Der Kongress.

Der für Ende August nach München einberufene Kongress wird vermutlich ein Datum in der Geschichte der Juden bilden. Schon jetzt hat der Kongress die Ehre, recht lebhaft bekämpft zu werden. Und er hat das Glück, in seiner Existenz gesichert zu sein.

Aus den meisten Ländern Europas sind bereits Delegierte angemeldet, ferner aus Asien, Afrika, und großartig hat in den Vereinigten Staaten von Amerika die Agitation für die Beschickung des Kongresses begonnen. Alles, was die Juden betrifft, wird von jeher mißverstanden oder entstellt. Nicht anders ergeht es unserer Bewegung. Aber schlimmer als die geringfügigen Spötteleien unserer Feinde wirkt in diesem Falle die Angst mancher unserer Stammesgenossen, die um des Himmels willen nur von einer Judensache nichts hören mögen, und gar von einer gemeinsamen Judensache! Denn unseren Gegnern muss es gestattet sein, von Land zu Land einander die Hände zu reichen. Uns nicht. Wir müssen als Zusammengehörige verfolgt werden und dürfen uns nur in kraftloser Isolierung wehren, wenn überhaupt . . .


Was ist das aber für eine gemeinsame Sache, die wir in München vorhaben? Soll da etwa ein internationaler Bund geschlossen werden zur Bekämpfung unserer christlichen Mitbürger oder zur Herstellung einer Organisation, welche den Erdkreis umspannen und dem jüdischen Einflüsse dienstbar machen soll?

Wir empfehlen nicht nur unseren Freunden, sondern auch unseren rechtschaffenen Feinden, solche abenteuerliche Erzählungen mit Verachtung abzuweisen und sich die Erzähler daraufhin anzusehen, ob es Einfaltspinsel oder dunkle Ehrenmänner seien. Was wir wollen, sagen wir selbst, sagen es in aller Einfachheit, und wenn der Ton der Wahrheit in unseren Worten ist, werden alle wahrheitsliebenden Menschen ihn herausfühlen.

Mit den inneren Zuständen unserer Vaterländer beschäftigen wir uns weder auf dem Kongress noch anderswo in einer gemeinsamen Weise. In diesen Dingen haben wir nichts Gemeinsames und perhorreszieren ausdrücklich und nachdrücklich jederlei Zusammenwirken. Wir wären doch töricht, wenn wir in die Öffentlichkeit gingen, um uns über dergleichen zu verständigen. Wer vernünftig und ruhig nachdenkt, wird vielmehr gerade im Gegenteile finden, daß die geplante öffentliche Erörterung der jüdischen Frage ein Beweis für die vollkommene Loyalität unserer Bestrebungen ist. Der Kongress ist nur soweit international, als es die Frage selbst ist. Zur Lösung dieser in vielen Ländern bestehenden, gleichartigen, wenn auch verschiedentlich abgestuften Schwierigkeiten ist das Zusammenwirken von Juden aus all den Ländern erforderlich. Das wollen wir — nichts drunter und nichts drüber.

Wir stecken nicht den Kopf in den Sand: die Judenfrage besteht, sie wird sogar von Tag zu Tag ärger, und wo sie heute nicht ist, wird sie morgen sein. Sie kann ohne unser Hinzutun nicht in einer friedlichen Weise gelöst werden. Darum ist das Werk, das wir unternehmen, ein Versöhnungswerk. Wir konzentrieren die immerhin nicht unbedeutenden Kräfte der Judenheit auf diesen Punkt. Es ist jetzt nicht der Augenblick, langwierig und eingehend zu besprechen, wie das im einzelnen geschieht und noch weiter zu geschehen hat.

Der Ernst, das Maß und die Offenheit in unserem Wirken können unserer Sache auch nichtjüdische Sympathien erwerben, daran ist nicht zu zweifeln. Die Verhandlungen des Kongresses werden hoffentlich einiges an dem herkömmlichen Bilde, das man sich von den Juden macht, berichtigen. Schon stehen uns allerwärts Freunde von einer neuen Art auf, Freunde, die sich wahrhaftig nicht als Antisemiten an unserem Gedanken begeistern, die mithelfen wollen, diesen alten Jammer aus der Welt zu schaffen.

Wie groß der Jammer der zerstreuten Juden ist, das weiß man außerhalb des Judentums eigentlich noch gar nicht. Der Kongress wird eine Übersicht der Lage liefern und die Mittel zur Abhilfe beraten. Und das soll geschehen ohne Gewinsel, ohne Betteleien, aber auch ohne Schmähung der Andersdenkenden. Der Kongress hat eine so große Aufgabe, daß er über Nichtigkeiten ruhig zur Tagesordnung übersehen wird.

Wir sind mit unseren Bestrebungen durch die merkwürdigste Fügung in eine Zeit hineingeraten, wo im Orient mancherlei Wirren eine Verbesserung der Zustände wünschenswert machen.

Der Abfluß jüdischer Massen nach dem Lande der Väter würde nicht nur eine Erleichterung für die vom Antisemitismus aufgewühlten Staaten bedeuten, in denen die Juden zu den äußersten Umsturzparteien hingedrängt werden, sondern auch dem türkischen Reiche einen Zuwachs an Kultur und Wohlstand bringen. Unsere Lösung der Judenfrage besteht in der Aufhebung zweier Kalamitäten — die eine kann durch die andere beseitigt werden. Die Teilung der Türkei wünscht jetzt niemand, denn das würde den Weltkrieg bedeuten. Dabei schreien die türkischen Finanzen doch nach einer Ordnung, und man sieht nicht recht, wie diese hergestellt werden könnte. Selbst wenn die Griechen fähig wären, eine Kriegsentschädigung auch nur zu versprechen, wird dennoch niemand glauben, daß den dringendsten Bedürfnissen damit abgeholfen wäre. Bliebe also wieder nur das alte Spiel der Anleihewu cherer, die das osmanische Reich immer tiefer in die Misere bringen, unter immer härteren Bedingungen, und schließlich auch zum Schaden der angelockten Gimpel. Eine wirkliche Ordnung der Finanzlage kann die Türkei nur von den Nationaljuden erwarten.

Der regierende Sultan Abdul Hamid ist ein Herrscher voll großmütiger Regungen, voll menschlichen Mitgefühls für alle Leiden. Wer ihn kennt, weiß, daß gerade dieser viel angefeindete Kalif in seinem milden Herzen tief bekümmert ist über das Unglück mancher seiner Untertanen, denen er in patriarchalischer Denkweise ein Vater sein will.

Wir halten eine Verständigung mit diesem gütigen Fürsten unter Zustimmung der von der Judennot befreiten Mächte nicht nur für wünschenswert, sondern auch für möglich. Allerdings könnte dies nur auf der gesicherten Grundlage unternommen werden, daß das künftige Schicksal der einwandernden Juden vor Zufälligkeiten und Fährlichkeiten geschützt sei. Der politische Zionismus denkt nicht lediglich daran, die notleidenden Juden fortzuschaffen; es muss auch im Vorhinein dafür gesorgt werden, daß sie das heutige Elend nicht mit einem unbestimmten, unberechenbaren vertauschen. Wir wollen keinen Menschenschmuggel betreiben. Die Ansiedlung einzelner Personen oder kleiner Gruppen in Palästina kommt nicht wesentlich in Betracht. Wir bekämpfen diese harmlosen Versuche nicht, denn sie beweisen immerhin die Tüchtigkeit und Ackerbaulust unserer armen Arbeiter. Eine endgültige Lösung der Judenfrage können solche vom besten Willen eingegebene Versuche nicht bringen, und wollte man sie in größerem Maßstabe betreiben, so würden sie vielleicht die türkische Regierung mit Mißtrauen erfüllen. Uns aber liegt nichts ferner, als eine planlose Bewegung einzuleiten. Es wäre geradezu gegen unser Interesse, das Land unter ungenügenden Rechtsbedingungen zu kultivieren.

Der Kongress wird für alles hier nur flüchtig Angedeutete die feste und gute Form zu finden haben. Dem Kongresse strömen seit Wochen, seit die Einberufung verlautbart ist, die Klagen und Wünsche unserer gedrückten Brüder zu. Der Kongress wird das Vertrauen derjenigen zu rechtfertigen haben, die seinen Worten lauschen und sich nach seinen Anordnungen gehorsam in Reihen gliedern wollen. Noch wissen wir nicht, wann und auf welchen Wegen wir zum Ziele kommen werden. Aber dieses freudige Bewußtsein besitzen wir alle, die wir am Werke mitarbeiten: daß wir vielen das Geschenk der Hoffnung gegeben und den Ärmsten das Glück der weiten Horizonte eröffnet haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften