Der Baseler Kongress. 1897

In den drei letzten Tagen des August 1897 hat in Basel ein Kongress stattgefunden, dessen Bedeutung anzuerkennen jetzt schon Freunde und Feinde ziemlich einig sind. Es war der Kongress der Zionisten. Das Wort selbst war vorher in der Öffentlichkeit soviel wie unbekannt. In Basel stellte sich der Zionismus sozusagen der nicht jüdischen Welt vor, und man erfuhr aus den Verhandlungen, welche Ziele diese Bewegung anstrebt.

Wer ein bißchen am öffentlichen Leben teilgenommen hat, weiß, unter welchen Missverständnissen, Anklagen, Verleumdungen jeder politische Gedanke in die Diskussion gerät. Es kommt wohl daher, daß über allgemeine Gegenstände jeder ein maßgebendes Urteil zu haben glaubt, und je weniger einer die letzten Konsequenzen zu überblicken fähig ist, um so rascher und bestimmter pflegt er sich zu äußern. Für den gelassenen Betrachter menschlicher Dinge ist das ein Born immer frischer Heiterkeit. Unternimmt man ein schweres Werk, so muss man sich vor allem die Freiheit der Anschauung für die Gegner bewahren. Dann dienen ihre heißesten, auch ihre bösesten Bemühungen nur dazu, den Schaffenden zu erquicken. Ich kann sagen, daß, seit ich mich um das Los meiner armen Brüder bekümmere und viel Elend kennengelernt habe, unendlich viel mehr, als ich zu Beginn vermutet hatte, die krampfhaften Anstrengungen der Gegner die einzige Quelle des Vergnügens für mich waren. That was the humour of it. Sonst ist es eine traurige Sache. Unsere Bewegung ist aus der Not geboren, aus der Not der Juden in der ganzen Welt. Aber bevor ich weitergehe, will ich für die Leser, welche auch noch nicht das erste Wort von der Sache kennen, die Definition des Zionismus geben. Diese Definition war in meinem vor anderthalb Jahren erschienenen Buche „Der Judenstaat“ formuliert, und der Baseler Kongress hat sie sanktioniert. „Der Zionismus strebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte an für diejenigen Juden, die sich an ihren jetzigen Wohnorten nicht assimilieren können oder wollen.“


Wenn ich diesen mir schon so geläufigen Satz, den ich oft und oft ausgesprochen, unzähligemal verteidigt habe, wieder überlese und dabei bedenke, zu welchen Kämpfen innerhalb der Tudenheit er bereits Anlass gegeben hat, und wie er jetzt, wo er aus dem Getto hinaustritt, von allen Seiten angepackt, gezaust und manchmal durch die Gosse geschleift wird, so muss ich mich über die Blindheit der Leidenschaften wundern. Vielleicht wird es den unbefangenen Lesern dieser Zeilen ähnlich ergehen. Man sollte doch meinen, daß eine so bescheidene Forderung, die niemandes Rechte gefährdet oder verletzt, so wilde Stürme nicht erregen müßte. Es gibt dafür nur eine zureichende Erklärung: Die Judenfrage passioniert noch heute wie in alten Zeiten die Gemüter, und in diesem Jahre des Heils ist man noch ebensowenig zu ruhiger Rede über die Juden abgeklärt wie in den achtzehn Jahrhunderten, seit unsere besiegten Vorväter in die Kriegsgefangenschaft fortgeschleppt und über den Erdkreis verstreut wurden. Und da wagen es manche Juden, zu behaupten, daß es eine Judenfrage überhaupt nicht gebe. Nein, nein, die Judenfrage ist leider wirklich vorhanden, und wer sie am Leib oder an der Seele erfahren hat, der wird den Schmerz nie wieder los. Und in solcher Lage befinden sich die meisten Juden der Welt. Es ist heute so wenig wie je vorher meine Absicht, eine empfindsame Stimmung für die Juden hervorzurufen. Ich konstatiere einfach, daß wir leiden. Max Nordau hat das auf dem Baseler Kongress in Worten gesagt, deren edlen Schmerz und Wohlklang man nicht übertreffen kann. Er meinte: „Das ist die sittliche Judennot, die bitterer ist als die leibliche, weil sie höher differenzierte, stolzere, feiner fühlende Menschen heimsucht.“

Es sei unumwunden eingestanden, daß wir Zionisten das moralische Leiden der Juden für das größere halten, obwohl wir in manchen Ländern Brüder haben, welche blutig verfolgt, misshandelt, im Erwerb und in der Sicherheit des Besitzes beeinträchtigt werden. Grausamkeiten und Notstände aller Art müssen auch andere Volksminoritäten und Individuen in der ganzen Welt erdulden, da wir noch weit sind von jenem idealen Zustande, wo jeder durch die Gerechtigkeit aller die Erdentage glückselig verbringen wird. Wir verlangen auch nicht, daß es gerade den Juden besser gehen müsse als anderen Menschen. Nur das odiose Privileg möchten wir beseitigen, daß wir eine Ausnahmestellung einnehmen sollen, weil wir als Juden geboren sind. Jedem nach seinen Werken! ist auch unser Spruch, und wir sehen zur Herbeiführung dieses gerechteren Zustandes kein anderes Mittel, als die Herstellung einer rechtlich gesicherten, dauernden Heimstätte für das jüdische Volk.

Aber dies schien ja die Vorfrage: ob es überhaupt noch ein jüdisches Volk gebe. Natürlich leugneten das diejenigen, die ein Volk nur dort sehen, wo eine Masse von Menschen territorial geeint beisammen haust. Daß der besondere Fall der Juden individualisiert werden und daß man vorher zur reinen Definition des Volkstums greifen müsse, das übersahen diese scharfsinnigen Denker. Ich glaube, die Nation ist eine historische Gruppe Menschen von erkennbarer Zusammengehörigkeit, die durch den gemeinsamen Feind zusammengehalten wird. Man werfe einen Blick auf die Geschichte der Nationen und sage, ob eine einzige anders entstanden ist. Akzeptiert man aber diese historische Definition des Volkes, so wird es schwer sein, zu bestreiten, daß auch die Juden eins sind. Sie sind sogar ein Volk von ganz außerordentlicher Zähigkeit der Existenz, da sie ihren Staat und den Besitz ihres Territoriums um achtzehn Jahrhunderte unter beispiellosen Qualen überlebt haben.

Diese Behauptungen stellte ich schon im „Judenstaat“ auf. Heute brauchen wir ein solches Raisonnement überhaupt nicht mehr, denn an Stelle der logischen Folgerungen und historischen Nachweise ist eine Tatsache von ganz neuer Kraft und Bedeutung getreten: Der Baseler Kongress! Auf dem Baseler Kongress haben die Juden durch konkludente Handlungen und ausdrückliche Erklärungen ihr Volkstum dargetan. Natürlich wird auch das bestritten. Alles wird bestritten, was wir sagen und tun. Es ist vielleicht noch selten vorgekommen, daß Tatsachen, die vor aller Augen liegen, mit solcher Kühnheit geleugnet werden, wie in unserem Falle. Schwarz wird weiß genannt, das Gerade heißt krumm, und Ja ist Nein. Wer das eine Zeitlang durchgemacht hat, der wird völlig abgestumpft gegen den Widerspruch, besonders wenn er es mit Gegnern zu tun hat, die nicht einmal ihren eigenen Behauptungen treu bleiben.

Von nicht jüdischer Seite wird unser Volkstum überhaupt nicht in Abrede gestellt. Mit den weiteren Konsequenzen dieses Volkstums sind freilich nicht alle einverstanden, aber gegen die Tatsachen selbst hat kein unbefangener Mensch etwas einzuwenden.

Juden ist es vorbehalten, sich dagegen aufzulehnen; Juden gibt es, die sich mit aller Gewalt dagegen stemmen. Warum? Es liegt hier ein Missverständnis der Angst vor, und in der Angst gehen die Herren zu weit. Sie sollten sich damit begnügen, zu erklären — wenn es gerade für den einzelnen sich als notwendig erweist, eine solche Erklärung abzugeben —, daß sie für ihre Person dem jüdischen Volke nicht oder nicht mehr angehören. Ein derartiges Bekenntnis wird jeder mit Achtung anhören, wenn im übrigen der Charakter des Bekenners Achtung verdient; wenn er nicht verdächtig ist, aus niedrigen Beweggründen so zu sprechen.

Aber das ganze Volk aus der Welt hinauszuleugnen, weil man ihm nicht angehören will, das ist ein Übermaß der Vorsicht und zugleich eine Unbescheidenheit in der Beweisführung. Herr X. oder Madame Y. sind keine Juden — vortrefflich! (In einzelnen Fällen sogar sehr vortrefflich für uns.) Aber darum kann es doch noch ein Volk der Juden geben.

Und was die jüdischen Gegner der jüdischen Nation sonst noch für kuriose Sprünge machen! Ich muss dabei zuweilen an eine Anekdote aus dem Getto denken, eine jener Anekdoten, die Heinrich Heine so ergötzlich fand. Zwei Juden kommen vor den Richter. Der Kläger fordert Entschädigung für einen ausgeliehenen Topf, den ihm der Geklagte zerbrochen wiederbrachte. Der Beklagte wendet dagegen dreierlei ein: „Erstens hat er mir überhaupt keinen Topf geliehen. Zweitens war der Topf schon gebrochen, als er mir ihn gab. Drittens habe ich ihn ganz zurückgestellt.“ Der Vergleich ist burlesk, die Sache selbst ist es in noch weit höherem Grade. Es wirkt komisch, wenn einzelne Juden sagen: „Erstens bilden die Juden keine Gemeinschaft. Zweitens hat das Judentum eine Mission in der Welt zu erfüllen. Drittens sind wir nur Patrioten, die an nichts als an ihr besonderes Vaterland denken.“

Eins. Die Juden bilden keine Gemeinschaft? Ja, dann ist auch der Leugner nicht befähigt, eine andere als seine individuelle Auffassung zu sagen, die soviel oder sowenig Autorität für die Übrigen hat wie dieser einzelne Sprecher.

Zwei. Das Judentum hat eine Mission. Also gibt es doch eine Gemeinschaft? Denn das Judentum, dessen Diaspora als notwendig erklärt wird, kann doch nur in den menschlichen Trägern bestehen. Der ideelle Gehalt des Judentums ist ja unabhängig von diesen Trägern und gehört längst in sittlichen Gedanken und unvergänglichen Schriften der Kulturmenschheit. Demnach fühlten die Juden den Beruf in sich, die ganze Welt zu hofmeistern? Das ist nicht wahr. Wenn dem so wäre, schlösse es die lächerlichste und zugleich widerwärtigste Überhebung in sich. Diesen Dünkel mögen einzelne Leute haben, die Gemeinschaft der Juden hat ihn gewiß nicht. Wir wollen nur in Reih und Glied mit den anderen Völkern an der Herbeiführung glücklicherer Zeiten für alle Menschen arbeiten. Dieser Traum ist groß genug.

Drei. Der patriotische Einwand. Wir Zionisten haben das Gefühl, unserem Vaterlande gut zu dienen, wenn wir zu einer geordneten Ableitung überschüssiger, die Unzufriedenheit erregender und selbst tief unglücklicher Menschen verhelfen. In manchem Lande bedeutet das nicht mehr und nicht weniger als die Herstellung des Friedens unter den Bürgern. Ist das etwa ein unpatriotisches Werk? Und wer sind die mitunter recht ungestümen Vertreter dieser Einwendung? Der Hauptverfechter des Patriotismus für England ist der Chiefrabbi von London, Herr Adler, ein Deutscher. Über preußischen Patriotismus erteilt die Lehren der Rabbiner Dr. Maybaum von Berlin, ein Ungar. Und in letzter Zeit hat sich dem Protest als Belgier auch der Rabbiner von Brüssel angeschlossen, Mr. Bloch, der nach seinem Namen zu urteilen weder ein Flamänder noch ein Wallone ist.

Für einzelne Länder hat der Zionismus einen präventiven Wert. Es gibt heute zwei Oasen in der antisemitischen Welt: England und Ungarn. In Ungarn aber hat man bereits die Grenzsperre gegen die Einwanderung der armen galizischen und russischen Juden ernstlich erörtert. Und England wird morgen antisemitisch sein, wenn der Zufluß unglücklicher russischer Juden nach dem Londoner Eastend auftaucht, während sich gleichzeitig die jüdischen Paläste um den Hydepark herum auffallend vermehren. Es ist auch in England und Ungarn Zeit, höchste Zeit, die Notwendigkeit einer Ableitung einzusehen. Nun wären wohl manche, vielleicht alle, die sich in gesicherter Position befinden, mit der von uns vorgeschlagenen Kolonisation der proletarischen Volkskräfte einverstanden; nur dürfe von den öffentlichrechtlichen Garantien nicht gesprochen werden, das könnte Mißtrauen gegen den Patriotismus derer erregen, die bleiben wollen. Allons donc! Welcher vernünftige und loyale Mensch wird etwas Arges darin sehen, wenn für eine so große Volksbewegung zunächst die völkerrechtlichen Sicherheiten gefordert werden? Dem Zionismus gehorchen heute bereits große Volksmassen mit Hingebung, aber nur unter einer Bedingung: daß die Rechtsbasis in unseren Wünschen nicht aufgegeben werde. Ein Verlassen dieses Standpunktes würde die Führer der Bewegung augenblicklich um alle Autorität bringen, und die heute bereits zum Volksbewußtsein gebrachten Massen würden sofort wieder in Atome zerstäuben. Es war in dieser Hinsicht auf dem Baseler Kongresse sehr lehrreich, zu sehen, wie gerade die Vertreter der breiten Schichten einer Einschränkung des Grundsatzes der öffentlich-rechtlichen Sicherung mit Heftigkeit widerstrebten. Die Programmkommission hatte die Fassung „rechtlich gesicherte Heimstätte“ vorgeschlagen. Dagegen wurde stürmisch verlangt, es müsse „völkerrechtlich gesicherte“ heißen. Man einigte sich erst auf das vermittelnde Wort „öffentlich-rechtlich“. Der Sinn dieses Wortstreites ist, daß der Kongress nicht die Erwerbung von Ländereien, sondern eines Landes für das Volk wünscht und das so deutlich hervorheben will, als es angeht, ohne gewisse legitime und souveräne Empfindlichkeiten zu verletzen.

Ländereien können wir privatrechtlich überall in der Welt in jedem Augenblick erwerben. Um das handelt es sich den Zionisten gar nicht. Das Privatrechtliche ist in unserem Falle überhaupt gleichgültig, es wird später kommen, sowie sich die Bodenspekulanten nach dem Erfolg unserer Bewegung anschließen werden. Der Blick der Zionisten ist nur auf das öffentliche Recht gerichtet. Da suchen sie die Lösung des alten Übels. Wenn ich das paradox ausdrücken dürfte, würde ich sagen: Ein Land, das nach öffentlichem Rechte dem Judenvolke gehört, das aber bis zur letzten Parzelle grundbücherlich im Eigentum von Nicht-Juden ist, bedeutet die Lösung der Judenfrage für immer. Hingegen ruft das Anwachsen des privatrechtlichen Grundbesitzes in jüdischen Händen überall den Antisemitismus hervor. Hier ist der Kern der ganzen Frage. Vielfach ist behauptet worden, daß die Richtung des Zionismus, die ich vertrete, nichts anderes sei, als was schon Baron Hirsch und andere versuchten, um die jüdischen Proletarier zu Ackerbauern zu machen. Aber ich glaube, daß es doch etwas Verschiedenes sei. Hirsch und die Liebhaber von Zion gingen von der privatrechtlichen Seite an die Frage heran, während wir, die politischen Zionisten, die Sache nach öffentlichem Recht anpacken wollen.

Darin steckt nun, wenn mich nicht alles täuscht, weder Größenwahn noch irgendeine gesetzwidrige Absicht. Es ist lediglich der Versuch einer adäquaten Behandlung dieser großen Sache. Und schon in unserem öffentlichen Vorgehen ist wohl der Beweis erbracht, daß wir nichts gegen Recht und Moral vorhaben. Wir haben in Basel eine Versammlung vor aller Welt abgehalten, und da ist das Volksbewußtsein, der Volkswille in zuweilen erschütternden Ausdrücken zum Vorschein gekommen. Nach Basel zogen Juden aller Länder, aller Zungen, aller Parteien, aller Formen des religiösen Bekenntnisses. Es waren über zweihundert Vertreter des jüdischen Volkes, die meisten waren Delegierte von Hunderten und Tausenden.

Die Herren aus Rumänien brachten allein über fünfzigtausend Unterschriften ihrer Auftraggeber mit. Nie gab es eine buntere Versammlung von Meinungen in einem so engen Raum. In jeder anderen beratenden Körperschaft hätte es aber sicherlich mehr Kampf der Meinungen gegeben als in dieser. Da waren Leute beisammen, die sich in ihren philosophischen und religiösen, in ihren politischen und wirtschaftlichen Anschauungen schroff gegenüberstehen, die das voneinander wissen, die das voreinander nicht verbergen. Kurz, die Parteien, die es in jeder Nation gibt und die das Gedeihen des Volkes nicht hindern, sondern fördern. Aber in Basel wurden alle Gegensätze zurückgestellt, als hätte eine Verabredung stattgefunden, daß man in den großen Augenblicken, wo die Nation aufstand, nicht mehr Sozialist, Liberaler oder Konservativer, nicht mehr Freidenker oder Orthodoxer sein solle, sondern nur Jude. Wir alle, die wir nach Basel gingen, um über die Lösung der Judenfrage zu beraten, wir waren ?berrascht, überwältigt, als sich gleichsam über unseren Köpfen etwas vollzog, das wir in dieser Fülle und Gewalt nicht geahnt hatten: Die Einmütigkeit im Judentum! Wir waren auch zu bewegt, um uns gleich davon genaue Rechenschaft zu geben.

Der Rabbiner von Basel, der nicht Mitglied des Kongresses war, sondern als Zuschauer den Verhandlungen beiwohnte, erbat sich in der letzten Sitzung das Wort, um feierlich zu erklären, daß er ein entschiedener Gegner des Zionismus gewesen und bekehrt worden sei. Und dieser ehrliche Mann, den wir schon achteten, als er unser Gegner war, ist seither ein Apostel unserer Bewegung.

Selbst die kühlen, die fremden und auch die in spöttischer Absicht erschienenen Zuhörer wurden, wie wir später vernahmen, von dem Vorkommnis tief ergriffen. Und was es für uns selber war, was wir dabei empfanden, als die wiedergeborene Nation zum ersten Male die Augen aufschlug? Alte Männer mit weißen Barten schluchzten bitterlich. In den Augen der Jungen entzündete sich ein großer Ernst.

Aber ich will nicht von unseren Empfindungen sprechen.

Es hat ein jüdischer Gentleman in der „Times“ einige vorlaute Bemerkungen über den Baseler Kongress gemacht. Wäre er in Basel gewesen, er hätte sich vielleicht diese törichten Reden erspart. Er meinte unter anderem, der Kongress wäre keine richtige Nationalversammlung gewesen, weil gewisse wohltätige Körperschaften und Gemeindevorstände nicht vertreten waren. Sie waren nicht da? Parbleu, wir hatten sie nicht eingeladen. Was gehen uns denn die Gemeindevorstände, Wohltätigkeitsgesellschaften und alle jüdischen Pickwickklubs an? Der gute Einsender der „Times“ hat unsere Bewegung einfach nicht verstanden. Er weiß nicht, was die Auferstehung der Nation ist. Er hat nicht bemerkt, daß wir ohne alle Galadiners und Spendensammlungen bereits begonnen haben, das Judentum auf neue Grundlagen zu stellen. Es ist hier nicht der Platz, über das jüdische Gemeindeleben und seine Auswüchse zu sprechen. Was es da an Narrheiten, Aufgeblasenheiten und drolligen Mißbräuchen gibt, kann nicht Gegenstand unserer heutigen Betrachtungen sein.

Vieles davon erscheint komisch oder hässlich, wenn man es sich nicht mit nachdenklichem Erbarmen aus dem Werdegang dieser Gruppen erklärt. Die Rolle der Reichen in der Gemeinde, die Gefügigkeit mancher Priester, das zwitterhafte Bestreben, die alte Tradition mit einem übertriebenen Nachahmen der Landesgewohnheiten zu vereinigen, die dreiste Bettelhaftigkeit der wirtschaftlich Schwächeren — für das alles hat der Geschichtskundige Erklärungen voller Nachsicht. Aber wenn wir der Gemeinde auch nicht zürnen, so sind wir doch weit entfernt, uns von ihr beeinflussen zu lassen. Der Zionismus stellt eine andere Gemeinde des Judentums auf, eine neue, größere, eine einzige. Und ein anderes repräsentatives System.

Es gibt auch einen gewissen westeuropäischen Hochmut, welcher die Juden anderer Länder als recht zurückgebliebene Geschöpfe behandelt.

Immer ist der ein Barbar, der nicht verstanden wird. Barbarus hic ego sum, quia non intelligor ulli. Und so stellt man sich wohl unter dem osteuropäischen Juden eine Art Kaliban vor. Welcher Irrtum! Für mich, ich gestehe es, war das Auftreten der Juden aus Russland das größte Ereignis des Kongresses. Ich war schon seit einiger Zeit in fesselnder Korrespondenz mit mehreren, hatte auch verschiedene Besuche erhalten, die mich interessierten. Aber ich hütete mich davor, mir nach diesen Kulturmenschen ein Bild von der Masse zu machen. Nur die Berichte über die körperliche Tüchtigkeit und Arbeitslust der unteren jüdischen Schichten in Russland nahm ich als wahr an und musste sie als wahr annehmen, da sie genügend beglaubigt erschienen und von jedem Augenzeugen bestätigt wurden, der die ärmsten russischen Juden beim Handwerk oder bei der Landarbeit in den „Kolonien“ genannten philanthropischen Versuchsstationen gesehen hatte. Die Tüchtigkeit dieser Arbeiter und unskilled labourers ist ja eine der Grundlagen unseres Planes. Ihnen fällt doch die Aufgabe zu, die erste Kulturarbeit im öden Lande zu besorgen. Sie wollen, sie werden die Urbarmacher sein. Aber wir hatten uns nie etwas anderes vorgestellt, als daß sie auf unsere geistige Hilfe und Führung angewiesen seien. Und da tauchte vor uns auf dem Baseler Kongress ein russisches Judentum auf, das wir in solcher Kulturstärke nicht erwartet hatten. Das ist nicht Kaliban, sondern Prospero. An die siebzig Mann aus Russland waren auf dem Kongress erschienen, und wir durften mit aller Bestimmtheit sagen, daß sie die Meinungen und Gefühle der fünf Millionen Juden in Russland repräsentieren.

Und welche Beschämung für uns, die wir geglaubt hatten, ihnen überlegen zu sein. Alle diese Professoren, Ärzte, Advokaten, Ingenieure, Fabrikanten und Kaufleute haben ein Bildungsniveau, das gewiß nicht unter dem der Westeuropäer ist. Sie sprechen und schreiben im Durchschnitt zwei oder drei moderne Kultursprachen, und daß jeder in seinem Fache tüchtig sein muss, lässt sich aus der Härte des Daseinskampfes vermuten, den sie in ihrem Lande zu bestehen haben. Sie sind in der Öffentlichkeit der Kongressverhandlungen mit Absicht nicht sehr hervorgetreten, weil man ja damit rechnen muss, daß die Zwecke und Ziele des Zionismus in der Welt noch nicht genügend bekannt sind. Der Irrtum konnte bestehen oder von Böswilligen hervorgerufen werden, daß in Basel irgend etwas gegen die geltende Ordnung der Dinge beraten werde. Die Russen hatten sich daher aus begreiflichen Gründen eine gewisse Reserve aufzuerlegen, bis das Terrain in dieser Richtung geebnet wäre, und jeder einzelne Redner, aus welchem Lande er auch immer gekommen war, nahm auf diese Situation Rücksicht. Heute darf wohl schon angenommen werden, daß Regierung und öffentliche Meinung auch in Russland über den Zionismus vollständig aufgeklärt sind. Die russischen Blätter haben den Kongress mit Aufmerksamkeit behandelt.

Aber wenn unsere russischen Zionisten an den öffentlichen Debatten auch nur bescheiden teilnahmen, so lernten wir sie doch in den Privatgesprächen kennen und schätzen. Fasse ich diesen Eindruck, der sehr stark war, in ein Wort zusammen, so ist es: Sie besitzen die innere Einheit, die den meisten europäischen Juden abhanden gekommen ist. Sie fühlen sich als Nationaljuden, aber ohne beschränkten und unduldsamen Nationaldünkel, der freilich bei der jetzigen Lage der Juden auch kaum verständlich wäre. Es plagt sie kein Gedanke, sich zu assimilieren, ihr Wesen ist einfach und ungebrochen. Diese russischen Juden geben mit ihrem ganzen Wesen Antwort auf die Streitfrage, die uns von armseligen Schwätzern sooft entgegengehalten wird: ob das Nationaljudentum nicht die Entfernung von der modernen Kultur zur unvermeidlichen Folge haben müsse? Nein. Diese Leute sind auf dem rechten Weg, ohne viel Raisonnement, vielleicht sogar, ohne darin je eine Schwierigkeit bemerkt zu haben. Sie assimilieren sich keiner anderen Nation, aber sie sind bemüht, von allen Völkern alles Gute zu lernen. So bringen sie es fertig, aufrecht und echt zu sein. Und es sind doch Ghettojuden, die einzigen Ghettojuden, die es in unserer Zeit noch gibt. Da haben wir bei ihrem Anblick verstanden, was unseren Vätern in den schwersten Zeiten die Kraft zum Ausharren gab. Eigentümlich lebensvoll trat unsere Geschichte in diesen Gestalten vor uns hin. Ich musste daran denken, wie man mir in der ersten Zeit oft entgegengehalten hatte: Sie werden nur die russischen Juden für die Sache gewinnen. Wenn man mir das heute wieder sagte, würde ich antworten: Das genügt!

Doch es ist keineswegs eine nur osteuropäische Bewegung. Der Zionismus hat seine Anhänger in der ganzen Welt, und wie nach dem biblischen Wort kamen sie von den vier Enden der Erde nach Basel an den Kongress.

Was haben wir nun in dieser Versammlung der Verstreuten ausgerichtet? Kamen wir nur zusammen, um zu weinen, um Reden zu halten und anzuhören? Ich glaube, wir haben in Basel auch etwas getan.

Wenn man künftig unsere Bewegung aus geschichtlicher Ferne betrachten wird, ohne den Zorn und den Spott des Tages, wird man vielleicht die Logik unseres Vorgehens zugeben. Um zur völkerrechtlich gesicherten Heimstätte zu gelangen, mussten wir zunächst unser Volkstum in die Erscheinung treten lassen. Ist das Volk da, so schafft es sich das Stück Erde, das es braucht. Ich glaube, es ist in alten Zeiten nicht anders zugegangen, wenn eine Gruppe von Menschen gezwungen war, sich eine Niederlassung zu suchen. Wir machen das in den Formen der Gegenwart, das ist der ganze Unterschied. Wir passen unsere Bewegung den wirtschaftlichen und Verkehrsformen unserer Tage an. Wir halten uns stets vor Augen, daß, wenn unser Gedanke alt und einfach ist, wir doch in der Ausführung modern sein können und sein müssen. Nicht mehr durch streifende Hirten und vom Sturm verschlagene Fischer wird die Nachricht von unserer Bewegung verbreitet, sondern sie schwirrt im elektrischen Draht über Land und Meer und rauscht durch die hunderttausend Blätter der Weltpresse. Sitzungsberichte, Interviews, Plaudereien und — Karikaturen tragen unseren Gedanken weit hinaus. Und so wird es auch zugehen, sobald wir vom Rat zur Tat weiterschreiten. An dem Tage, wo wir das Land, das wir brauchen, ergreifen, werden wir es jäh mit Kultur bedecken, mit Bahnen, Telegraphen, Telephonen, Fabriken, Maschinen und vor allem mit jenen sozialen Reformen, nach denen heute jeder gesittete Mensch ebenso heiß verlangt, wie nach der Schnelligkeit des Verkehrs, nach der Pflege der Künste und Wissenschaften und nach den Bequemlichkeiten des Lebens. Das braucht man eigentlich nur den ganz naiven Leuten zu erklären, es ergibt sich ja aus den Vorbedingungen vernünftig von selbst. Wo Menschen sind, da findet sich alles. Die Menschen in Bewegung zu setzen, ist die Aufgabe. Diese Kraft hat unsere Idee schon jetzt gezeigt und wird sie immer mehr zeigen. Die erworbene Geschwindigkeit muss zunehmen und es kommt hinzu die Attraktionskraft der gesammelten Massen.

Manchmal wünsche ich mich aus der Bewegung hinaus, nicht nur wegen der Miseren, die man mir macht, sondern aus Neugierde, weil ich mir vorstelle, daß unsere Bewegung von außen einen merkwürdigen Anblick gewähren muss. Den Staatsjuristen, denke ich mir, muss sie außerordentlich interessieren. Ob sie gelingt oder nicht, ist sie ein moderner Versuch, der Beiträge zur noch nicht genügend erforschten Psychologie der Massen liefert und den auf Recht und Ordnung gerichteten Willen im Werden zeigt. Ist es nicht einer jener Momente, wo man für Arbeit und Sorgen durch heiteres Genießen der menschlichen Dummheit belohnt wird, wenn unsere Bewegung, die geradezu durchtränkt ist von Sehnsucht nach Gesetzlichkeit, für eine umstürzlerische gehalten wird? Ist nicht eine hohe Komik darin, wenn man uns mit den Sozialdemokraten verwechselt, weil wir nicht blind sind gegen die Forderungen der Gegenwart?

Den Staatsjuristen wird aber insbesondere die Entwicklung interessieren, wie der Zionismus allmählich seine Organe differenziert. Das eigentümliche Bedürfnis dieser Sache hat ein eigentümliches Vorgehen erfordert. Es ist heute noch nicht die Zeit, das alles auseinanderzusetzen. Halbfertige Dinge soll man nicht zeigen. Es gibt schon Missverständnisse genug um uns herum, und Kinder und Narren können nicht begreifen, wie man in dem Hause wohnen soll, von dem sie erst die Grundmauern aus der Erde wachsen sehen.

Viele unserer Tätigkeiten erfolgen natürlich gleichzeitig und wir haben mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen. Den Montcenistunnel bohrt man von beiden Seiten an, und man hat bis zum letzten Augenblick, wo Licht und Licht sich begegnet, die Sorge, ob man hüben und drüben auf dem gleichen Niveau ist. Wir wollen nur unverzagt bleiben. An der Beseitigung mancher Schwierigkeiten muss uns die öffentliche Meinung der ganzen Welt mithelfen. Wir brechen ja der menschlichen Wohlfahrt eine neue Gasse.

Mannigfaltig sind die diplomatischen Schwierigkeiten. Es muss zunächst allgemein erkannt werden, daß wir ein Stück Orientfrage lösen, wenn wir unter Zustimmung der Mächte mit der Regierung Sr. Majestät des Sultans ein Abkommen treffen. Das Erscheinen der europäisch zivilisierten Juden im Orient wäre zweifellos ein Schutz auch für die dort angesiedelten oder dahin ziehenden Christen, gleichwie es eine Besserung aller Zustände im osmanischen Reich bedeuten würde. Wie? wird mancher sagen, soll man ein Regime noch stärken, unter welchem die unvergessenen Grausamkeiten der letzten Jahre sich ereignen konnten? Wer das einwendet, kennt, glaube ich, die Türken nicht. Sie sind von einer natürlichen Indolenz und Gutmütigkeit, die freilich manchmal in schwere Gewalttaten ausartet. Das Land und seine Leute verarmen immer mehr, und was man für Ausbrüche des Fanatismus halten möchte, wäre bei näherem Zusehen vielleicht als wilde Äußerung des Missmutes über die eigene üble Lage zu erkennen. In Wirklichkeit sind gerade die Muselmanen, wenigstens die jetzigen in der Türkei, sehr duldsam gegen das religiöse Bekenntnis anderer. Ich weiß, daß ich mit diesen Worten gegen manche vorgefaßte Meinung in England*) anstoße; aber was ich sage, schöpfe ich aus eigenen Wahrnehmungen, die ich während meiner Orientreise machte und aus vielen vertrauenswürdigen Berichten. Es geht den Türken schlecht, und sie machen dafür nach Art der Kinder und naiven Leute alles eher verantwortlich als sich selbst. Wenn man diesen einfachen Menschen zu höherem Wohlergehen verhilft, sie den sittigenden Einflüssen des modernen Lebens aussetzt, ihnen auf friedliche Weise hilft, Reformen in ihrer verwahrlosten Administration einzuführen, so wird man sie künftighin keine solchen Ausschreitungen begehen sehen. i

Das Interesse der türkischen Regierung, mit den Juden ein Arrangement zu treffen, scheint demnach zutage zu liegen. Aber welches Interesse hätten andere Regierungen, die Schaffung eines rechtlich garantierten jüdischen Gemeinwesens zu fördern? Das Interesse ist von Land zu Land verschieden, aber in irgendeiner Form ist es überall vorhanden. Es ist die notwendige Ableitung eines unglücklichen, verHassten und dadurch immer mehr zur Verzweiflung gebrachten Elementes, das unruhig über den Erdkreis auseinandergeworfen ist und überall den extremsten Parteien zufallen muss. Die Regierungen und alle Freunde der bestehenden Ordnung können sich unmöglich der Einsicht verschließen, daß sie ein aus bitterer Not zu Umsturzgelüsten getriebenes, durch seine Zerstreuung nicht ungefährliches Element zur Ruhe bringen, wenn sie die von uns vorgeschlagene Lösung unterstützen. Das ist wohl der ergreifendste Zug in unserer Volkstragik, daß das hochkonservative Volk der Juden immer den revolutionären Bewegungen zugejagt wird. Dem würde ein Ende bereitet werden. Konsequenzen, deren ganze wohltätige Fülle wir heute nicht einmal zu ahnen vermögen, würden sich daraus für den allgemeinen Zustand der Menschen ergeben.

*) Dieser Aufsatz erschien zuerst in der „Contemporary Review“.

Es gibt allerdings eine große Zahl aktueller politischer Schwierigkeiten, die überwunden werden müssen, die aber mit einigem guten Willen überwunden werden können. Die Frage der heiligen Stätten allein ist schon ernst genug. Römische Meldungen, welche nach dem Baseler Kongress durch die Weltpresse gingen, besagten, daß Se. Heiligkeit der Papst mit dem Gedanken umgehe, gegen den Zionismus Stellung zu nehmen*). Der große Staatsmann, der jetzt auf Petri Stuhl sitzt, ist vielleicht über das Tatsächliche unserer Bewegung noch nicht genügend unterrichtet. Wann haben Zionisten auch nur entfernt daran gedacht oder davon gesprochen, jemals in den Besitz dieser vom Glauben der ganzen monotheistischen Menschheit geweihten Orte zu gelangen? So wie das r?mische Recht den Begriff von Sachen, die extra commercium sind, aufstellte, so meinen auch wir, daß diese Stätten für ewige Zeiten die Fähigkeit verloren haben, irgendeiner irdischen Macht zu gehören.

Keinesfalls würde jemals der wahnwitzige Versuch gemacht werden, an dem jetzigen, das christliche Gefühl vielleicht auch nicht völlig befriedigenden Zustande etwas zu ändern, wenn nicht die gesamte Christenheit oder doch deren überwiegende Mehrheit dafür wäre.

Überhaupt, und darin möchte ich das Verdienst des Baseler Kongresses suchen, hat die zionistische Bewegung nunmehr den Charakter der vollsten Öffentlichkeit erhalten. Was wir sagen und tun, steht unter der Kontrolle und Diskussion der öffentlichen Meinung. Wir scheuen das Tageslicht nicht, wir suchen es auf. Haben wir etwas Unrechtes vor, so werden Argusaugen es sehen und tausend Arme es verhindern.

In einem für uns nicht eben freundlichen Artikel einer preußischen Zeitung war vor kurzem der Gedanke ausgeführt, daß Jesus Christus gerade aus dem schwachen Volk der Juden aufstehen musste, weil seine übermenschliche Gestalt jedem anderen Volke, dem sie etwa angehört hätte, zur Macht über die gesamte Menschheit verhelfen musste. Man könnte über diesen eigentümlichen Gedanken Tage und Tage nachsinnen. Aber es würde uns jetzt weit von unserem Gegenstande entführen. Nur darf man vielleicht einen anderen Gedanken daran knüpfen: Auch der Besitz der Stätten, wo er einst gewandelt, würde jeder anderen Nation als der jüdischen zu einer so außerordentlichen Stellung in der christlichen Welt verhelfen, daß man nicht recht einsieht, wie die übrigen Nationen das jemals zugeben sollten.

*) Diese Meldung ist seither von vatikanischer Seite offiziös in Abrede gestellt worden.

Wie ist es nun aber, wenn trotz allem und allem, auch nach der vollständigen Aufklärung der öffentlichen Meinung, auch nach der Gewinnung aller Mächte für unseren Plan, auch nach der Zusicherung bedeutender Vorteile an die Türkei, mit der Regierung des Sultans ein Abkommen nicht zu treffen wäre? Dann müßten wir eben auf den Ablauf der schleichenden Krise im Orient warten. Ein Volk kann warten. Es lebt länger als Menschen und Regierungen. Und wie die Dinge im Orient stehen, läßt sich die kommende Stunde der Auflösung mit der Uhr in der Hand berechnen. Glückliche Kriege ändern daran nichts. Die Tapferkeit der Mohammedaner war nicht erst zu beweisen, und Eroberungen läßt man sie nicht mehr macnen. Der ganze Verlauf des türkisch-griechischen Krieges war in dieser Hinsicht ungemein lehrreich. Der Kalif kann sich also neue Kulturkräfte nicht mehr durch Waffengewalt dienstbar machen.

Im friedlichen Wettbewerb der Nationen wieder ist die Untüchtigkeit des sonst so braven türkischen Volkes erwiesen. Der Zufluß anderer Volkskräfte ist beim jetzigen Zustande der Unsicherheit wenig wahrscheinlich. Wollten aber selbst fremde Einwanderer unter dem Konsularschutze kommen, so müßte die türkische Regierung dagegen alles aufbieten, denn das Wachstum der Konsulareinflüsse bedeutet ein unaufhaltsames Abbröckeln der inneren Autorität.

Die Juden aber haben, wie die Dinge jetzt stehen, kein Interesse, auch nur einen einzigen Kolonisten hinzuschicken. Die schon dort sind, mögen bleiben, und es gibt im heiligen Lande jüdische Bettler genug, die man durch Arbeitshilfe zu Bauern und Handwerkern machen kann und muss. Das Wohlwollen der türkischen Regierung ist ihnen sicher, um so sicherer, als wir klar und deutlich erklären, daß wir unter den jetzigen Umständen eine weitere Einwanderung nicht wollen. Der Baseler Kongress hat es ausgesprochen, daß die Erhaltung der bisherigen jüdischen Ackerbaukolonien, die vortreffliche Resultate ergeben haben, zu wünschen ist, daß aber keine neue Ansiedlung mehr hinzukommen soll, bevor die genügenden rechtlichen Garantien geschaffen sind. Wir wollen keine schutzlosen Kolonien stiften, die ohne politischen Gegenwert das Land wertvoller machen und zugleich dem Wechsel der Regierungsabsichten und einem Umschlag in der Gesinnung der jetzt freundlichen Bevölkerung preisgegeben wären.

Will aber die Türkei, so wird ihr geholfen werden. Große Fonds sind für den Zweck vorhanden. Die Verwalter dieser Fonds mögen mit mir in manchen Punkten nicht einverstanden sein; es ist ebensowenig ihre wie meine persönliche Sache. Es sind übrigens Männer, die ich achte. Sie werden zur Mitwirkung berufen sein, wenn es zur Ausführung kommt.

Die Möglichkeit ihrer Weigerung ist nicht einmalernstlich in Betracht zu ziehen; sie sind von erprobter Gutwilligkeit und Menschenfreundlichkeit. Auch müßten sie sich sonst vor jedem zerlumpten Juden fürchten, der ihnen mit verdüsterten Augen entgegenkäme. Wie wir die Sache nun gestellt haben, ist sie freilich nicht mehr der Gnade oder Ungnade von Philanthropen überlassen. Das Volk hat die Kraft zur Selbsthilfe in sich, wenn es zum Wollen erwacht ist.

Es lagen dem Baseler Kongress mancherlei Entwürfe für den Nationalfonds und andere finanzielle Organisationen vor. Der Antrag des Heidelberger Universitätsprofessors Schapira auf Bildung eines Nationalfonds wurde angenommen. Subskriptionen wurden auch schon angemeldet. Zunächst will aber das vom Kongress eingesetzte Bureau die Grundzüge einer öffentlichen Verwaltung und Rechnungslegung ausarbeiten, da ja keiner gesonnen ist, sein bißchen Reputation bei einer geheimen Geldgebarung einzubüßen.

Mit ebensolcher Vorsicht wurden auch die verschiedenen Bankund Finanzprojekte behandelt, ihre öffentliche Erörterung auf dem ersten Kongress überhaupt nicht zugelassen. Wir wollen aus Gründen der allgemeinen Nützlichkeit den Unternehmungsgeist ermutigen, aber nur solche Privatunternehmungen dem jüdischen Volke gegenüber beglaubigen, von denen wir mit einiger Sicherheit vermuten dürfen, daß sie die Volkssache fördern werden. Wir wissen ja, wie unsere Gegnei darauf lauern, daß wir uns auf diesem Punkt eine Blöße geben werden. In der ersten Zeit unserer Bewegung, als man den Gedanken für undurchführbar hielt, schalten sie uns Narren. Je deutlicher die Durchführbarkeit erkannt wird, um so hitziger werden sie uns verdächtigen, daß wir Geschäftsleute seien. Die Männer, die an der Spitze der Bewegung stehen, haben nie ein Geschäft gemacht, sowie sie auch keine Berufspolitiker waren und sind. Gegen solche Verdächtigungen appellieren wir an den Schutz unserer Pairs, der Künstler und Philosophen. Die müssen im Inneren unserer Worte lesen können und die Bürgschaft für unsere Meinung übernehmen.

Vom Schreibtisch unserer Arbeitsstube sind wir aufgestanden, als draußen der Judenlärm zu arg wurde. Wir mussten zu unserem Volke hinausgehen, weil es in der Not ist und sich ohne Führung nicht helfen kann. Aber wenn wir, die das Gestalten unserer Träume und das Nachdenken über den Weltgang mehr als alles andere lieben, wenn wir gezwungen sind, in Versammlungen immer dasselbe, immer dasselbe zu sagen, wenn wir die Wahrheiten, die uns am teuersten sind, in unserem eigenen Munde zu Gemeinplätzen werden fühlen — so steigt in uns die Sehnsucht nach jener stilleren Welt herauf. Nur haben wir jetzt die Pflicht, weiterzugehen, bis ans Ende. Und wenn es uns gelingt, das Volk dahin zu bringen, wo wir es haben wollen, werden wir die schmutzige Phantasie unserer Gegner noch einmal beschämen. Was sollten wir dort für uns selbst wollen? Dort wird unser Volk über sich verfügen, wie es will und kann. Es wird ohne Zweifel auch dort Spekulanten und politicians geben, gewiß nicht weniger, hoffentlich nicht mehr als anderswo. Und wir selber haben nur den einen Wunsch: dahin zurückzukehren, woher wir kamen, an den Schreibtisch.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften