Die Jüdische Kolonialbank.

Der Baseler Kongress fasste unter anderen wichtigen Beschlüssen auch einen, dessen Ausführung den ganzen Eifer und die volle Wachsamkeit der Leitung erfordert. Bis zum Zusammentritt des nächsten Kongresses ist eine jüdische Bank für die finanziellen Aufgaben der Bewegung ins Leben zu rufen. Es lagen bereits den Vorbereitern des Kongresses verschiedene finanzielle Entwürfe vor, die das Präsidium jedoch nicht in öffentlicher Sitzung verhandeln lassen wollte, weil diese Sache nicht improvisiert werden durfte. Die Autorität des Kongresses für die Judenheit wird nur zugunsten eines genugsam nach allen Richtungen hin geprüften und verbürgbaren Projektes eingesetzt werden können. In der Tat war es besser, den ersten Kongress nicht in Erörterungen dieser Art eintreten zu lassen. Die Aufgabe des ersten Zionistenkongresses war es, den Volkswillen erkennbar zu machen. Das ist geschehen, in einem Umfange geschehen, der die Zweifler zu schänden machte. Jetzt beginnen sie, aus einem anderen Loche zu blasen. „Ganz hübsch,“ heißt es mit mehr gnädigem Lächeln; „aber die Zionisten sind doch Träumer, Ideologen, überstudierte Leute. Die Sache ist doch mit Reden und Erklärungen nicht zu machen. Das müßte mit anderen Mitteln angefaßt werden, wenn es überhaupt möglich sein soll.“

Geduld, wir gehen weiter. Es muss natürlich in einer um so besonneneren und rationelleren Weise geschehen, je mehr wir der Phantasterei beschuldigt werden. Es muss zugleich auch die feine Linie eingehalten werden, auf der weder die Bewegung noch ihre Führer durch die materielle Ausgestaltung kompromittiert werden können. Nachdem es soeben gelungen ist, die Lächerlichkeit zu überwinden, mit welcher der Zionismus in seinen Anfängen von Wohlwollenden ausgestattet werden sollte, handelt es sich darum, die nationale Arbeit nicht verdächtig werden zu lassen. Geht man vernünftig, entschlossen und vor allem offen vor, so wird auch diese Schwierigkeit wie andere zu überkommen sein.


Die Bewegung braucht ein finanzielles Instrument von genügender Tauglichkeit und Reinheit. Die nationale Bewegung muss von der Gnade der Wohltäter emanzipiert und von den milden Stiftungen, wie groß diese auch seien, unabhängig werden. Dabei ist das Prinzip, daß die politische Gebarung mit der geschäftlichen nie und nimmer etwas zu tun hat, ohne Bruch festzuhalten. Solchen Zwecken soll die vom Kongress gewünschte jüdische Kolonialbank dienen. Diese Zeilen sollen nun die Diskussion über den Gegenstand eröffnen.

Eine jüdische Kolonialbank! Zunächst wird sich wohl das Gelächter und Geschrei gegen das Beiwort erheben. Die einen werden sagen, es könne eine konfessionelle Bank nicht geben; das Kapital sei weder christlich noch jüdisch, sondern konfessionslos. Die anderen werden hingegen auf die Präzedenzfälle der konfessionellen Bankgründungen hinweisen, die jämmerlich scheiterten.

Man kennt aus der Geschichte der finanziellen Skandale manches Abenteuer, wo unter einem christlichen Schlagworte Gründungen der bedenklichsten Art unternommen wurden und ein Ende mit Schrecken fanden. Aber diese Beispiele sind vielleicht nicht beweiskräftig. Es handelt sich da in der Regel um antisemitische Versuche, die gerade in der Geschäftswelt von vornherein die heftigste und begreiflichste Feindschaft antrafen. Wer weiß, ob nicht eine oder die andere dieser Unternehmungen einen gesunden Kern in sich barg und nur durch die Koalition der Bedrohten niedergestreckt wurde? Jedenfalls hätte ein Institut, das nicht nur nicht antisemitisch wäre, sondern geradezu der Lösung der Judenfrage in günstigem Sinne dienen sollte, die Feindseligkeit der jüdischen Geschäftswelt nicht über das Maß des gewöhnlichen Konkurrenzneides hinaus zu fürchten. Bei solchen Erwägungen brauchen wir uns indessen nicht lange aufzuhalten, weil, wenn wir von einer jüdischen Bank sprechen, überhaupt nichts Konfessionelles, sondern etwas Nationales gemeint ist. Daß aber ein Institut zur Bedienung größerer Bedürfnisse auf nationaler Grundlage geschaffen werden und bestehen kann, ist doch niemandem unbekannt.

Freilich scheint wieder hier die Frage vorweggenommen, ob denn die Juden eine Nation seien. Den Lesern dieser Zeitung ist die Frage und deren Beantwortung schon geläufig. Heute stehen wir darin auch schon auf dem festen Boden des Baseler Kongresses. Bestände die Nation nur aus den Hunderttausenden, deren Vertreter in Basel versammelt waren, so dürfte man doch schon ohne Selbsttäuschung oder Überschwang von der jüdischen Nation sprechen. Und übrigens wird, gleichwie der Kongress die ideale Probe auf die Existenz des jüdischen Volkes bedeutete, das Zustandekommen der Kolonialbank eine der materiellen Proben darauf vorstellen.

Die Entstehung der jüdischen Kolonialgesellschaft mag man sich etwa in der folgenden Weise denken: Eine Gruppe anständiger und in der Geschäftswelt wohlakkreditierter Personen setzt sich mit den Leitern unserer Bewegung in Verbindung. Für die letzteren wäre es selbstverständlich mit ihren Aufgaben inkompatibel, an der Verwaltung der Gesellschaft in irgendeiner besoldeten Stellung oder in welcher Form immer an den Gewinnen teilzunehmen; nur müßten sie die Möglichkeit gesichert haben, zu jeder Zeit die Bankpolitik zu überwachen. Die Subskriptionseinladung werden sie mitunterfertigen, um den Zweck zu markieren, welchem das Ganze dient. Der Sitz der Gesellschaft wäre London. Ein Aktienkapital von zwei Millionen Pfund Sterling wäre aufzubringen, die Aktie zu 1 Pfund Sterling.

Ist nicht anzunehmen, daß sich für eine Gesellschaft mit Aufgaben der jüdischen Kolonisation Unterzeichner in genügender Menge in der ganzen Welt finden werden? Das möge jeder einzelne von sich aus beurteilen. Es wird gewöhnlich in finanziellen Prospekten den Unterzeichnern von einzelnen Stücken eine besondere Berücksichtigung zugesichert. Daran müßte man sich auch bei Schaffung der jüdischen Kolonialbank halten. So wird dieses Institut auch die finanzielle Selbsthilfe der breiten Schichten bedeuten.

Welche Aufgabe hat also die jüdische Kolonialbank zu erfüllen? Gleichwie wir bisher an Stelle des philanthropischen Zionismus den politischen gesetzt haben, so muss an die Stelle des Schenkens und Almosennehmens in der Kolonialbewegung das reine Geschäft treten. Durch die Wohltaten wurden bisher die Geber ein bißchen ärmer — aber die Nehmer auch. Die Schnorrerzucht nahm einen bedeutenden Aufschwung, und der Arbeit fehlte das beste: das Gefühl der Verantwortlichkeit. Der Kolonist, der immer nach dem fernen Patron oder Protektor auslugt, gehört nicht zu derjenigen wirtschaftlichen Kategorie von Juden, deren Entstehung für die moralische Hebung unserer Nation von irgendeinem Wert sein kann. Der jüdische Bauer und Handwerker soll auf einem anderen Weg zur wirtschaftlichen Freiheit auf dem nationalen Boden geführtwerden. Das Land wird durch die Besiedlung mit Menschen wertvoll, dem Ansiedler gebührt folglich mehr als ein Geschenk; es gebührt ihm der Kredit. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß der Kredit für Geber und Nehmer nicht nur moralisch, sondern auch materiell mehr wert ist als das Geschenk. Der Kredit hat die Tendenz, zu wachsen; das Geschenk hat die Tendenz, sich zu verringern. Der Mann, der Kredit genießt, wird unter normalen Bedingungen wirtschaftlich immer stärker. Der Mann, der Geschenke empfängt, wird unter normalen Bedingungen wirtschaftlich immer schwächer. Daß der Wohltäter nur Undankbare schafft und andere bittere Weisheiten können wir uns in diesem Augenblick ersparen. Wir öffnen überhaupt nur kurz den Ausblick auf diese Gedankengänge, die uns mit dazu bestimmen, eine geschäftlichere Form der jüdischen Kolonialtätigkeit zu wünschen.

Für die Subskribenten der Kolonialbank hat es nur ein Geschäft zu sein. Sie werden mit sich zu Rate gehen, ob das eine Anlage zu werden verspricht. Ob eine Anstalt, welche den auswanderungslustigen Juden die bankmäßige Unterstützung gewähren will: Bankkredit und andere Bankhilfe auf Grund vernünftiger Sicherheit und unter billigen Bedingungen — ob eine solche Anstalt, wenn sie von anständigen Menschen geleitet wird, Aussicht auf Erfolg hat? Die Anfänge der Tätigkeit wären in den bereits bestehenden Kolonien zu machen. Die Kolonisten würden einen Agrarkredit mit außerordentlichem Jubel begrüßen. Sie benötigen ihn dringend, das wissen wir aus ihren Seufzern und Klagen, die lauter wären, wenn sie nicht fürchten müßten, die Gnade der Wohltäter zu verscherzen. Landwirtschaftliche und gewerbliche Berufsgenossenschaften sind augenblicklich gebildet. Alle diejenigen, welche den Umfang und die Beschaffenheit der jetzigen zionistischen Bewegung kennen, wissen sehr wohl, daß bedeutende Massen arbeitslustiger Juden, namentlich im Osten Europas, abgr auch in England, Amerika und Nordafrika, bereit stehen. An manchen Orten haben sich solche Arbeitsgruppen im Hinblick auf den kommenden Zweck sogar schon unter verantwortlichen Parteiführern organisiert. Diese Leute brauchen nur noch den Kredit, der ihnen in allen Formen, als: Transport-, Agrar-, Industrial-, Kommerzial- und Baukredit zu gewähren ist. Bei der eigentümlichen Art dieses Unternehmens ist auch die Gefahr von Geschäftsverlusten bei schlechten Kreditnehmern gering anzuschlagen, denn die von der Gesellschaft erworbenen Ländereien würden durch die Besiedlung jedenfalls eine kompensatorische Werterhöhung erhalten. Es ist nun nicht ausgeschlossen, daß durch die mannigfachen Vorteile, welche in Aussicht stehen, auch viele Nichtzionisten angeregt werden, Aktien der Kolonialbank zu erwerben. Zu hoffen ist aber, daß der Aktienbesitz hauptsächlich in die Hände von Zionisten kommen werde, weil ja diese an die Sache schon jetzt glauben und den Umfang der Bewegung kennen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß schon vor der Bildung der Gesellschaft an verschiedenen Orten Gruppen zusammentreten werden, welche sich eine Anzahl von Aktien werden sichern wollen.

Die hiermit eröffnete Diskussion dürfte praktische Anregungen aller Art zum Vorschein bringen. Man wird hinter den nächsten Aufgaben die ferneren Zwecke sehen. Eine solche Gesellschaft mit Niederlassungen an den Hauptorten der jüdischen Geschäftstätigkeit mag berufen sein, eine nicht unbedeutende Rolle im Weltverkehr zu spielen. Und während jetzt eine Anzahl von Banken und Bankiers jüdisch sind, ohne das doch eingestehen zu wollen und dem Judentum dennoch durch ihre Praktiken schweren moralischen Schaden zufügen — würde diese neue Bank die Dienste der Judenheit in einwandfreier Weise besorgen müssen. Es möge jeder von sich aus beurteilen, ob die jüdische Bank Aussicht hat, rasch populär zu werden.

Von vornherein auf eine gesunde Grundlage gestellt, nach vernünftigen geschäftlichen Grundsätzen organisiert, unter nationaler Aufsicht verwaltet, muss es ein sehr starkes Institut werden. Die Anhänglichkeit des jüdischen Publikums an eine solche Bank darf wohl vorausgesetzt werden, und es gehört keine übermäßige Phantasie dazu, wenn man annimmt, daß die jüdische Bank von Haus aus in Europa, Amerika und im Orient auf eine ausgebreitete Klientel rechnen kann.

Ist aber etwa gedacht, daß diese Bank mit dem Aktienkapitale von nur zwei Millionen Pfund Sterling zur unmittelbaren Erwerbung der für die jüdische Kolonisation erforderlichen Landstriche aufgestellt wird?

Nein. Dazu würde dieses Kapital selbstverständlich nicht hinreichen. Es gibt weit größere jüdische Kolonialfonds, welche auf die Erfüllung dieser Aufgabe warten, und sobald die öffentlich-rechtlichen Voraussetzungen geschaffen sind, zu privatrechtlichen Landkäufen und philanthropischen Ackerbauunterstützungen dienen sollen. Die jüdische Kolonisation hat eben die öffentlich-rechtlichen Sicherheiten durch ihre Bankpolitik herbeizuführen. Die jüdische Kolonialbank wird als der unpersönliche Bankier der zionistischen Bewegung konstituiert und hat fernerhin als Vermittler von Anlehen des Staates, mit dem das Abkommen, das wir wünschen, getroffen werden soll, bei den sich darbietenden Gelegenheiten zu wirken. Wir begnügen uns vorläufig mit dieser Andeutung, die wohl von jedem verstanden werden wird.

Die vorstehenden Bemerkungen sind selbstverständlich kein „Prospekt“, sondern nur die erste Verlautbarung, durch die unsere Freunde überall verständigt werden sollen, daß die vom Kongress vorgesehene und angeordnete praktische Arbeit begonnen hat. Zur Beurteilung der Aussichten, welche die Bank hat, wird es nun erforderlich sein, die tatsächlichen Grundlagen der Kolonisation auszuarbeiten, das statistische Material, insoweit es schon vorliegt oder noch herbeizuschaffen ist, in übersichtlicher Gruppierung vorzubringen und verbürgte Mitteilungen zu machen über Klima, Bodenqualität, Verkehrsmittel, Absatzverhältnisse, schon vorhandene und noch hinzuleitende Arbeitskräfte, endlich über die rechtlichen Bedingungen, unter denen sich alles vollziehen soll. Mancher Widerstand wird zu überwältigen, manches Übelwollen und Mißverständnis zu beseitigen sein, und die Männer, welche an die Lösung dieser Aufgabe heran gehen, sind sich dessen ernst bewußt. Sie rechnen auf die hingebungsvolle Mitwirkung aller, denen die nationale Sache nahegeht. Daß sie auch die Konstituierung des finanziellen Organs der Bewegung in die Hand nehmen, wird sie möglicherweise in der ersten Zeit bösartigen Verdächtigungen aussetzen. Es ist nicht das erste, nicht das letzte Opfery das sie der Sache bringen. Übrigens ist die Gefahr, auf diesem Punkte missverstanden zu werden, nur eine kurz befristete, denn sobald der finanzielle Verwaltungskörper namentlich bekanntgemacht wird, werden auch unsere Gegner nicht daran zweifeln können, daß die politischen Leiter der Bewegung die Bank lediglich beaufsichtigen wollen. Die Inkompatibilität des Politischen mit dem Geschäftlichen ist Ehrensache.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften