Dr. Güdemanns „National-Judentum“
Der Oberrabbiner von Wien, Herr Dr. Güdemann, hat sich die Mühe genommen, eine Broschüre über den Zionismus zu schreiben; genauer: gegen den Zionismus. Niemand erkennt so bereitwillig wie ich die Kompetenz Sr. Ehrwürden an, zu dieser Frage das Wort zu ergreifen. Er kennt sie gut. Er wusste wenigstens bis zu einer gewissen Zeit alles, was in unserer Bewegung vorging. Und es wird vielleicht manchen interessieren, jetzt zu hören, daß ich meine Schrift: „Der Judenstaat“ in den Bürstenabzügen Sr. Ehrwürden vorlegte. Ich wusste, daß ich mit dieser Publikation etwas Folgenschweres unternahm, und wollte nicht leichtfertig ein Buch in die Welt hinausschicken, das in der besten Absicht, meinen Stammesbrüdern zu nützen, verfaßt worden war, und durch außerhalb meines Willens befindliche Umstände dem Judentum vielleicht schaden konnte. Darum nahm ich Fühlung mit einigen Männern, die ich für ernst und besonnen halten durfte, und zu diesen gehörte auch Herr Dr. Güdemann. Ich hatte mit ihm schon von Paris aus einen Briefwechsel über die Judenfrage und später häufig mündlichen Gedankenaustausch unterhalten. Herr Dr. Güdemann kannte meine Schrift „avant la lettre“ und als er mir am 2. Februar 1896 nach Durchsicht der Bürstenabzüge schrieb: „Ich habe alles gelesen und finde nichts zu monieren“, war dies eine Beruhigung für mein Gewissen. Ich zitiere nur das eine Wort aus seinen Briefen, die recht viel Begeisterung für die Sache und freundliche Urteile über meine Absicht enthalten.
Mit dieser Erinnerung will ich keineswegs das Recht Sr. Ehrwürden bestreiten, seine Ansichten zu ändern. Dieses besitzt jeder. Auch hat jeder das Recht zu irren. Herr Dr. Güdemann hatte es damals, er hat es auch jetzt. Ich wage nicht zu entscheiden, wann er davon größeren Gebrauch machte. Wir glauben ja nicht an die Unfehlbarkeit von Menschen. Es genügt, wenn wir das Gerechte wollen, und das setze ich bei meinem verehrten Gegner voraus. Bin ich zum Streit nicht legitimiert? Mir scheint, ja. Der Zionismus, dem ich nach meinen Kräften diene, ist von Herrn Dr. Güdemann vehement angegriffen worden. Zwar bewegt sich der Angreifer in vagen Unpersönlichkeiten, aber jeder weiß, was und wen der Verfasser des „Nationaljudentums“ meint. Auch hat es hier in der „Österreichischen Wochenschrift“ der Herr, welcher die Ankündigung der Güdemannschen Schrift besorgte, ausdrücklich gesagt: „Das Büchlein ist in seinen drei ersten Abschnitten der Vergangenheit gewidmet, im vierten der Zukunft zugewendet. Die erste Gruppe könnte betitelt sein: Israel als der natürliche Feind der Nationalitätsidee, die zweite geradezu: Dr. Güdemann contra Dr. Herzl.“
Diese Angabe ist ganz richtig. Herr Dr. Güdemann ist nun freilich nicht der erste Oberrabbiner, der sich öffentlich gegen das Nationaljudentum erklärt. Der ehrenwerte Chief-Rabbi von London ist ihm schon vor einigen Monaten zuvorgekommen. Nämlich der eine Chief-Rabbi Dr. Adler — ein aus Deutschland nach England gekommener Mann, der gewiss von den Angelsachsen abzustammen wünscht —, während der andere Chief-Rabbi Dr. Gaster sich ebenso bestimmt für den Zionismus aussprach. Die Sache ist kontrovers.
Nun bin ich wohl ein wenig erstaunt, aber durchaus nicht entrüstet über den Angriff, mit dem Herr Dr. Güdemann unsere Sache beehrt. Es ist eine wahre Freude, einen solchen Gegner zu haben, der niemandem zu Gefallen redet oder schweigt. Der Herr Oberrabbiner befindet sich in einer so unabhängigen Position, daß der Gedanke ausgeschlossen ist, er führe etwa wie mancher andere die Sache der Reichen gegen die Armen. Nur innere Gründe können ihn zu seinem Auftreten bestimmt haben. Aber wenn wir dies auch achtungsvoll konstatieren, so müssen wir doch bedauern, daß er die stärksten Gründe seiner jetzigen Auffassung verschwiegen hat. Die Gründe, welche er in seiner Schrift anführt, sind schwach.
Man liest nicht lange, so stößt man schon auf einen befremdlichen Widerspruch. Gleich am Anfang (S. 4) sagt der Verfasser, dessen Autorität in diesem Punkte niemand anzweifeln wird, daß „die jüdische Religion mit den jeweiligen politischen Verhältnissen nie etwas zu tun hatte“. Diese Feststellung hat er jedoch schon auf der nächsten Seite (S. 5) vergessen und schreibt: „Aber über dem Streite, den die Parteien um das zukünftige Schicksal der Juden führen, ist die jüdische Religion fast ganz übersehen worden. Ihr Votum sollte aber in allen jüdischen Fragen, also auch hier, nicht bloß zuerst gehört werden, sondern auch ausschlaggebend sein.“
Nun ist, wie Dr. Güdemann inzwischen selbst richtig angegeben hat, der Zionismus aus politischen Verhältnissen entstanden und strebt danach, für die Juden andere politische Verhältnisse zu schaffen. Die jüdisch-nationale Bewegung ist politisch durch und durch. Also entweder — oder! Entweder die jüdische Religion hat mit politischen Verhältnissen nie etwas zu tun — oder ihr Votum sollte zuerst gehört werden. Daß sie aber gleichzeitig nichts damit zu tun haben und ausschlaggebend sein soll, halte ich für schwer vereinbar.
Nehmen wir nun einen Augenblick an, die zweite Behauptung wäre richtig. Die Religion soll ausschlaggebend sein. Was heißt das? Das hieße die ganze Sache dem Streite der Theologen ausliefern, und diese verehrten Herren sind zu gelehrt, um sich jemals einigen zu können. Der eine Chief-Rabbi sagt nein, der andere Chief-Rabbi sagt ja, von den Rabbinern ganz zu schweigen, die sowohl ja als auch nein sagen. Wohl führt Herr Dr. Güdemann eine Reihe von Zitaten in Schlachtordnung gegen den Zionismus auf, aber ich vermute, daß sich mindestens ebenso viele für den Zionismus würden finden lassen. Ich bin freilich zu unwissend, um sie zu Hefern. Herr Dr. Güdemann vermöchte es; er vermochte es wenigstens am 2. Februar 1896, denn er hatte ja damals „nichts zu monieren“. Doch da finde ich in einem vor kurzem erschienenen Schriftchen des gelehrten Kaufmannes Ahron Marcus von Podgorze eine Stelle, die uns hilft:
„Die Kolonisationsbewegung ist vor mehr als 50 Jahren in streng frommen Kreisen durch die angesehensten Rabbiner ins Leben gerufen worden, mit der ausgesprochenen Tendenz der Staatbildung. Das Werk Chiwat-Zion enthält über hundert zustimmende Gutachten unserer größten Rabbiner.“ — Wie vermag Herr Dr. Güdemann dieser Tatsache gegenüber seinen Ausspruch (S. 40) zu rechtfertigen: „Aber niemals ist von irgendeiner berufenen Seite an die Gesamtheit der Juden der Aufruf zu einem sozusagen unblutigen Kreuzzug, zur Wiedergewinnung ihrer nationalen Selbständigkeit ergangen“?
Und derselbe Ahron Marcus sagt an einer anderen Stelle, daß „die orthodoxesten Juden mit Bereitwilligkeit die Vorschläge zur staatlichen Regenerierung des Judentums annehmen, welche von den modernsten Freidenkern gemacht werden“. Dieser Ahron Marcus in Podgorze muss es wissen; er ist selbst ein „Chossid“, freilich dabei ein hochgelehrter und geistreicher Schriftsteller, der ein merkwürdiges Buch über die neuere Philosophie verfasst hat. In seinem bürgerlichen Verhältnis aber ist er ein Kaufmann. „Er lebt nicht vom Judentum,“ wie unser Freund Leon Kellner sagt, „sondern für das Judentum.“
Daß die konsequenten Freidenker im Zionismus mit den konsequenten Orthodoxen Hand in Hand gehen können, wird nur derjenige nicht verstehen, der nicht weiß, was der Zionismus ist. Der Zionismus umfaßt alle Söhne der jüdischen Nation. Einer der Grundsätze unseres Zionismus ist die volle Gewissensfreiheit. Diejenigen, deren Überzeugung ohne Bruch ist, die ihre Gesinnung ohne Rücksicht auf Freund oder Feind äußern, achten einander im Zionismus mit einer großen Herzlichkeit. Wir lassen jeden nach seiner Fasson selig werden. Und insbesondere wir Freidenker bewundern die Orthodoxie sehr, die unter namenlosen «Leiden die Religion der Juden konserviert hat, ohne ausweichenden Opportunismus, ohne Gefälligkeit für die Mächtigen und Reichen, starr, treu, unbeugsam.
Aber ist das nicht eine petitio principii, wenn ich sage, daß der Zionismus alle Söhne der jüdischen Nation umfasse? Die Nation wäre doch erst zu beweisen. Auf diesen Punkt wirft sich Herr Dr. Güdemann mit voller Wucht. Ich will die Tatsache, daß die Juden ein Volk sind, mit seinen Worten beweisen, und nachher mit meinen. Er sagt (S. 7): „Daß die Juden, oder wie sie ursprünglich hießen, aber auch jetzt noch mit gutem Rechte genannt werden, die Israeliten, einst ein Volk gewesen sind, ist eine geschichtliche Tatsache.“ Da hat er schon wieder vergessen, was er den Zionisten zwei Seiten früher vorwarf. Dort (S. 5) meint er, „daß eine Behandlung des Judentums nach Maßgabe des Augenblicksbedarfes unwissenschaftlich ist“.
Wobei bleibt es also? Gehen wir von einer geschichtlichen Tatsache aus oder „behandeln wir nach Maßgabe des Augenblicksbedarfs“?
Ferner sagt Se. Ehrwürden (S. 7):
„Untersuchen wir jedoch, wie bei ihnen (den Juden) dasjenige, was eine Vielheit von Menschen zu einem Volke macht, sagen wir die Volksseele oder der nationale Geist, sich äußert, inwiefern sie hierin anderen Völkern gleichen und hinwiederum sich von ihnen unterscheiden! Von der Seßhaftmachung in Palästina bis zur zweiten Zerstörung Jerusalems, also während des ganzen Bestandes des israelitischjüdischen Volkes, treten in ihm alle jene Erscheinungen hervor, denen wir auch bei anderen Völkern begegnen und auf welchen das Volksbewußtsein beruht: Einheitlichkeit des Vaterlandes, der Sprache, Religion, Rechtspflege und Sitte.“
Beruht wirklich das Volksbewußtsein nur auf diesen Einheitlichkeiten, wie er meint? Es beruht nicht auf der Einheitlichkeit des Vaterlandes, das zeigen die in der Welt versprengten Teile anderer Völker und in größerem Maßstab die Kolonien. Denn alle Völker leben heute gewissermaßen in der Diaspora; nur unser privilegium odiosum ist es, daß wir überall Kolonisten ohne Mutterland sind. Wir haben Vaterländer, das sind die, wo wir Staatsbürger sind — soweit man es eben gestattet — aber wir haben kein Mutterland. Und dieses Mutterland sucht der Zionismus mit der Seele.
Aber weiter. Das Volksbewußtsein beruht auch nicht auf der Einheitlichkeit der Sprache, Beweis Österreich oder die Schweiz. Nicht auf der Einheitlichkeit der Religion, Beweis alle Kulturstaaten. Nicht auf der Einheitlichkeit der Rechtspflege, Beweis Deutschknd vor der Einigung. Nicht auf der Einheitlichkeit der Sitte, Beweis jedes Land, in dem es Klassenunterschiede gibt. Das Volksbewußtsein beruht überhaupt nicht auf diesen Erscheinungen, sondern es bringt sie hervor, nachdem es schon sehr stark geworden ist. Worauf beruht also das Volksbewußtsein, das Herr Dr. Güdemann nicht erklären kann?
Es beruht auf der Erkenntnis einer Anzahl von Menschen, daß sie durch geschichtliche Umstände zusammengehören und in der Gegenwart aufeinander angewiesen sind, wenn sie nicht zugrunde gehen sollen. Wie die Nützlichkeit solchen Zusammenhaltens allmählich von höheren Ideen durchsetzt und von Gemeinem gereinigt wird, das wäre ein schöner Gegenstand für Untersuchungen, es würde uns aber jetzt zu weit führen. Jedenfalls läßt sich das alles ohne esoterische Wichtigtuerei und mit einfachen Worten sagen, weil es eine einfache Sache ist und von den einfachsten Herzen leicht verstanden wird.
Wir sind eine Nation. Wer befindet sich im Widerspruch mit der Geschichte? Die es leugnen oder die es behaupten? Meine Definition der Nation habe ich wiederholt gegeben: Die Nation ist eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehören und durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten werden.
Übrigens gibt Herr Dr. Güdemann (S. 13) selbst zu, daß jedes Volk durch den Feind entsteht. Es gehört zu den Reizen seiner Darstellung, daß er sich häufig widerspricht. Meint er, daß wir nicht mehr ein Volk sein dürfen, obwohl oder weil wir geschichtlich eines waren? Wir könnten ihm sagen, daß wir selbst ohne jenes alte Band das unverjährbare Recht hätten, ein neues Band zu schaffen. Ich nehme sein Wort von Seite 13: „Die Kriegsfackel entflammte die nationale Begeisterung, an ihrem Feuer wurde das Band geschmiedet, welches die Massen einigte und zu einer Nation machte.“
Tatsächlich aber ist jenes Band aus alter Zeit noch vorhanden, das weiß jeder Jude, und der Herr Oberrabbiner wüßte es nicht? O, er beruft sich auch auf das Gemeinsame, soweit es ihm paßt. Er spricht von unseren gemeinsamen Aufgaben und gemeinsamen Zielen, von unserer „Mission“. Diese Mission! Darunter hat man nichts der Arbeit jener armen Mönche ähnliches zu verstehen, die zu Menschenfressern in wilde Weltteile hinausgehen, um sie zum Christentum zu bekehren. Das Judentum will keine Proselyten machen, das weiß ich bestimmt; ich habe es nämlich von Herrn Dr. Güdemann selbst gehört. Die jüdische „Mission“ ist etwas Sattes, Behagliches, Gutsituiertes. Seit Jahr und Tag sehe ich mir die Leute an, die mir diese „Mission“ zur Antwort geben, wenn ich von der wachsenden Not unserer Armen rede. Diese Missionäre befinden sich alle vortrefflich. Herr Dr. Güdemann sagt aber gegen die Nationaljuden mit überlegener Ironie: „es kann dabei geschehen, daß über die Absicht, den Juden zu helfen, das Judentum zugrunde gehe“.
Welches Judentum? Das, welches er heute vertritt, oder das, welches er im Februar 1896 vertrat. Es scheint, er schützt die Religion vor der Nation. Aber wer schützt die Religion vor dem Herrn Oberrabbiner? Was er S. 40 und 41 sagt, gehört zu den schwersten Selbstbeschuldigungen, die nur darum nicht alle Rabbiner treffen, weil eben nicht alle Rabbiner seiner Ansicht sind. Er sagt: „Zion galt und gilt den Juden als das Symbol ihrer eigenen, aber auch der die ganze Menschheit umfassenden Zukunft. In diesem nichts weniger als nationalen Sinne ist auch die Bitte um Rückkehr nach Zion in unseren Gebeten zu verstehen, in welchen sie demnach einen rechtmäßigen Platz behauptet.“
So! Also, wenn man um die Rückkehr nach Zion betet, so ist darunter das Gegenteil zu verstehen? Die Worte des Gebetes haben also nicht den Sinn, den die Gemeinde, treu am Worte hängend, mit ihnen verbindet? Und in dem Augenblicke, wo die Beschaffenheit der Weltverhältnisse, der nach der Emanzipation eingetretene, also endgültige Antisemitismus, das wiedererwachende Natfonaljudentum, die Lage im Orient und die technischen Errungenschaften zusammenwirken, um die Rückkehr nach Zion zu einer nahen Möglichkeit zu machen — in diesem Augenblick sagt ein Oberrabbiner: „Macht euch nichts daraus — es war nur ein „Symbol“!
Und da will Se. Hochwürden uns noch über den „wahren Zionismus“ belehren? „Denn der wahre Zionismus ist von der Zukunft der Menschheit nicht zu trennen“ (Seite 40). Jawohl, das wissen wir, und so ist unser Zionismus mit seinen sozialen Reformen (Siebenstundentag usw.), mit seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zu den Ärmsten unter den Verstoßenen auch gemeint.
Ich versage es mir, heute noch mehr zu antworten. Im Grunde bedaure ich es, daß Herr Dr. Güdemann mich zu einer Polemik gezwungen hat, in der ich ihn nicht ganz so schonen konnte, wie ich es gern gewollt hätte, weil es ein älterer Mann ist und weil wir früher freundschaftlich verkehrten. Ich glaube, er hat sich gutmütig missbrauchen lassen von Hintermännern, deren Stunde schlagen wird. Diese Leute haben die Mäßigung mißverstanden, deren sich der Zionismus bisher befliß und auch weiter befleißigen wird, wenn man ihn nicht erbittert und durch Perfidien vergiftet. Diese Leute, von denen man fortwährend hört, bald durch den Skandal ihrer Mätressen, bald durch den Triumph ihrer Rennpferde, bald durch die Börsenmanöver, mit denen sie den Mittelstand der Börse zu Proletariern machen, bald durch die Korruption, die sie um sich her wie einen Pesthauch verbreiten; diese Leute, die man überall sieht, nur nicht, wo die armen Juden in einem schweren Kampfe stehen, diese Leute mögen sich in acht nehmen, daß nicht in ihrem Rücken eine zweite Volksbewegung gegen sie aufstehe, numerisch schwächer, aber gerade darum verzweifelter als die erste. Ah ja, es gibt sogenannte „Wohltäter“ unter ihnen; das heißt, sie züchten Schnorrer. Das heißt, sie schaden dem jüdischen Volke auch noch durch milde Gaben aus denjenigen Vermögen, die mitunter auf kompromittierende Art entstanden sind. Ah ja, die Herren sind auch geschickt genug, sich persönlich vom Antisemitismus loszukaufen: durch Gefälligkeiten, Geld und Opfer an Überzeugung — die letzteren kosten sie am wenigsten. Aber mit den Zionisten gibt es nur ein Arrangement, und das ist Zion.
„Wenn man denjenigen Juden, welchen in ihrer bisherigen Heimat der Kampf ums Dasein allzusehr erschwert wird, Gelegenheit bietet, sich anderwärts anzusiedeln, so ist dies in hohem Grade löblich und verdienstlich.“ Wer sagt das? Derselbe Herr Dr. Güdemann auf Seite 39 seiner vorliegenden Schrift. Man findet bei ihm alles. Daß unser Zionismus diese Ansiedler mit genügendem internationalen und staatsrechtlichen Schutz ausrüsten will, ist doch nicht unvernünftig! Schon die bisherigen Versuche haben gezeigt, daß der Boden in Palästina gut und das „Menschenmaterial“ vortrefflich ist. Und gerade die bäuerlichen Existenzformen sind am schwersten herzustellen. Was dem Baron Hirsch in Argentinien nicht gelang, das gelingt in Palästina. Warum? Weil „Nationaljudentum“ den alten Boden düngt. Es erscheint wunderbar. Alles Natürliche ist wunderbar. Und es wird rasch und hoch zugehen, wenn die Nation ganz wach ist, die wir Zionisten aufrütteln. Da sieht sie ihr altes Land am Mittelmeer herrlich gelegen, mit kaltem, gemäßigtem und warmem Klima; ein Land, aller Kulturen fähig, mit langruhenden Bodenschätzen und doch für andere nichts wert, weil andere nicht die befruchtenden Menschenströme hinzuleiten vermögen, die dem Zionismus gehorchen. Und wenn wir nun nicht verzückt oder verlogen in die Wolken starren, sondern ruhigen Blickes nach jenem Punkte hindeuten, der wirklich die Erlösung bedeutet, so bedarf das keiner geheimen Auslegungskünste. Dort ist das Zion der Armen, der Jungen und auch der Frommen.
Mit dieser Erinnerung will ich keineswegs das Recht Sr. Ehrwürden bestreiten, seine Ansichten zu ändern. Dieses besitzt jeder. Auch hat jeder das Recht zu irren. Herr Dr. Güdemann hatte es damals, er hat es auch jetzt. Ich wage nicht zu entscheiden, wann er davon größeren Gebrauch machte. Wir glauben ja nicht an die Unfehlbarkeit von Menschen. Es genügt, wenn wir das Gerechte wollen, und das setze ich bei meinem verehrten Gegner voraus. Bin ich zum Streit nicht legitimiert? Mir scheint, ja. Der Zionismus, dem ich nach meinen Kräften diene, ist von Herrn Dr. Güdemann vehement angegriffen worden. Zwar bewegt sich der Angreifer in vagen Unpersönlichkeiten, aber jeder weiß, was und wen der Verfasser des „Nationaljudentums“ meint. Auch hat es hier in der „Österreichischen Wochenschrift“ der Herr, welcher die Ankündigung der Güdemannschen Schrift besorgte, ausdrücklich gesagt: „Das Büchlein ist in seinen drei ersten Abschnitten der Vergangenheit gewidmet, im vierten der Zukunft zugewendet. Die erste Gruppe könnte betitelt sein: Israel als der natürliche Feind der Nationalitätsidee, die zweite geradezu: Dr. Güdemann contra Dr. Herzl.“
Diese Angabe ist ganz richtig. Herr Dr. Güdemann ist nun freilich nicht der erste Oberrabbiner, der sich öffentlich gegen das Nationaljudentum erklärt. Der ehrenwerte Chief-Rabbi von London ist ihm schon vor einigen Monaten zuvorgekommen. Nämlich der eine Chief-Rabbi Dr. Adler — ein aus Deutschland nach England gekommener Mann, der gewiss von den Angelsachsen abzustammen wünscht —, während der andere Chief-Rabbi Dr. Gaster sich ebenso bestimmt für den Zionismus aussprach. Die Sache ist kontrovers.
Nun bin ich wohl ein wenig erstaunt, aber durchaus nicht entrüstet über den Angriff, mit dem Herr Dr. Güdemann unsere Sache beehrt. Es ist eine wahre Freude, einen solchen Gegner zu haben, der niemandem zu Gefallen redet oder schweigt. Der Herr Oberrabbiner befindet sich in einer so unabhängigen Position, daß der Gedanke ausgeschlossen ist, er führe etwa wie mancher andere die Sache der Reichen gegen die Armen. Nur innere Gründe können ihn zu seinem Auftreten bestimmt haben. Aber wenn wir dies auch achtungsvoll konstatieren, so müssen wir doch bedauern, daß er die stärksten Gründe seiner jetzigen Auffassung verschwiegen hat. Die Gründe, welche er in seiner Schrift anführt, sind schwach.
Man liest nicht lange, so stößt man schon auf einen befremdlichen Widerspruch. Gleich am Anfang (S. 4) sagt der Verfasser, dessen Autorität in diesem Punkte niemand anzweifeln wird, daß „die jüdische Religion mit den jeweiligen politischen Verhältnissen nie etwas zu tun hatte“. Diese Feststellung hat er jedoch schon auf der nächsten Seite (S. 5) vergessen und schreibt: „Aber über dem Streite, den die Parteien um das zukünftige Schicksal der Juden führen, ist die jüdische Religion fast ganz übersehen worden. Ihr Votum sollte aber in allen jüdischen Fragen, also auch hier, nicht bloß zuerst gehört werden, sondern auch ausschlaggebend sein.“
Nun ist, wie Dr. Güdemann inzwischen selbst richtig angegeben hat, der Zionismus aus politischen Verhältnissen entstanden und strebt danach, für die Juden andere politische Verhältnisse zu schaffen. Die jüdisch-nationale Bewegung ist politisch durch und durch. Also entweder — oder! Entweder die jüdische Religion hat mit politischen Verhältnissen nie etwas zu tun — oder ihr Votum sollte zuerst gehört werden. Daß sie aber gleichzeitig nichts damit zu tun haben und ausschlaggebend sein soll, halte ich für schwer vereinbar.
Nehmen wir nun einen Augenblick an, die zweite Behauptung wäre richtig. Die Religion soll ausschlaggebend sein. Was heißt das? Das hieße die ganze Sache dem Streite der Theologen ausliefern, und diese verehrten Herren sind zu gelehrt, um sich jemals einigen zu können. Der eine Chief-Rabbi sagt nein, der andere Chief-Rabbi sagt ja, von den Rabbinern ganz zu schweigen, die sowohl ja als auch nein sagen. Wohl führt Herr Dr. Güdemann eine Reihe von Zitaten in Schlachtordnung gegen den Zionismus auf, aber ich vermute, daß sich mindestens ebenso viele für den Zionismus würden finden lassen. Ich bin freilich zu unwissend, um sie zu Hefern. Herr Dr. Güdemann vermöchte es; er vermochte es wenigstens am 2. Februar 1896, denn er hatte ja damals „nichts zu monieren“. Doch da finde ich in einem vor kurzem erschienenen Schriftchen des gelehrten Kaufmannes Ahron Marcus von Podgorze eine Stelle, die uns hilft:
„Die Kolonisationsbewegung ist vor mehr als 50 Jahren in streng frommen Kreisen durch die angesehensten Rabbiner ins Leben gerufen worden, mit der ausgesprochenen Tendenz der Staatbildung. Das Werk Chiwat-Zion enthält über hundert zustimmende Gutachten unserer größten Rabbiner.“ — Wie vermag Herr Dr. Güdemann dieser Tatsache gegenüber seinen Ausspruch (S. 40) zu rechtfertigen: „Aber niemals ist von irgendeiner berufenen Seite an die Gesamtheit der Juden der Aufruf zu einem sozusagen unblutigen Kreuzzug, zur Wiedergewinnung ihrer nationalen Selbständigkeit ergangen“?
Und derselbe Ahron Marcus sagt an einer anderen Stelle, daß „die orthodoxesten Juden mit Bereitwilligkeit die Vorschläge zur staatlichen Regenerierung des Judentums annehmen, welche von den modernsten Freidenkern gemacht werden“. Dieser Ahron Marcus in Podgorze muss es wissen; er ist selbst ein „Chossid“, freilich dabei ein hochgelehrter und geistreicher Schriftsteller, der ein merkwürdiges Buch über die neuere Philosophie verfasst hat. In seinem bürgerlichen Verhältnis aber ist er ein Kaufmann. „Er lebt nicht vom Judentum,“ wie unser Freund Leon Kellner sagt, „sondern für das Judentum.“
Daß die konsequenten Freidenker im Zionismus mit den konsequenten Orthodoxen Hand in Hand gehen können, wird nur derjenige nicht verstehen, der nicht weiß, was der Zionismus ist. Der Zionismus umfaßt alle Söhne der jüdischen Nation. Einer der Grundsätze unseres Zionismus ist die volle Gewissensfreiheit. Diejenigen, deren Überzeugung ohne Bruch ist, die ihre Gesinnung ohne Rücksicht auf Freund oder Feind äußern, achten einander im Zionismus mit einer großen Herzlichkeit. Wir lassen jeden nach seiner Fasson selig werden. Und insbesondere wir Freidenker bewundern die Orthodoxie sehr, die unter namenlosen «Leiden die Religion der Juden konserviert hat, ohne ausweichenden Opportunismus, ohne Gefälligkeit für die Mächtigen und Reichen, starr, treu, unbeugsam.
Aber ist das nicht eine petitio principii, wenn ich sage, daß der Zionismus alle Söhne der jüdischen Nation umfasse? Die Nation wäre doch erst zu beweisen. Auf diesen Punkt wirft sich Herr Dr. Güdemann mit voller Wucht. Ich will die Tatsache, daß die Juden ein Volk sind, mit seinen Worten beweisen, und nachher mit meinen. Er sagt (S. 7): „Daß die Juden, oder wie sie ursprünglich hießen, aber auch jetzt noch mit gutem Rechte genannt werden, die Israeliten, einst ein Volk gewesen sind, ist eine geschichtliche Tatsache.“ Da hat er schon wieder vergessen, was er den Zionisten zwei Seiten früher vorwarf. Dort (S. 5) meint er, „daß eine Behandlung des Judentums nach Maßgabe des Augenblicksbedarfes unwissenschaftlich ist“.
Wobei bleibt es also? Gehen wir von einer geschichtlichen Tatsache aus oder „behandeln wir nach Maßgabe des Augenblicksbedarfs“?
Ferner sagt Se. Ehrwürden (S. 7):
„Untersuchen wir jedoch, wie bei ihnen (den Juden) dasjenige, was eine Vielheit von Menschen zu einem Volke macht, sagen wir die Volksseele oder der nationale Geist, sich äußert, inwiefern sie hierin anderen Völkern gleichen und hinwiederum sich von ihnen unterscheiden! Von der Seßhaftmachung in Palästina bis zur zweiten Zerstörung Jerusalems, also während des ganzen Bestandes des israelitischjüdischen Volkes, treten in ihm alle jene Erscheinungen hervor, denen wir auch bei anderen Völkern begegnen und auf welchen das Volksbewußtsein beruht: Einheitlichkeit des Vaterlandes, der Sprache, Religion, Rechtspflege und Sitte.“
Beruht wirklich das Volksbewußtsein nur auf diesen Einheitlichkeiten, wie er meint? Es beruht nicht auf der Einheitlichkeit des Vaterlandes, das zeigen die in der Welt versprengten Teile anderer Völker und in größerem Maßstab die Kolonien. Denn alle Völker leben heute gewissermaßen in der Diaspora; nur unser privilegium odiosum ist es, daß wir überall Kolonisten ohne Mutterland sind. Wir haben Vaterländer, das sind die, wo wir Staatsbürger sind — soweit man es eben gestattet — aber wir haben kein Mutterland. Und dieses Mutterland sucht der Zionismus mit der Seele.
Aber weiter. Das Volksbewußtsein beruht auch nicht auf der Einheitlichkeit der Sprache, Beweis Österreich oder die Schweiz. Nicht auf der Einheitlichkeit der Religion, Beweis alle Kulturstaaten. Nicht auf der Einheitlichkeit der Rechtspflege, Beweis Deutschknd vor der Einigung. Nicht auf der Einheitlichkeit der Sitte, Beweis jedes Land, in dem es Klassenunterschiede gibt. Das Volksbewußtsein beruht überhaupt nicht auf diesen Erscheinungen, sondern es bringt sie hervor, nachdem es schon sehr stark geworden ist. Worauf beruht also das Volksbewußtsein, das Herr Dr. Güdemann nicht erklären kann?
Es beruht auf der Erkenntnis einer Anzahl von Menschen, daß sie durch geschichtliche Umstände zusammengehören und in der Gegenwart aufeinander angewiesen sind, wenn sie nicht zugrunde gehen sollen. Wie die Nützlichkeit solchen Zusammenhaltens allmählich von höheren Ideen durchsetzt und von Gemeinem gereinigt wird, das wäre ein schöner Gegenstand für Untersuchungen, es würde uns aber jetzt zu weit führen. Jedenfalls läßt sich das alles ohne esoterische Wichtigtuerei und mit einfachen Worten sagen, weil es eine einfache Sache ist und von den einfachsten Herzen leicht verstanden wird.
Wir sind eine Nation. Wer befindet sich im Widerspruch mit der Geschichte? Die es leugnen oder die es behaupten? Meine Definition der Nation habe ich wiederholt gegeben: Die Nation ist eine historische Gruppe von Menschen, die erkennbar zusammengehören und durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten werden.
Übrigens gibt Herr Dr. Güdemann (S. 13) selbst zu, daß jedes Volk durch den Feind entsteht. Es gehört zu den Reizen seiner Darstellung, daß er sich häufig widerspricht. Meint er, daß wir nicht mehr ein Volk sein dürfen, obwohl oder weil wir geschichtlich eines waren? Wir könnten ihm sagen, daß wir selbst ohne jenes alte Band das unverjährbare Recht hätten, ein neues Band zu schaffen. Ich nehme sein Wort von Seite 13: „Die Kriegsfackel entflammte die nationale Begeisterung, an ihrem Feuer wurde das Band geschmiedet, welches die Massen einigte und zu einer Nation machte.“
Tatsächlich aber ist jenes Band aus alter Zeit noch vorhanden, das weiß jeder Jude, und der Herr Oberrabbiner wüßte es nicht? O, er beruft sich auch auf das Gemeinsame, soweit es ihm paßt. Er spricht von unseren gemeinsamen Aufgaben und gemeinsamen Zielen, von unserer „Mission“. Diese Mission! Darunter hat man nichts der Arbeit jener armen Mönche ähnliches zu verstehen, die zu Menschenfressern in wilde Weltteile hinausgehen, um sie zum Christentum zu bekehren. Das Judentum will keine Proselyten machen, das weiß ich bestimmt; ich habe es nämlich von Herrn Dr. Güdemann selbst gehört. Die jüdische „Mission“ ist etwas Sattes, Behagliches, Gutsituiertes. Seit Jahr und Tag sehe ich mir die Leute an, die mir diese „Mission“ zur Antwort geben, wenn ich von der wachsenden Not unserer Armen rede. Diese Missionäre befinden sich alle vortrefflich. Herr Dr. Güdemann sagt aber gegen die Nationaljuden mit überlegener Ironie: „es kann dabei geschehen, daß über die Absicht, den Juden zu helfen, das Judentum zugrunde gehe“.
Welches Judentum? Das, welches er heute vertritt, oder das, welches er im Februar 1896 vertrat. Es scheint, er schützt die Religion vor der Nation. Aber wer schützt die Religion vor dem Herrn Oberrabbiner? Was er S. 40 und 41 sagt, gehört zu den schwersten Selbstbeschuldigungen, die nur darum nicht alle Rabbiner treffen, weil eben nicht alle Rabbiner seiner Ansicht sind. Er sagt: „Zion galt und gilt den Juden als das Symbol ihrer eigenen, aber auch der die ganze Menschheit umfassenden Zukunft. In diesem nichts weniger als nationalen Sinne ist auch die Bitte um Rückkehr nach Zion in unseren Gebeten zu verstehen, in welchen sie demnach einen rechtmäßigen Platz behauptet.“
So! Also, wenn man um die Rückkehr nach Zion betet, so ist darunter das Gegenteil zu verstehen? Die Worte des Gebetes haben also nicht den Sinn, den die Gemeinde, treu am Worte hängend, mit ihnen verbindet? Und in dem Augenblicke, wo die Beschaffenheit der Weltverhältnisse, der nach der Emanzipation eingetretene, also endgültige Antisemitismus, das wiedererwachende Natfonaljudentum, die Lage im Orient und die technischen Errungenschaften zusammenwirken, um die Rückkehr nach Zion zu einer nahen Möglichkeit zu machen — in diesem Augenblick sagt ein Oberrabbiner: „Macht euch nichts daraus — es war nur ein „Symbol“!
Und da will Se. Hochwürden uns noch über den „wahren Zionismus“ belehren? „Denn der wahre Zionismus ist von der Zukunft der Menschheit nicht zu trennen“ (Seite 40). Jawohl, das wissen wir, und so ist unser Zionismus mit seinen sozialen Reformen (Siebenstundentag usw.), mit seiner Duldsamkeit und seiner Liebe zu den Ärmsten unter den Verstoßenen auch gemeint.
Ich versage es mir, heute noch mehr zu antworten. Im Grunde bedaure ich es, daß Herr Dr. Güdemann mich zu einer Polemik gezwungen hat, in der ich ihn nicht ganz so schonen konnte, wie ich es gern gewollt hätte, weil es ein älterer Mann ist und weil wir früher freundschaftlich verkehrten. Ich glaube, er hat sich gutmütig missbrauchen lassen von Hintermännern, deren Stunde schlagen wird. Diese Leute haben die Mäßigung mißverstanden, deren sich der Zionismus bisher befliß und auch weiter befleißigen wird, wenn man ihn nicht erbittert und durch Perfidien vergiftet. Diese Leute, von denen man fortwährend hört, bald durch den Skandal ihrer Mätressen, bald durch den Triumph ihrer Rennpferde, bald durch die Börsenmanöver, mit denen sie den Mittelstand der Börse zu Proletariern machen, bald durch die Korruption, die sie um sich her wie einen Pesthauch verbreiten; diese Leute, die man überall sieht, nur nicht, wo die armen Juden in einem schweren Kampfe stehen, diese Leute mögen sich in acht nehmen, daß nicht in ihrem Rücken eine zweite Volksbewegung gegen sie aufstehe, numerisch schwächer, aber gerade darum verzweifelter als die erste. Ah ja, es gibt sogenannte „Wohltäter“ unter ihnen; das heißt, sie züchten Schnorrer. Das heißt, sie schaden dem jüdischen Volke auch noch durch milde Gaben aus denjenigen Vermögen, die mitunter auf kompromittierende Art entstanden sind. Ah ja, die Herren sind auch geschickt genug, sich persönlich vom Antisemitismus loszukaufen: durch Gefälligkeiten, Geld und Opfer an Überzeugung — die letzteren kosten sie am wenigsten. Aber mit den Zionisten gibt es nur ein Arrangement, und das ist Zion.
„Wenn man denjenigen Juden, welchen in ihrer bisherigen Heimat der Kampf ums Dasein allzusehr erschwert wird, Gelegenheit bietet, sich anderwärts anzusiedeln, so ist dies in hohem Grade löblich und verdienstlich.“ Wer sagt das? Derselbe Herr Dr. Güdemann auf Seite 39 seiner vorliegenden Schrift. Man findet bei ihm alles. Daß unser Zionismus diese Ansiedler mit genügendem internationalen und staatsrechtlichen Schutz ausrüsten will, ist doch nicht unvernünftig! Schon die bisherigen Versuche haben gezeigt, daß der Boden in Palästina gut und das „Menschenmaterial“ vortrefflich ist. Und gerade die bäuerlichen Existenzformen sind am schwersten herzustellen. Was dem Baron Hirsch in Argentinien nicht gelang, das gelingt in Palästina. Warum? Weil „Nationaljudentum“ den alten Boden düngt. Es erscheint wunderbar. Alles Natürliche ist wunderbar. Und es wird rasch und hoch zugehen, wenn die Nation ganz wach ist, die wir Zionisten aufrütteln. Da sieht sie ihr altes Land am Mittelmeer herrlich gelegen, mit kaltem, gemäßigtem und warmem Klima; ein Land, aller Kulturen fähig, mit langruhenden Bodenschätzen und doch für andere nichts wert, weil andere nicht die befruchtenden Menschenströme hinzuleiten vermögen, die dem Zionismus gehorchen. Und wenn wir nun nicht verzückt oder verlogen in die Wolken starren, sondern ruhigen Blickes nach jenem Punkte hindeuten, der wirklich die Erlösung bedeutet, so bedarf das keiner geheimen Auslegungskünste. Dort ist das Zion der Armen, der Jungen und auch der Frommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften