der Galerie den Verhandlungen des Kongresses beigewohnt hatte, drückte das in einer naiven Weise aus. Er sagte beim Fortgehen zu einem unserer Leute, den er wohl auch nur für einen Zuschauer hielt: „So habe ich mir die Juden nicht vorgestellt.“ Es ist Reue und das Aufkeimen einer besseren Erkenntnis in diesem einfachen Wort. Von bösen Legenden umsponnen, von Anklagen entstellt, ist unser Bild in der Vorstellung der Völker. Hätte unser Kongress nichts anderes zu Wege gebracht, als daß man uns nicht mehr samt und sonders für beutegierige Schwindler hält, daß man dazu angeregt wird, jeden von uns nach seinen Werken zu messen, so wäre damit doch immerhin auch schon einiges gewonnen. Und wir haben auf dem Kongress des ferneren bewirkt, daß sich das Judentum aus der knienden Stellung, die es einigen Geldsäcken gegenüber einnahm, aufzurichten begonnen hat.

Von einzelnen in der Versammlung wurde ja sogar der Versuch gemacht, die Bewegung als eine sozialdemokratische hinzustellen. Das ist sie nicht, und der Vorsitzende durfte unter der Zustimmung der großen Mehrheit des Kongresses diesen Versuch zurückweisen. Der Zionismus umfaßt alle Parteien, und er kann weder eine politische noch eine religiöse Richtung bevorzugen, denn er stellt die Nation vor, die ganze Nation.

Das aber ist das größte Ergebnis des Kongresses: es hat sich gezeigt, daß der jüdische Nationalgedanke die einigende Kraft besitzt, alle sprachlich, sozial, politisch und religiös Verschiedenen zur einheitlichen Masse zusammenzuballen. Das wurde bisher am heftigsten geleugnet, und gerade das wurde in Basel am glänzendsten erwiesen. Parteigegensätze, die sonst überall, wo sie zusammenkommen, laut aufheulen, verstummten augenblicklich, beim ersten Appell an die Nation. Die Brüder haben sich gefunden.

Es war eine solche Weihe in diesen Tagen, daß es eine Versündigung an der Nation gewesen wäre, gewisse beklagenswerte Vorkommnisse in der bisherigen Kolonisationsarbeit öffentlich zu erörtern. In einem von der besten Absicht eingegebenen Werke ereignen sich Mißbräuche, die so ziemlich allen bekannt sind, nur denen nicht, deren Gutmütigkeit am schwersten mißbraucht wird. Man hat sich auf dem Kongresse damit begnügt, sie anzudeuten. Es konnte aus höheren Gründen nicht mehr getan werden; mögen die Armen, die ihre Beschwerden kaum zu seufzen wagen, doch die Beruhigung erhalten, daß man ihrer gedenkt und ihnen helfen will.

Das Schmerzenskind der Kolonisation soll fürderhin anders gepflegt werden, das war ein deutlich ausgesprochener Wunsch des Kongresses. Da sich der Zionsgedanke nun vor aller Welt ausgesprochen hat, kann ohnehin nicht mehr vom Einschmuggeln von Kolonisten die Rede sein. Die sogenannte Infiltration muss zum Stillstand gebracht werden, bis die vom Kongress einstimmig verlangten öffentlich-rechtlichen Garantien geschaffen sind. Das bisher Eingerichtete soll erhalten und gepflegt werden, die bestehenden Kolonien aber nicht mehr von außen her, sondern aus der in Palästina befindlichen proletarischen Bevölkerung alimentiert werden. Dadurch entfällt für die türkische Regierung jede Veranlassung, die Einwanderung zu erschweren, denn bis auf weiteres soll es keine Einwanderung mehr geben. Erkennt die Regierung Sr. Majestät des Sultans, welche Ressourcen durch das jüdische Volk eröffnet werden können, so wird sie das Ihrige dazu tun. Das muss abgewartet werden. Wir aber werden den unsterblichen Gedanken unseres Volkes mit alter Treue auch fernerhin in unserem Gemüte hegen. Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften