Die Menorah.

Es war ein Mann, der hatte die Not, ein Jude zu sein, tief in seiner Seele empfunden. Seine äußeren Umstände waren nicht unbefriedigend. Er hatte sein genügendes Auskommen und auch einen glücklichen Beruf, indem er das schaffen durfte, wozu ihn sein Herz hinzog. Er war nämlich ein Künstler. Um seine jüdische Herkunft und den Glauben seiner Väter hatte er sich schon lange nicht mehr gekümmert, als der alte Hass unter einem modischen Schlagworte sich wieder zeigte. Mit vielen anderen glaubte auch unser Mann, daß die Strömung sich bald verlaufen werde. Aber es wurde nicht besser, sondern stets ärger, und die Angriffe schmerzten ihn immer von neuem, obwohl sie ihn nicht unmittelbar betrafen; so daß nach und nach seine Seele eine einzige blutende Wunde war. Es geschah ihm nun, daß er durch diese inneren und verschwiegenen Leiden auf deren Quelle, also auf sein Judentum hingelenkt wurde, und was er in guten Tagen vielleicht nie vermocht hätte, weil er davon schon so ferne war: er begann es mit einer großen Innigkeit zu lieben. Auch von dieser wunderlichen Zuneigung gab er sich nicht gleich deutliche Rechenschaft, bis sie endlich so mächtig war, daß sie aus dunklen Gefühlen zu einem klaren Gedanken erwuchs, den er dann auch aussprach. Es war der Gedanke, daß es aus der Judennot nur einen Ausweg gebe, und zwar die Heimkehr zum Judentum.

Als dies seine besten Freunde erfuhren, die sich in ähnlicher Lage befanden, wie er selbst, schüttelten sie über ihn die Köpfe und meinten, er wäre in seinem Geiste verwirrt geworden. Denn wie könne das ein Ausweg sein, was ja nur die Verschärfung und Vertiefung des Übels bedeute. Er aber dachte, daß die sittliche Not so empfindlich wäre, weil den neuen Juden jenes Gegengewicht abhanden gekommen sei, das unsere starken Väter in ihrem Inneren besaßen. Man spöttelte hinter ihm drein, manche lachten ihm sogar unverhohlen ins Gesicht, doch ließ er sich durch die albernen Bemerkungen von Leuten, deren Einsicht er früher nie hoch zu schätzen Gelegenheit gehabt, nicht irremachen und ertrug die bösen oder guten Scherze gelassen. Und da er sich im übrigen nicht unvernünftig gebärdete, so ließ man ihn allmählich sich seiner Schrulle hingeben, die freilich von einigen auch mit härterem Wort als eine fixe Idee bezeichnet wurde.


Der Mann zog aber in seiner geduldigen Art eine Konsequenz nach der anderen aus seiner einmal gefassten Meinung. Dabei gab es eine Anzahl von Übergängen, die ihm selbst nicht leicht fielen, wenn er dies auch aus Trotz nicht sehen ließ. Als ein Mensch und Künstler von modernen Anschauungen war er doch mit vielerlei un jüdischen Gewohnheiten verwachsen und hatte aus den Kulturen der Völker, durch die ihn sein Bildungsgang geführt, Unvertilgbares in sich aufgenommen. Wie war dies mit seiner Rückkehr zum Judentum zu versöhnen? Daraus erwuchsen ihm selbst manche Zweifel an der Richtigkeit seines leitenden Gedankens, seiner idee maitresse, wie es der französische Denker nennt. Vielleicht war die unter dem Einfluß anderer Kulturen großgezogene Generation nicht mehr fähig zu jener Heimkehr, die er als die Lösung gefunden hatte. Aber die nächste Generation würde schon dazu fähig sein, wenn man ihr noch bei Zeiten die Richtung gab. So bekümmerte er sich denn darum, daß wenigstens seine Kinder auf den rechten Weg kämen. Die wollte er von Haus aus zu Juden erziehen.

Früher hatte er das Fest, welches die wunderbare Erscheinung der Makkabäer durch so viele Jahrhunderte mit dem Glänze kleiner Lichter bestrahlte, vorübergehen lassen, ohne es zu feiern. Nun aber benützte er diesen Anlaß, um seinen Kindern eine schöne Erinnerung für kommende Tage vorzubereiten. In diese jungen Seelen sollte früh die Anhänglichkeit an das alte Volkstum gepflanzt werden. Eine Menorah wurde angeschafft, und als er diesen neunarmigen Leuchter zum erstenmal in der Hand hielt, wurde ihm eigentümlich zumute. Auch in seinem Vaterhause hatten die Lichtlein in einer nun schon entlegenen Jugendzeit gebrannt, und es war etwas Trauliches und Anheimelndes darin. Die Tradition nahm sich nicht frostig, nicht erstorben aus. Das war so durch die Zeiten herübergegangen, immer ein Lichtlein am anderen entzündet. Auch die altertümliche Form der Menorah regte ihn zum Sinnen an. Wann war der primitive Bau dieses Lichthalters geschaffen worden? Die Gestalt war offenbar einst vom Baum genommen worden. In der Mitte der stärkere Stamm, rechts und links vier Zweige, einer unter dem anderen, die in einer Ebene Hegen, und alle acht sind gleich hoch. Eine spätere Symbolik brachte den neunten kurzen Arm, welcher nach vorne steht und der Diener heißt. Was haben die Geschlechter, die aufeinander folgten, in diese ursprünglich einfache und von der Natur genommene Kunstgestalt hineingeheimnist? Und unser Mann, der ja ein Künstler war, dachte bei sich, ob es denn nicht möglich wäre, die erstarrte Form der Menorah wieder zu beleben, ihre Wurzeln zu tränken, wie die eines Baumes. Auch der Klang des Namens, den er nun an jedem Abende vor seinen Kindern sprach, gefiel ihm wohl. Es war ein Klang darin, besonders lieblich, wenn das Wort aus dem Kindermunde kam.

Die erste Kerze wurde angebrannt und dazu die Herkunft des Festes erzählt. Die wundersame Begebenheit vom Lämpchen, das so unerwartet lange lebte, dazu die Geschichte der Heimkehr aus dem babylonischen Exil, der zweite Tempel, die Makkabäer. Unser Freund erzählte seinen Kindern, was er wusste. Es war nicht gerade viel, aber ihnen genügte es. Bei der zweiten Kerze erzählten sie es ihm wieder, und als sie es ihm erzählten, erschien ihm alles, was sie doch von ihm hatten, ganz neu und schön. Von da ab freute er sich jeden Tag auf den Abend, der immer lichter würde. Kerze um Kerze stand an der Menorah auf, und mit den Kindern träumte der Vater in die kleinen Lichter hinein. Es wurde schließlich mehr, als er ihnen sagen konnte und wollte, weil es noch über ihrem Verständnis war.

Er hatte, als er sich entschloß, zum alten Stamme heimzukehren und sich zu dieser Heimkehr offen zu bekennen, nur gemeint, etwas Ehrliches und Vernünftiges zu tun. Daß er auf diesem Heimweg auch eine Befriedigung seiner Sehnsucht nach dem Schönen finden würde, das hatte er nicht geahnt. Und nichts Geringeres widerfuhr ihm. Die Menorah mit ihrem wachsenden Lichterschein war etwas gar Schönes, und man konnte sich dazu erhabene Dinge denken. So ging er her und entwarf mit seiner geübten Hand eine Zeichnung für die Menorah, die er seinen Kindern übers Jahr schenken wollte. Frei gestaltete er das Motiv der acht gleich hoch auslaufenden Arme aus, die rechts und links in der Ebene des Stammdurchschnittes liegen. Er hielt sich an die steife überlieferte Form nicht für gebunden, sondern schuf wieder aus Natürlichem heraus, unbekümmert um andere Deutungen, die ja darum auch ihr Recht behalten mochten. Er war auf lebensvolle Schönheit aus. Doch wenn er auch in die erstarrten Formen eine neue Bewegung brachte, hielt er sich dennoch an ihr Gesetz, an den vornehm alten Stil ihrer Anordnung. Es war ein Baum mit schlanken Ästen, deren Enden wie Kelche sich erschlossen, und in diesen Blütenkelchen sollten die Lichter stecken.

Unter so gedankenvoller Beschäftigung verstrich die Woche. Es kam der achte Tag, an dem die ganze Reihe brennt, auch der treue neunte, der Diener, der sonst nur zum Anzünden der übrigen da ist. Eine große Helligkeit strömte von der Menorah aus. Die Augen der Kinder glänzten. Unserem Manne aber wurde das Ganze zu einem Gleichnis für die Entflammung der Nation. Erst eine Kerze, da ist es noch dunkel, und das einsame Licht sieht noch traurig aus. Dann findet es einen Gefährten, noch einen, noch mehr. Die Finsternis muss weichen. Bei den Jungen und Armen leuchtet es zuerst auf, dann schließen sich die anderen an, die das Recht, die Wahrheit, die Freiheit, den Fortschritt, die Menschlichkeit, die Schönheit lieben. Wenn alle Kerzen brennen, dann muss man staunen und sich freuen über das getane Werk. Und kein Amt ist beglückender als das eines Dieners am Licht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften