Der ewige Jude.

Das Werk, das meine Freunde, die Zionisten, und ich seit zwei Jahren betreiben, war nicht unfruchtbar, da es gelungen ist, der Diskussion der Judenfrage die jetzige Form zu geben. Die Frage wird als das behandelt, was sie ist: als eine sehr große politische. Nach dem Welt-Kongress, den ich trotz des Widerspruches einiger Millionäre und der ihnen ergebenen jüdischen Pfaffen für Ende August dieses Jahres nach Basel einberufen hatte, begann in der Presse aller Länder die Debatte über den Zionismus. Man wusste früher außerhalb des Gettos gar nicht, was der Zionismus sei. Denn das Getto existiert noch überall, wie unsichtbar auch seine Mauern seien. Das Getto besteht im Misstrauen der Gentiles, im Zusammenhocken der Juden und in der Scheu, die Zusammengehörigkeit einzugestehen. Einer der vielen wunderlichen Widersprüche unseres Volkslebens ist: daß wir weit auseinandergestreut und doch auf allen einzelnen Punkten unbehaglich zusammengepreßt sind. Das Getto hat seine eigene öffentliche Meinung, die außerhalb der unsichtbaren Mauern nicht gehört wird, und ist es nicht wieder ein Beweis für die Existenz des Gettos, wenn das ganze hitzige Geschrei um den Zionismus bisher draußen unbemerkt geblieben war?

Was will der Zionismus? Für ein landloses Volk, das zu zahlreich und — sagen wir es rund heraus — zu mächtig ist, um ohne Gefahr für sich und die anderen von Land zu Land geworfen zu werden, eine definitive Heimstätte schaffen. Dort wird es weniger unglücklich, aber auch weniger gefährlich sein.


Es war ein Irrtum, von dem man zu genesen beginnt, daß durch den sogenannten Fortschritt der Menschheit die Judenfrage gleichsam von selbst verschwinden werde. Versteht man darunter die Zeit, wo Lamm und Wolf friedlich nebeneinander weiden werden, so ist das im nächsten Vierteljahr nicht zu erwarten. Jeder erscheint sich selbst als Lamm. Der andere ist immer der Wolf. In der Judenfrage hat sich aber etwas Seltsames gezeigt. Der moderne Verkehr, der die Völker einander so nahe bringt, hat die politische und soziale Lage der Juden verschlimmert, während er ihre ökonomische oder sagen wir lieber finanzielle Macht steigerte Der Jude ist unsteter und dadurch unglücklicher und verrhasster geworden, als er je war. Weiß man, welche Völkerwanderungen die Juden in den letzten zwanzig Jahren durchgemacht haben? Es handelt sich da um eine Bewegung von Massen, gegen die der Ortswechsel vieler Stämme zu Beginn des Mittelalters wahrscheinlich nur ein Kinderspiel war. Aus den fürchterlichen Pferchen im Osten Europas brechen seit zwanzig Jahren ununterbrochen Hunderttausende verzweifelter Menschen auf, um anderwärts ein Stück Brot und ein bißchen Freiheit zu suchen. Welcher Mensch, der nicht ein versteinertes Herz in der Brust trägt, wird diese jammervolle Wanderung aus dem Elend in das Elend ohne Erschütterung mit ansehen können? Aber diese halb verhungerten und ganz verzweifelten Parias tragen nicht nur ihre eigene Not um den Erdkreis herum, sondern auch die der anderen. So fliehen sie vor dem Hass und erzeugen ihn überall, wo sie erscheinen. Kraft ihrer größeren Armut reißen sie den bisher Ärmsten das Brot vom Munde weg. Die geduldige Liebe zur Scholle, die den Bauer macht, wird ihnen verdorben oder verwehrt. Die notgedrungene Wanderschaft macht sie schon auf den untersten wirtschaftlichen Stufen zu Händlern. Überall ringen sie mit einer beispiellosen Unsicherheit der Existenz — und ringen sich durch. Dieser Jammerzug ist mit seiner Tragik, mit seiner elenden Komik auch ein Eroberungszug. Aber auch nachdem die einzelnen Wurzel in einem Boden geschlagen haben, ist die Not nicht zu Ende. Die Karrieren, in denen der Staat weise und die Gesellschaft instinktiv nur mit Ehre lohnt, werden in den meisten Ländern ängstlich vor den Juden gehütet. Dadurch sind sie auf den Handel geworfen, insbesondere auf denjenigen, welcher die größte Beweglichkeit nicht nur verträgt, sondern geradezu erfordert: den Geldhandel. Die Entziehung des Bodens auf den unteren Stufen, die Entziehung der Ehre auf den höheren machen den Juden zu dem, was er ist.

Nun gibt es Leute, die in der „Assimilation“ die Lösung der Judenfrage sehen. Aber was ist Assimilation? Doch nicht das mehr oder weniger gelungene Swell, das einer spricht; nicht der Schnitt des Bartes, nicht die Kleider, ja nicht einmal die Gewohnheiten des täglichen Lebens. Assimilation ist die Erwerbung von Boden und Ehre in einem Lande. Die Juden wären überall dazu bereit. Läßt man es zu? Wo man es heute zuläßt, wird man es morgen zulassen? Wir Juden der antisemitisch gewordenen Kulturländer wollten uns assimilieren, aber gerade unsere Assimilationsversuche haben den modernen Antisemitismus hervorgerufen, weil es die Erwerbung von Boden und Ehre war. Und so wird, so muss es überall kommen, auch in England. Man wird vermutlich sagen, daß ich den Antisemitismus nach England trage. Ich bin schon an alle Perfidien gewöhnt, und nichts hält mich ab, auch weiter die Wahrheit zu sagen, von der ich überzeugt bin. Nur ein voller Erfolg des Zionismus kann die englischen Juden vor dem Antisemitismus bewahren, weil der Zufluß armer und erobernder Juden abgelenkt würde. Es sind das einfache Dinge: sind wenig Juden da, so wünscht man ihre Assimilation; vermehren sie sich, erkennt man in ihrer Assimilation eine Volksgefahr. England ist gegenwärtig dasjenige Land, welches auf die Juden der ganzen Welt die größte Anziehung ausübt, weil es so hoch in der Kultur und so duldsam gegen unser Volk ist. Die Folge davon war schon bisher, daß sich die Zahl der Juden in England — wenn ich gut unterrichtet bin — in den letzten zehn Jahren verdreifacht hat. Ich weiß nicht, wer bei ihnen wünschen wird, daß es so weitergehe. Ich denke, die bereits ansässigen Juden am wenigsten; nur ist die Sache für sie einigermaßen delikat. Auf Grund welchen Prinzips sollen sich die Eingewanderten gegen die Einwanderung ihrer Brüder sträuben? Es ist immerhin mißlich, zu sagen: Geh anderswohin verhungern, hier störst du mich in meiner Verdauung, und laß du dich anderswo martern, denn ich will hier mein Behagen erhalten. Es ist wirklich eine rechte Not, und sie schiene ohne Ausweg. Aber der Zionismus will sie beenden, indem er für das landlose Volk den eigenen Boden und die eigene Ehre sucht. Die unsteten Proletarier sollen auf der Scholle fixiert werden, die zu Heben ihnen endlich gestattet ist und nach der sie nie aufgehört haben, sich zu sehnen: in ihrem historischen Vaterlande.

Dort würde ihr Erscheinen eine Ordnung und eine Gesittung herstellen, welche im Orient gegenwärtig nicht ausgiebig genug vorhanden sind.

Dies und nichts anderes beabsichtigt der Zionismus. Es ist erfreulich, daß unsere Bewegung in der öffentlichen Meinung Englands einen solchen Widerhall gefunden hat, wie er in den jüngsten Äußerungen des Daily Chronicle und der Pall Mall Gazette hervorkommt. Der Vorschlag des Mr. Arnold White, eine europäische Konferenz zur Lösung der Judenfrage einzuberufen, deckt sich mit dem, was ich in meinem Buche „Der Judenstaat“ gesagt habe: daß die Frage im Rate der Kulturvölker zu erörtern und zu lösen ist. Wenn zwei angesehene Blätter von so verschiedener politischer Färbung in einer Sache übereinstimmen, so darf darin wohl ein vollständiger Ausdruck der englischen Volksstimmung erblickt werden. Ich weiß nicht, ob Lord Salisbury im Drange seiner Geschäfte bereits Zeit gefunden hat, sich über diese Sache zu unterrichten, die für Groß- und Größer-Britannien nicht ohne Interesse sein kann. Aber ob es ein Tory oder ein Whig sein wird, der mit der Judenfrage auch ein Stück der Orientfrage zu lösen unternimmt, er wird das Werk eines Staatsmannes im großen Stile tun, und er kann sicher sein, daß die Welt, so weit sie zivilisiert ist, seinen Worten und Taten mit Teilnahme, vielleicht mit Bewunderung folgen wird. Von Anfang an war ich der Ansicht, daß eine diplomatische Initiative von England werde kommen müssen, weil England, wenn es — gleichsam in der Luftlinie — nach Indien blickt, Palästina streifen muss, und weil England heute noch eine gewisse „serenity“ in der Auffassung der Judenfrage besitzt. Wird jdie Anregung zur Versammlung des europäischen Areopags nicht aus dem britischen Foreign Office kommen, so könnte möglicherweise der deutsche Kaiser sich dieser Sache annehmen, die er kennt. Tatsächlich interessiert sie alle Staaten, es ist eine internationale im höchsten Sinne, und der Zusammentritt einer solchen Konferenz würde sicherlich den allgemeinen Wünschen entsprechen. Es wäre eine Friedenskonferenz von ungewöhnlicher Art und zur Ehre der Menschheit.

Ob aber die Juden wollen? Diese Frage hat der Baseler Kongress einmütig und begeistert bejaht. Die breiten Schichten unseres Volkes waren dort vertreten durch Schriftsteller, Gelehrte, Advokaten, Ärzte, Techniker, auch Kaufleute und Bankiers.

Daß die ungeheure Mehrheit der Juden in der ganzen Welt mit den Baseler Beschlüssen einverstanden ist, darf heute ruhig behauptet werden. Aus allen Weltteilen, aus jedem europäischen Lande kommen uns fortwährend Berichte zu aus Vereinen und Massenversammlungen, wo 200, 500, 1000 und mehr Personen die Baseler Beschlüsse ihrer Vertreter enthusiastisch gutheißen. Was hat es dagegen zu sagen, wenn sich an einzelnen Orten Rabbiner erheben, die gegen den Zionismus protestieren? Vielfach wird außerhalb des Judentums die Autorität dieser Herren überschätzt. Zu einer politischen Meinungsäußerung sind sie von ihrer Gemeinde überhaupt nicht bevollmächtigt. Wenn einer beispielsweise Chiefrabbi wird, weil er sich der Gunst einiger reichen Leute erfreut, so verleiht ihm das noch nicht die mindeste Autorität, denn wir kämen ja auf diese Weise dahin, die Lehre im Tempel von den Geldsäcken bestimmen zu lassen. Unsere geachtetsten, gelehrtesten und wahrhaft frommen Rabbiner sprechen sich im Sinne der Religion für die Heimkehr der Juden aus.

Nun schiene es freilich, daß die Patronanz der Haute Banque für die Sache erforderlich sei. Es ist wahr, diese internationalen Finanziers sind reich genug, das Werk zu fördern; sie sind nicht reich genug, es zu verhindern. Wenn sie alles kaufen können, das Stück Blech, aus dem die Feder eines unabhängigen Schriftstellers gemacht ist, können sie nicht kaufen. Der demoralisierte Teil der Presse mag ihnen bei ihren verdächtigen Unternehmungen zu willen sein, sie werden eine Volksbebewegung von so raschem Wachstum nicht mehr ersticken. Sic sollen nur die Achseln zucken und lächeln über die Utopien und Träume. Der Tag ist vielleicht nicht fern, wo sie die Fabel anders ansehen werden. De te fabula narratur! Es könnte sich begeben, daß diese komische Bewegung der Elenden, die von einigen verrückten Leuten geführt wird, im blutigsten Ernst vor ihnen steht. Wie? Da sind ein paar Leute, deren Finanzfäden wie ein Netz alle Länder umspannen. Da sind ein paar Leute, qui font la pluie et le beau temps in den wichtigsten Lebensbedingungen der Völker. Aber jede Erfindung frommt nur ihnen, durch jede Not wächst ihre Macht. Und wofür gebrauchen sie diese Macht? Haben sie sich in den Dienst irgendeiner sittlichen Idee gestellt, ja stehen sie auch nur bei ihrem eigenen Volke, dem es so bitterlich schlecht geht?

Das werden wir sehen. Die Frage ist formuliert, und sie spitzt sich zu.

Man kann ohne sie nicht Krieg führen und nicht Frieden schließen. Sie haben den Kredit der Staaten und die Unternehmungen der einzelnen in ihren gierigen Händen. Die neue Erfindung muss gedemütigt vor ihren Türen betteln, und mit anmaßender Überlegenheit urteilen sie über die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen ab.

Ist also auch der Zionismus von ihrer Gnade abhängig? Nein, merkwürdigerweise nicht. Ungeachtet ihres Stirnrunzeins, ihres Hohnes, und trotz der Angriffe ihrer Preßlakaien schreitet unsere Volksbewegung fort. Von unserem Proletariat mit Jauchzen und Schluchzen begrüßt, hat sie sich schon überall die Intelligenz erobert und beginnt den wirtschaftlichen Mittelstand zu gewinnen. Und was bedeutet das? Sind das leere Deklamationen, Vereinsunterhaltungen oder Versammlungsscherze? Nein, das bedeutet die Organisierung der Juden, die möglicherweise eines Tages zu einem Boykott verwendet werden kann, wie man ihn noch nicht gesehen hat. Die Macht dieser Leute besteht weniger in den Haufen Geldes, die sie besitzen, als in dem Kredit und im Umfang ihrer Geschäfte. Von außen her war ihnen bisher nicht beizukommen, wie löbliche Versuche in dieser Richtung auch gemacht wurden. Jeder solche Versuch galt bisher als antisemitisch und hatte darum von vornherein die Antipathie der jüdischen Geschäftswelt gegen sich. Das aber wäre etwas anderes, wenn man den ebenfalls schon bedrängten Mittelstand im Namen der nationalen Idee gegen die Geldmagnaten aufriefe. Mitreißen oder niederreißen!

Vorläufig sind wir noch nicht so weit. Dieser flüchtige Ausblick auf den finanziellen Boykott sollte nur andeuten, daß wir Schwärmer eventuell sehr konkrete Mittel zu verwenden gedenken. Der Baseler Kongress hat bekanntlich auch die Gründung einer jüdischen Bank beschlossen. Das Präsidium ließ die sofortige Diskussion der vorliegenden Projekte nicht zu, weil die Autorität des Kongresses nicht für den erstbesten Vorschlag eingesetzt werden durfte. Eine Bank für jüdische Kolonialzwecke mit zwei Millionen Pfd. Sterl. Aktienkapital wird ein hinreichend starkes Instrument sein für die nächsten finanziellen Aufgaben. Wer den Umfang unserer Bewegung kennt, muss es für wahrscheinlich halten, daß zwei Millionen Shares à ein Pfd. Sterl. in der ganzen Welt rasch gezeichnet sein werden. Man empfindet eigentlich eine gewisse Scheu vor der Berührung dieser Gegenstände, wenn man kein Geschäftsmann ist. Aber wir müssen da hindurch, die Konsequenz des Gedankens erfordert es, und die vollständige Inkompatibilität des Geschäftlichen mit dem Politischen wird die Leiter der Bewegung vielleicht vor allzu kotigen Angriffen bewahren.

Ich will schließen, wie viele Fragen auch noch auftauchen. Von wem und wie das Land zu erwerben sei und so weiter. Ich habe diese Dinge im Oktoberheft der Contemporary Review ausführlich behandelt und möchte jetzt die Gastfreundschaft dieses Blattes nicht missbrauchen. Die Andeutungen mögen genügen. Die unbefangenen Organe der öffentlichen Meinung werden wohl überall ihren Vorschlag einer europäischen Konferenz für die Judenfrage erörtern. Und wenn diese Konferenz dann einberufen wird, so möge sie ein Werk vollbringen, das der Zivilisation unserer Tage würdig ist. Die territoriale Lösung der Judenfrage bedeutet eine Erleichterung für Europa und die Erlösung für uns.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften