Die entschwundenen Zeiten.
Wenn wir Zionisten mit tief bekümmertem Herzen auf den jüdischen Notstand in manchem Lande hinweisen und die Vernunft und das Gewissen der glücklicheren Juden wachzurütteln versuchen, pflegt man uns der Schwarzmalerei zu beschuldigen. So arg sei es wirklich nicht, wir übertreiben die Miseren, wir sähen nur das, was uns in den Kram unserer Politik passe — und was der billigen Worte mehr sind. Wir wollen gar nicht untersuchen, wer die Leute sind, die uns dergleichen entgegenhalten; um welche Bequemlichkeiten sie besorgt sind, welches Geschäftchen sie machen oder welches Stellchen sie erreichen wellen. Im Zionismus haben sich um das Schicksal ihrer Stammesgenossen ernstlich besorgte Männer zusammengefunden, sie möchten die langersehnte, täglich nötiger werdende Hilfe herbeiführen und gehen gelassen über die Missverständnisse hinweg, mit denen man sie töricht oder böswillig umgibt. Höchstens haben wir in der letzten Zeit in Österreich die Bemerkungen ein wenig zurückgehalten, die sich von Tag zu Tag aufdrängten. Hier haben die Juden in einer geradezu unbegreiflichen Weise an den politischen Zwistigkeiten der Nationalitäten teilgenommen, insbesondere im Lande Böhmen. Mit einer Kurzsichtigkeit, die eigentlich weniger Zorn als Mitleid verdient, glaubten sie sich bei den kämpfenden Volksstämmen eine dauernde Anerkennung erwerben zu können, wenn sie sich in der Schlacht exponierten. Wir waren und sind nun allerdings der Ansicht, daß den Assimilanten nur dann Achtung gebühre, wenn sie auch an den Gefahren des Volkes, dem sie sich anschließen, ihr redliches Teil haben wollen. Aber es ist betrübend: die Juden werden selbst in solchen Fällen, wenn es hoch kommt, von ihren Mitkämpfern lediglich als eine Art Fremdenlegion geringschätzig angesehen. An den Siegesfeiern dürfen sie nicht als Vollberechtigte teilnehmen, und die Niederlagen läßt man an ihnen aus, so hüben wie drüben. Sie sind, wie es auch ausgehe, die Geschlagenen.
Wir haben vor einigen Wochen an dieser Stelle die Lage der böhmischen Juden besprochen. Es hat nicht viel Scharfsinn dazu gehört, die Entwicklung der Dinge so vorherzusagen, wie sie nun tatsächlich eingetroffen ist. Man musste vielmehr mit Blindheit geschlagen sein, wenn man etwas anderes erwartete. So wollen wir denn unsere damalige Prophezeiung, daß die sogenannte Schonzeit ein Ende mit Schrecken nehmen würde, nicht höher bewerten, als ziemlich ist. Nur daß es so bald wahr wurde, erfüllt uns — mit Kummer. Jawohl, wir sind so schlechte Politiker, daß wir keine Genugtuung empfinden über Ereignisse, die uns Recht geben und die Zahl unserer Genossen unzweifelhaft vermehren müssen. Den endlichen Sieg unserer Idee möchten wir nicht in demolierten Tempeln gefeiert sehen, und wenn ein Jude, der bisher unserer Bewegung ferngestanden, zugrunde gerichtet wird, so tröstet es uns über sein Missgeschick nicht, daß er nunmehr ein gehörig überzeugter Zionsfreund ist. Warum ist es doch so schwer, so unmöglich beinahe, die Gründe einer natürlichen Vernunft bei den Menschen zur Geltung zu bringen? Sie wollen nicht hören; sie müssen durchaus fühlen.
An und für sich unterscheiden sich die Judenexzesse in Böhmen kaum merkbar von denen in Persien, Russland und Rumänien. Und wir, die wir in den Juden aller Länder immer nur unsere Brüder sehen, werden einen antisemitischen Rummel in Teheran nicht weniger beklagen als eine solche Plünderung in Prag. Aber es ist bei der Betrachtung dieser im allgemeinen bedauerlichen Vorgänge nicht zu übersehen, wo und unter welchen Umständen sie sich abspielen konnten. Wenn wir beispielsweise manches geschichtliche Argument aus dem Mittelalter, namentlich aus dem Spanien vor der großen Judenaustreibung zu holen pflegten; wenn wir etwa darauf hindeuteten, daß immer vor dem Ausbruche der judenfeindlichen Volksleidenschaften eine Zeit besonderen Wohlergehens für die Juden da war; daß man also die Episoden der Gleichberechtigung nicht unterschätzen solle: so lachten uns die Neunmalklugen überlegen ins Gesicht. Das seien überwundene Stufen der Volksroheit, entschwundene Zeiten. Und heute liegt der Brief eines gebildeten, ruhigen Mannes vor uns, datiert aus der modernen Stadt Prag, vom 3. Dezember 1897. In dem Briefe heißt es unter anderem:
„Nicht eine Schilderung der Prager Vorgänge will ich Ihnen senden. Es war ja nur das zwei Jahrtausende alte Judenlied, das da angestimmt wurde. Ty kluku Zidovsky hieß der Refrain, und unter Plünderung, Brand und viehischer Misshandlung wurde es gesungen. Es fehlte nur der Mord zu den „entschwundenen“ Zeiten des Mittelalters. Es wurden auch deutsche Schulen aller Art, die hier zumeist von Juden besucht werden, demoliert. Es wurden Häuser hervorragender Deutscher mit Steinen bombardiert. Diese sind vermögend genug, um den Schaden einiger zerbrochener Fensterscheiben zu verwinden. Aber die kleinen jüdischen Geschäftsleute, deren ganzer Besitz geraubt oder vernichtet wurde, die sind an den Bettelstab gebracht.“
Das liest sich einfach genug, es ist keine Übertreibung, keine Deklamation darin. Die Berichte der Tagesblätter enthielten weit mehr aufregende Einzelheiten und Stimmungsbilder. Und daß auch die Blätter die Sache nicht färbten, ergibt sich mit offizieller Deutlichkeit aus der Verhängung des Standrechtes über die vom Aufruhr durchtobte Stadt. Und daß das Standrecht in einem Augenblicke voll blutigen Ernstes ausgesprochen wurde, das sehen wir aus der Flucht vieler, die zu ihrem Glück ebenso wohlhabend wie ängstlich sind. Diese haben die Eisenbahnzüge bestiegen und sind dank den Erfindungen der Neuzeit eiligst aus der Schußweite fortgekommen. Nur die Armen blieben dort. Die hatten freilich Dringendes zu tun. Sie mussten in ihren Wohnungen und Läden zurückbleiben, weil Türen und Fenster vom Plünderpöbel herausgerissen waren. Freilich gab es an den verwüsteten Stätten nicht mehr viel zu bewachen. Aber für diese Leute waren es wirklich die „entschwundenen“ Zeiten, wie unser Briefschreiber traurig und richtig bemerkt.
Was hatten sie denn getan, die kleinen Juden von Prag, die braven Kaufleute des Mittelstandes, die friedlichsten aller friedlichen Bürger? Wodurch hatten sie Plünderung, Brand und Misshandlung verdient? In Prag warf man ihnen vor, daß sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, daß sie keine Deutschen seien. Arme Juden, woran sollten sie sich denn halten? Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her — und Deutsche auch. Es ist, um den Verstand zu verlieren — oder um ihn endlich zu finden.
Wir haben uns eine Zusammenstellung der Exzesse gemacht. In Prag wütete der Pöbel hauptsächlich in dem Bezirk Weinberge und Zizkow. In der Josephstadt wurden drei Synagogen demoliert, so daß sie, wie die „Narodni Politika“ mitteilt, den Anblick „demolierungsreifer Baracken“ darboten. Ein Professor der Prager deutschen Universität erzählt: „Anfangs hatten die Demonstrationen wohl einen nationalen Charakter, später hieß es aber immer: „Pojdme na zidi!“ „Gehen wir auf die Juden los!“ Die Christen stellten Kruzifixe in ihre Fenster . . . Plünderungen und Exzesse wurden von Tschechen an den Juden ferner noch begangen in Chrudim, Nachod, Kralup, Melnik, Neubidschow, Tabor, Königgrätz, Gitschin und in Laun, wo eine mit Schießpulver gefüllte Rakete vor dem Geschäftsladen eines Juden explodierte. Aber wenn die Tschechen so ergrimmt waren, weshalb tobten dann die Deutschen in Eger und Saaz gegen ihre Juden? Da steht das Rätsel.
Und doch, es ist keines. Wenn man die gänzlich schiefe Haltung der böhmischen Juden betrachtet, versteht man, warum sie für ihre Dienste mit Schlägen belohnt werden. Die beiden streitenden Volksstämme in Böhmen haben merkwürdigerweise eine neue Variante zur alten Postillonsgeschichte gefunden. In dieser Anekdote begegnen einander zwei Postkutschen auf einem schmalen Wege. Keiner der Postillione will ausweichen, und im Wagen sitzt hüben wie drüben ein Jude. Da schnalzt jeder Kutscher mit der Peitsche nach dem jenseitigen Fahrgast hin: „Haust du meinen Juden, hau' ich deinen Juden!“ Aber in Böhmen wird noch hinzugefügt: „Und meinen auch!“, so daß die böhmischen Juden für eine Fahrt doppelte Prügel erhalten. Freilich hatten sie versucht, als blinde Passagiere in dem Nationalitätenhader durchzukommen. Das geht nicht. Da wurde der Fehler gemacht, auf den wir — leider ungehört — oft hingewiesen haben.
Eine offene, vernünftige Stellung zum deutsch-tschechischen Streit wäre das einzig Richtige gewesen. Die Juden mussten sich einfach auf ihre jüdische Nationalität berufen, und man hätte sie auf beiden Seiten anders behandelt. Sie wären nicht die komischen oder verachteten Mitläufer während des Zwistes und nicht die Sündenböcke für jede Schlappe gewesen.
Die Juden in Böhmen sind zum weitaus größten Teile von deutscher Kultur erfüllt. Es hätte ihnen daher selbst von anständigen Tschechen nicht verübelt werden können, wenn sie bei aller Reserviertheit ihre Sympathien dem bildungsverwandteren Volksstamme zugewendet hätten. Die Deutschen wieder wären den Juden wohl dankbarer gewesen, wenn diese unter Aufrechthaltung und Betonung ihrer besonderen jüdischen Nationalität ihre Teilnahme an dem Kampf ums Dasein der Deutschen gezeigt hätten. Da sie sich als Deutsche mosaischer Konfession gaben, musste ihr teutonischer Chauvinismus übermäßig sein, um ein bißchen geglaubt zu werden, und sie brachten es doch nur dahin, von den Tschechen für Deutsche gehalten zu werden. Für die Deutschen blieben sie aber, was sie vor Beginn der Schonzeit gewesen; Beweis Eger und Saaz.
Hätten sie sich hingegen für das ausgegeben, was sie wirklich sind: für Juden deutscher Kultur, so wäre alles anders gewesen. Die Tschechen hätten sie nicht für mehr verantwortlich gemacht, als sie wirklich taten. Die Deutschen hätten ihnen für eine viel bescheidenere Mithilfe viel dankbarer und treuer sein müssen. Auch in der Politik währt ehrlich am längsten, wenn auch die Kniff chen vorübergehende Tageserfolge erzielen. Wann werden die Juden das einsehen?
Solange sie scheu und aufrichtig von Partei zu Partei, von Nation zu Nation taumeln werden, nur um für das ein wenig Schutz zu erlangen, was sie für uneingestehbar halten, nämlich für ihr Judentum — solange wird man sie nicht achten noch lieben, nicht einmal dulden. Wer sich für anderes ausgibt, als er offenbar ist, erregt Mißtrauen, und dieses dumpfe Gefühl setzt sich herabsteigend bei den Pöbelmassen in Gewalttaten um.
Das sind die „entschwundenen“ Zeiten, auf deren Wiederkehr die Juden leider selbst in zivilisierten Ländern gefaßt sein müssen, so heute, wie vor vielen hundert Jahren.
Wir haben vor einigen Wochen an dieser Stelle die Lage der böhmischen Juden besprochen. Es hat nicht viel Scharfsinn dazu gehört, die Entwicklung der Dinge so vorherzusagen, wie sie nun tatsächlich eingetroffen ist. Man musste vielmehr mit Blindheit geschlagen sein, wenn man etwas anderes erwartete. So wollen wir denn unsere damalige Prophezeiung, daß die sogenannte Schonzeit ein Ende mit Schrecken nehmen würde, nicht höher bewerten, als ziemlich ist. Nur daß es so bald wahr wurde, erfüllt uns — mit Kummer. Jawohl, wir sind so schlechte Politiker, daß wir keine Genugtuung empfinden über Ereignisse, die uns Recht geben und die Zahl unserer Genossen unzweifelhaft vermehren müssen. Den endlichen Sieg unserer Idee möchten wir nicht in demolierten Tempeln gefeiert sehen, und wenn ein Jude, der bisher unserer Bewegung ferngestanden, zugrunde gerichtet wird, so tröstet es uns über sein Missgeschick nicht, daß er nunmehr ein gehörig überzeugter Zionsfreund ist. Warum ist es doch so schwer, so unmöglich beinahe, die Gründe einer natürlichen Vernunft bei den Menschen zur Geltung zu bringen? Sie wollen nicht hören; sie müssen durchaus fühlen.
An und für sich unterscheiden sich die Judenexzesse in Böhmen kaum merkbar von denen in Persien, Russland und Rumänien. Und wir, die wir in den Juden aller Länder immer nur unsere Brüder sehen, werden einen antisemitischen Rummel in Teheran nicht weniger beklagen als eine solche Plünderung in Prag. Aber es ist bei der Betrachtung dieser im allgemeinen bedauerlichen Vorgänge nicht zu übersehen, wo und unter welchen Umständen sie sich abspielen konnten. Wenn wir beispielsweise manches geschichtliche Argument aus dem Mittelalter, namentlich aus dem Spanien vor der großen Judenaustreibung zu holen pflegten; wenn wir etwa darauf hindeuteten, daß immer vor dem Ausbruche der judenfeindlichen Volksleidenschaften eine Zeit besonderen Wohlergehens für die Juden da war; daß man also die Episoden der Gleichberechtigung nicht unterschätzen solle: so lachten uns die Neunmalklugen überlegen ins Gesicht. Das seien überwundene Stufen der Volksroheit, entschwundene Zeiten. Und heute liegt der Brief eines gebildeten, ruhigen Mannes vor uns, datiert aus der modernen Stadt Prag, vom 3. Dezember 1897. In dem Briefe heißt es unter anderem:
„Nicht eine Schilderung der Prager Vorgänge will ich Ihnen senden. Es war ja nur das zwei Jahrtausende alte Judenlied, das da angestimmt wurde. Ty kluku Zidovsky hieß der Refrain, und unter Plünderung, Brand und viehischer Misshandlung wurde es gesungen. Es fehlte nur der Mord zu den „entschwundenen“ Zeiten des Mittelalters. Es wurden auch deutsche Schulen aller Art, die hier zumeist von Juden besucht werden, demoliert. Es wurden Häuser hervorragender Deutscher mit Steinen bombardiert. Diese sind vermögend genug, um den Schaden einiger zerbrochener Fensterscheiben zu verwinden. Aber die kleinen jüdischen Geschäftsleute, deren ganzer Besitz geraubt oder vernichtet wurde, die sind an den Bettelstab gebracht.“
Das liest sich einfach genug, es ist keine Übertreibung, keine Deklamation darin. Die Berichte der Tagesblätter enthielten weit mehr aufregende Einzelheiten und Stimmungsbilder. Und daß auch die Blätter die Sache nicht färbten, ergibt sich mit offizieller Deutlichkeit aus der Verhängung des Standrechtes über die vom Aufruhr durchtobte Stadt. Und daß das Standrecht in einem Augenblicke voll blutigen Ernstes ausgesprochen wurde, das sehen wir aus der Flucht vieler, die zu ihrem Glück ebenso wohlhabend wie ängstlich sind. Diese haben die Eisenbahnzüge bestiegen und sind dank den Erfindungen der Neuzeit eiligst aus der Schußweite fortgekommen. Nur die Armen blieben dort. Die hatten freilich Dringendes zu tun. Sie mussten in ihren Wohnungen und Läden zurückbleiben, weil Türen und Fenster vom Plünderpöbel herausgerissen waren. Freilich gab es an den verwüsteten Stätten nicht mehr viel zu bewachen. Aber für diese Leute waren es wirklich die „entschwundenen“ Zeiten, wie unser Briefschreiber traurig und richtig bemerkt.
Was hatten sie denn getan, die kleinen Juden von Prag, die braven Kaufleute des Mittelstandes, die friedlichsten aller friedlichen Bürger? Wodurch hatten sie Plünderung, Brand und Misshandlung verdient? In Prag warf man ihnen vor, daß sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, daß sie keine Deutschen seien. Arme Juden, woran sollten sie sich denn halten? Es gab welche, die sich tschechisch zu sein bemühten; da bekamen sie es von den Deutschen. Es gab welche, die deutsch sein wollten, da fielen die Tschechen über sie her — und Deutsche auch. Es ist, um den Verstand zu verlieren — oder um ihn endlich zu finden.
Wir haben uns eine Zusammenstellung der Exzesse gemacht. In Prag wütete der Pöbel hauptsächlich in dem Bezirk Weinberge und Zizkow. In der Josephstadt wurden drei Synagogen demoliert, so daß sie, wie die „Narodni Politika“ mitteilt, den Anblick „demolierungsreifer Baracken“ darboten. Ein Professor der Prager deutschen Universität erzählt: „Anfangs hatten die Demonstrationen wohl einen nationalen Charakter, später hieß es aber immer: „Pojdme na zidi!“ „Gehen wir auf die Juden los!“ Die Christen stellten Kruzifixe in ihre Fenster . . . Plünderungen und Exzesse wurden von Tschechen an den Juden ferner noch begangen in Chrudim, Nachod, Kralup, Melnik, Neubidschow, Tabor, Königgrätz, Gitschin und in Laun, wo eine mit Schießpulver gefüllte Rakete vor dem Geschäftsladen eines Juden explodierte. Aber wenn die Tschechen so ergrimmt waren, weshalb tobten dann die Deutschen in Eger und Saaz gegen ihre Juden? Da steht das Rätsel.
Und doch, es ist keines. Wenn man die gänzlich schiefe Haltung der böhmischen Juden betrachtet, versteht man, warum sie für ihre Dienste mit Schlägen belohnt werden. Die beiden streitenden Volksstämme in Böhmen haben merkwürdigerweise eine neue Variante zur alten Postillonsgeschichte gefunden. In dieser Anekdote begegnen einander zwei Postkutschen auf einem schmalen Wege. Keiner der Postillione will ausweichen, und im Wagen sitzt hüben wie drüben ein Jude. Da schnalzt jeder Kutscher mit der Peitsche nach dem jenseitigen Fahrgast hin: „Haust du meinen Juden, hau' ich deinen Juden!“ Aber in Böhmen wird noch hinzugefügt: „Und meinen auch!“, so daß die böhmischen Juden für eine Fahrt doppelte Prügel erhalten. Freilich hatten sie versucht, als blinde Passagiere in dem Nationalitätenhader durchzukommen. Das geht nicht. Da wurde der Fehler gemacht, auf den wir — leider ungehört — oft hingewiesen haben.
Eine offene, vernünftige Stellung zum deutsch-tschechischen Streit wäre das einzig Richtige gewesen. Die Juden mussten sich einfach auf ihre jüdische Nationalität berufen, und man hätte sie auf beiden Seiten anders behandelt. Sie wären nicht die komischen oder verachteten Mitläufer während des Zwistes und nicht die Sündenböcke für jede Schlappe gewesen.
Die Juden in Böhmen sind zum weitaus größten Teile von deutscher Kultur erfüllt. Es hätte ihnen daher selbst von anständigen Tschechen nicht verübelt werden können, wenn sie bei aller Reserviertheit ihre Sympathien dem bildungsverwandteren Volksstamme zugewendet hätten. Die Deutschen wieder wären den Juden wohl dankbarer gewesen, wenn diese unter Aufrechthaltung und Betonung ihrer besonderen jüdischen Nationalität ihre Teilnahme an dem Kampf ums Dasein der Deutschen gezeigt hätten. Da sie sich als Deutsche mosaischer Konfession gaben, musste ihr teutonischer Chauvinismus übermäßig sein, um ein bißchen geglaubt zu werden, und sie brachten es doch nur dahin, von den Tschechen für Deutsche gehalten zu werden. Für die Deutschen blieben sie aber, was sie vor Beginn der Schonzeit gewesen; Beweis Eger und Saaz.
Hätten sie sich hingegen für das ausgegeben, was sie wirklich sind: für Juden deutscher Kultur, so wäre alles anders gewesen. Die Tschechen hätten sie nicht für mehr verantwortlich gemacht, als sie wirklich taten. Die Deutschen hätten ihnen für eine viel bescheidenere Mithilfe viel dankbarer und treuer sein müssen. Auch in der Politik währt ehrlich am längsten, wenn auch die Kniff chen vorübergehende Tageserfolge erzielen. Wann werden die Juden das einsehen?
Solange sie scheu und aufrichtig von Partei zu Partei, von Nation zu Nation taumeln werden, nur um für das ein wenig Schutz zu erlangen, was sie für uneingestehbar halten, nämlich für ihr Judentum — solange wird man sie nicht achten noch lieben, nicht einmal dulden. Wer sich für anderes ausgibt, als er offenbar ist, erregt Mißtrauen, und dieses dumpfe Gefühl setzt sich herabsteigend bei den Pöbelmassen in Gewalttaten um.
Das sind die „entschwundenen“ Zeiten, auf deren Wiederkehr die Juden leider selbst in zivilisierten Ländern gefaßt sein müssen, so heute, wie vor vielen hundert Jahren.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften