Börsenelend.

Wenn man die Judenlage und die Judenfrage von einer ganz eigentümlichen Seite kennenlernen will, muss man — die Börse besuchen. Vielleicht über keinen Ort menschlicher Tätigkeit sind so viele Irrtümer und Schauermärchen verbreitet, wie über diesen Knotenpunkt vieler Verkehre. In jeder großen Stadt gibt es ein prunkhaft ausgestattetes Gebäude, das den Namen Börse führt. Zu bestimmten Stunden des Tages versammeln sich in dem einzigen Riesensaale des Hauses viele Hunderte schreiender und gestikulierender Männer. Es ist ein beständiger Aufruhr, der sich innerhalb offizieller Grenzen bewegt, für jeden des Verkehrs Unkundigen der sonderbarste Anblick. Es ist das aufgeregte Treiben eines Marktes ohne sichtbare Ware. Und so läßt sich auch die Börse definieren: sie ist der abstrakte Markt.

Man läuft Gefahr, im ersten Augenblicke missverstanden und höhnisch belächelt zu werden, wenn man sagt, daß die Börse eine der feinsten und unentbehrlichsten Einrichtungen des modernen Lebens ist. Denn es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Ortes, daß er gleichsam mit einem Dunstkreise von Ehrlosigkeit umgeben ist. Wer daran Schuld trägt, wer die Einrichtung verdirbt, deren Ruf schädigt, böse Legenden entstehen macht und wer die eigentlichen Opfer, nachdem sie ausgesogen sind, auch noch schändet, das wollen wir hier anzudeuten versuchen.


Jeder Gebildete weiß, wie die Börsen entstanden sind, wie die Bedürfnisse des wachsenden Verkehrs dieses Organ allmählich entwickelten, wie aus den regelmäßigen Zusammenkünften der Kaufleute zur Besprechung und Findung der Preise die gesatzten Normen und die ungeschriebenen Gebräuche erwuchsen. Die Börse war und ist das Nervenzentrum des Verkehrs. Daher verstehen wir, daß ihr erster großer Aufschwung auf die Ausdehnung der Seewege folgte, und daß sie in diesem Jahrhundert mit dem Eintritt in die Eisenbahnzeit eine bedeutende Fülle und Kraft erlangte. Sie wuchs an Macht und verfeinerte sich zugleich weiter, als die Drähte des Telegraphen und in jüngster Zeit des Telephons die Mauern der Börsengebäude durchlöcherten. Die neuen Formen des Geldhandels, das Aktienwesen mit der Beweglichkeit, die es erforderte und schuf, und vor allem die öffentlichen Finanzoperationen der Staaten machten die Börse immer wichtiger. Wieviel Scharfsinn steckt in der Differenzierung der Geschäfte, die auf diesem abstrakten Markte gemacht werden! Welche Wohltat bedeutet es für das wirtschaftliche Leben jedes einzelnen Volkes und aller Völker zusammen, daß dieses Organ besteht!

Es ist die unübertreffliche Zentralisierung von Angebot und Nachfrage, die rasche Ausgleichung der Weltpreise; es gewährt dem einzelnen fortwährend die Möglichkeit, über sein bewegliches Vermögen zu verfügen, ohne daß der Wert des Objekts durch den bloßen Verkaufswillen wesentlich herabgemindert würde; es befruchtet alle Industrie- und Handelszweige; es ist für das Kreditwesen der Staaten eine Sicherheit und zugleich eine Erleichterung. Aus unserer jetzigen Kultur ließe sich die Börse einfach nicht mehr hinwegdenken.

Wenn wir diese banalen Wahrheiten hierhersetzen, so geschieht es zunächst, um darzutun, daß kein Verächter oder Gegner der Börse spricht. Kann dies ein Vernünftiger überhaupt sein? Es wäre das ebenso töricht, wie die Verwünschungen des Geldes. Man hört häufig sagen, das Geld verderbe die Menschen. Aber das Umgekehrte ist wahr: die Menschen verderben das Geld durch den Gebrauch, den sie davon machen.

Es ist auch nach dem bisher Gesagten nicht begreifbar, warum die Börse und deren Mitglieder in der bürgerlichen Achtung geringer bewertet sind. Daß dies tatsächlich der Fall ist, wird niemand leugnen. Wenn man es noch bis vor wenigen Jahren leugnen und die volkstümliche Mißstimmung gegen die Börse unterschätzen konnte, so ist das doch heute nicht mehr möglich. Die Hetze im reaktionären Teil der öffentlichen Meinung hat sich zu administrativen Schikanen und schließlich zu repressiven Gesetzen oder Überlastung mit Steuern verdichtet.

Warum? Will man ein unentbehrliches Organ der Volkswirtschaft, ein Vehikel des Weltverkehrs zerstören? Wenn die Beschwerden gegen die Börse, soll heißen deren menschliche Träger, berechtigt sind, ist auch die Repression die angemessene? Und wenn die Repression verdient ist, trifft sie auch die Schuldigen? Diese Fragen drängen sich uns jetzt mit einiger Aktualität auf, da durch die neue Börsenbesteuerung eine Anzahl Menschen, die schon bitter mit dem Leben zu kämpfen hatten, schwer betroffen wurden. Wir erzählen nun nichts Neues, wenn wir konstatieren, daß diese Menschen zum weitaus überwiegenden Teile Juden sind. Durch geschichtliche Umstände in den Handel geworfen, sind die Juden natürlich auch auf dem abstrakten Markt sehr stark vertreten. Sicherlich ist viel von der scharfsinnigen Entwicklung des Börsen-Verkehrs dem zu Abstraktionen hinneigenden jüdischen Geiste zu verdanken, und in dieser Ausgestaltung ist an sich nichts, was den Juden zur Unehre gereichte.

Dieses Blatt ist kein Börsenblatt, aber als ein Judenblatt hat es sich offen deklariert, und an keinem Notstand von Juden gehen wir gleichgültig vorüber, ob es sich um die Misshandlungen unserer Stammesgenossen in barbarischen Ländern, um die bleichen Mädchen in den galizischen Zündhölzchenfabriken oder um die Proletarier der Wiener Börse handle.

Wir haben vorhin die ökonomischen Segnungen — das Wort kann von Unverständigen belächelt werden — der Börse erwähnt. Wir wissen wohl, daß es da auch die verderblichsten Auswüchse und Missbräuche gibt. Jede Verfeinerung trägt Korruption in sich.

Nachfrage und Angebot werden oft gefälscht, die Preisbildung wird durch Manöver gelegentlich entstellt, der einzelne wird in Anlage und Realisierung seiner Habe manchmal geschädigt, Industrien und Handelszweige können durch Schwindeleien oder Funktionsstörungen der Börse in Mitleidenschaft gezogen werden, und der Staatskredit selbst ist vor dem Spiel mit falschen Nachrichten nicht sicher. Aber wenn dies auch alles wahr ist, wird doch nur ein Tor die ganze Einrichtung, nur ein Ungerechter alle Teilnehmer der Börse verdammen.

Halten wir uns bei der Albernheit nicht auf, die sich in dem berühmten Worte vom „Giftbaum“ ein dauerndes Denkmal gesetzt hat. Wenn Mißbräuche vorliegen, dürfen sie nur denen zugeschrieben werden, welche sie wirklich begangen haben und noch begehen. Ist es schwer oder gar unmöglich, dies festzustellen? So muss wenigstens der Kreis der Untersuchung auf diejenigen beschränkt werden, welche die Kraft haben, sie zu begehen Wenn irgendwo eine Übeltat geschehen ist, und zwar mit einem Werkzeug, das nur ein starker Mann heben kann, wird man doch vernünftigerweise Kinder und Schwächlinge gar nicht erst verdächtigen. Wer hat also die Kraft, mit der Börse Missbrauch zu treiben? Da steht die Frage! Man spreche nicht von den kleinen Stückchen und Streichen. Minima non curat praetor. Dadurch wird kein nennenswerter Schaden ang -richtet. Man darf sogar gelassen die Behauptung wagen, daß auf keinem Markte Treu und Glauben so ernst geübt wird wie an der Börse. Das ist kein Paradoxon. Der ganze Verkehr beruht auf Treu und Glauben eines hingeworfenen Wortes, einer flüchtigen Einschreibung in ein Taschenbuch. Ja, diese kleinen Leute der Börse, die man so gern in Bausch und Bogen verleumdet, von denen man im verächtlichsten Tone zu reden pflegt, sind in Wahrheit mit geradezu verschwindenden Ausnahmen durch und durch ehrliche Menschen, die ein auch körperlich anstrengendes Gewerbe rechtschaffen betreiben. Hier sei der Brief eines sehr anständigen Mannes von der Börse eingeschaltet:

Wien, 3. November 1897.

„Als ich vorgestern von Ihnen den ehrenden Auftrag erhielt, Ihnen einige Angaben über die Börse zu liefern, nahm ich mir vor, die Feiertagspause abzuwarten, um am ersten Werktage zunächst die Wirkungen der neuen verfünffachten Umsatzsteuer wahrzunehmen. Ich ging nun gestern früh wie gewöhnlich zur Börse, leider mein Beruf seit 26 Jahren. Es läutete 10 Uhr. Anfangs sah ich Gruppen sich versammeln, ich hoffte, es wären Geschäftslustige. Allein kaum waren einige Minuten verstrichen, musste ich mit Bedauern wahrnehmen, daß es lauter Neugierige waren. Zwar bald waren die Kulissen aufgelöst und die Mitglieder an allen Enden zerstreut, die meisten verkümmert und versorgt, nach dem kleinsten Verdienste lechzend. Auf manchem Gesichte lagerte schlecht verheimlichter Jammer. Alle Gruppen, die einst wie undurchdringliche Knäuel Kulissen bildeten, wo die gangbarsten Effekten geräuschvollst gehandelt wurden, sind gelichtet. Es fehlen die Faiseurs, welche sich ihrer zu bedienen pflegten, die ihrer dringend bedurften, um legale und illegale Mätzchen hinter ihnen zu machen. Mich dünkt, man heißt diese Gruppen deshalb Kulisse. Solange die Regierungen Anleihen zu plazieren hatten, sorgten ihre Helfershelfer dafür, daß eine lungenstarke, marktschreierische Kulisse existiere. Jetzt, in dem defizitlosen Intervall, glaubt man ihrer entraten zu können. Überdies wurde jede Unternehmungslust vom Antisemitismus verscheucht. Endlich wurden in früheren Jahren Verirrungen durch offizielle Personen heraufbeschworen und die Börse manchem Freibeuter ausgeliefert. Die wahnwitzigste Phantasie wurde angefacht, bis zum Paroxismus gesteigert, wo r auf dann eine wohlbestellte kalte Dusche folgte, welche den ganzen Organismus zerstörte. Es war das Jahr 1895, in welchem die Börse der Freibeuterei preisgegeben wurde. Von da ab verlor die Börse nicht nur Geld und Ansehen, sondern auch ihre kaufmännischen Rechte. Diese Rechtlosigkeit bildet den Hauptgrund ihres Verfalles. Nicht also eine Ursache rief die gegenwärtige Misere hervor; es waren derer viele, ich übersichtlich resümieren möchte: Mangel an Regierungsgeschäften, Unternehmungsscheu, Übertreibungen wie Überschätzungen eigener und fremder Kräfte und Autoritätenkultus. Zu guter Letzt kam nun der antisemitische Schrecken in Form einer fünffachen Umsatzsteuer. Diese Steuer sollte den Reichen treffen und erschlägt den Armen. Alle Banken und Bankiers haben in einer Konferenz, welche bei der Kreditanstalt stattgefunden hat, beschlossen, die ganze Steuer in ihrer vollen Wucht auf die Klienten zu überwälzen. Diese Banken werden von der Steuer nicht getroffen, hingegen reduziert sich der geringe Nutzen des kleinen Mannes auf ein Minimum, bei dem er nicht mehr existieren kann. Das Opfer ist der unbemittelte Kulissier; dieser harrt, trotz Unbill der Zeiten, auf seinem Platze aus und sucht schreiend, kreischend im Schweiße seines Angesichtes seinen Tagesbedarf zu erwerben. Um sich vor größeren Verlusten zu salvieren, muss er oft sogenannte „Fehlschlüsse“ mit kleinem Verluste rasch realisieren, um sogleich ein neues Geschäft zu versuchen, bei welchem es ihm wieder fehlschlagen kann. Bis ein solcher Mann etwas verdient, steigern sich die Spesen ins Unerschwingliche.

Bei einem solchen Manne könnten die im Laufe eines ganzen Monats angewachsene Steuer und Arrangementsspesen existenzvernichtend wirken.“

Das ist ein lehrreiches Dokument. Was uns daran am meisten frappiert, ist die Gegenüberstellung des unbemittelten Börsenbesuchers und der koalierten Banken. Er wirkt beinahe wie der sattsam bekannte Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Gibt es das auch auf der Börse? Da stehen auf der einen Seite die Marktleute der Börse, müde wie Dienstmänner, abgehetzt, heiser vom Schreien, dabei sorgenvoll und in wunderlicher Logik der Tatsachen zu „Fehlschlüssen“ gedrängt. Wird man diese Leute für minder würdig der Teilnahme und Achtung halten als die ehrsamen Händler anderer Märkte, weil es dort konkretere Waren gibt? Eine neue Steuer ist über sie gekommen und schlägt sie nieder. Ihr Geschäft besteht in der Häufigkeit der Abschlüsse; die Häufigkeit wird von der Steuer getroffen, folglich ist das Geschäft aus, einfach aus. Das wenigstens ist kein Fehlschluß. Es bleibt nur noch die Frage übrig, was ein solcher Mann morgen tun soll? Das sind ja keine Taglöhner, sondern intelligente Kaufleute. Die meisten haben bessere Zeiten gesehen, und ihre Kinder wollen auch in den schlechten Zeiten etwas essen, ein Stück Brot zum Beispiel. Freundlicher sieht die Sache auf der anderen Seite aus. Da erblickt man eine gar nicht aus dem Gleichgewichte geratene Gesellschaft. Man setzt sich zusammen, berät, vielleicht nicht einmal lange. Das erlösende Wort ist so bald gefunden: die Steuer wird überwälzt. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? ... Es ergibt sich daraus des Ferneren, daß die Starken wieder einmal gekräftigt aus dem Abenteuer hervorgehen. Ah, die Überwälzung ist eine goldene Erfindung. Die Starken überwälzen jede Last auf die Schwächeren, und je kräftiger einer ist, um so weniger hat er zu tragen. Das Schauspiel ist ja nicht neu. Überall siegt das größere Kapital über das kleinere. Aber während diese Erscheinung auf allen anderen Gebieten zu den heftigsten Zornesausbrüchen und Anklagen führt, ist die arme Börse stumm. Ist etwa hier die Übermacht und Brutalität der Großen nicht so empfindlich? Nein, sie ist viel ärger als auf jedem anderen Felde. Der Kleine ist dem Großen einfach ans Messer geliefert. Die dickere Brieftasche entscheidet, wie in dem berüchtigten amerikanischen Hazardspiele, in dem der gewinnen muss, der mehr Geld auf den Tisch legen kann. Wie, und doch werden die Kleinen nicht fortwährend von den Großen erdrosselt? Am Ende steckt Großmut dahinter, man gibt wohl den armen Teufeln einen Bissen Brot zu verdienen, man läßt sie leben? Na, na! Die Wahrheit ist, daß man sie nicht sterben läßt — wenigstens nicht immer. Man erhält sie — um ein Wort aus dem Volksmunde zu nehmen — an der Krepierhalfter; denn man braucht sie ab und zu, wenn man das lebhafte Marktgeschrei und diesen Tumult benötigt, in welchem die großen Streiche unbemerkt gelingen. Die „legalen und illegalen Mätzchen“, von denen unser Briefschreiber spricht. Aber von alledem erfährt man nichts. Stumm ist die arme Börse — stumm, weil sie arm ist. Silence aux pauvres! Es ist Zeit, daß für diese armen Leute ein Rächer aufstehe.

Denn die Überwälzung beschränkt sich nicht auf die gesetzlichen Abgaben. Alles wird auf die Kleinen abgewälzt; auch die Verantwortung für die finanziellen Katastrophen, auch der Hass, den alle diese Vorgänge in der umgebenden Bevölkerung erregen. Daher kommt die Ehrlosigkeit der Börse. Darum gesteht ein solcher kleiner Marktbesucher nur zaghaft, beinahe errötend, daß er ein „Börsianer“ sei, als ob das ein unehrliches Gewerbe wäre und nicht eine allgemein nützliche, rechtschaffene Tätigkeit. Der „Bankier“ freilich, und gar ein Bankdirektor — Hut ab vor solchen! Und es gibt Lakaien genug, leider auch im Journalismus, die vor diesen Herren die tiefsten Bücklinge machen. Ah, diese Herren empfinden nichts vom schlechten Geschäftsgang, ja nicht einmal vom Antisemitismus, den sie erzeugt haben. Sie finden schon Mittel und Wege, um sich von den Angriffen der judenfresserischen Radaupresse loszukaufen, die dann mit um so edlerem Ungestüm über die armen kleinen Börsianer herfällt. Die Überwälzung ist eine vollständige. Und wir haben das empörende Schauspiel vor uns, wie diese Herren ihr alle Moralbegriffe beleidigendes Vermögen ausbreiten, gleich den Theaterdirnen, die auf schamloser Brust den glitzernden Schmuck ihrer Prostitution tragen.

Wir sind doch keine Kinder, wir wissen doch, daß diese Theaterdame und jener Bankdirektor sich von ihrer Gage nicht so viel „erspart“ haben können. Diese Edelsteine und jene Millionen sind Bekenntnisse der beschämendsten Art. Aus den Ergebnissen läßt sich die Vorgeschichte erraten. Man sieht ordentlich den Bankjüngling, wie er auf Grund von erlauschten und mißbrauchten Bureaugeheimnissen heimlich an der Börse „operiert“, bis er genug Geld hat, um selbständig den Gimpelfang zu betreiben und sich entweder eine Klientel zusammenzustellen, der er faule Werte aufschwatzt — oder wie er als Bankdirektor „Führer“ des Marktes wird und mit den Mitteln der Bank Schwindelkurse hervorruft, deren Zusammenbruch das Elend in viele Häuser bringt, Not und Tod. Man sieht endlich den Großgewordenen, mit Orden behängt, mit Titeln geschmückt, bei den „Staatsgeschäften“ anlangen, sieht ihn Verbindungen eingehen, um sich gegen mögliche Verfolgungen zu decken, sieht käufliche Schreiber in seinem Sold, und wehe dem Unabhängigen, der gegen solche namenlose Korruption die Stimme erhebt. Ein solcher Unabhängiger wird gekränkt, geschmäht, und wenn es geht, auch verdächtigt, und läßt sich schon nicht sagen, daß er seine Hand jemals durch Trinkgelder befleckt habe, so ist es der Neid, der ihn leitet . . .

Indessen röchelt das Börsenelend um Hilfe. Ach ja, man beginnt sich auch wirklich schon damit zu beschäftigen, und es heißt, die Börsenkammer wolle Vorkehrungen treffen, um die Börse zu purifizieren. Pu — ri — fi — zie — ren! Das ist ein guter Gedanke. Wie werden die Herren das machen? Werden sie die notorischen Würger ausschließen, die wie jene Londoner Strolche im Nebel herankommen und den Ahnungslosen garrotieren?

Werden sie alle diejenigen dauernd disqualifizieren, die als Urheber oder Helfer Attentate auf den Markt verübt haben? Welcher Art soll die Abhilfe sein? Ist nur an die Erschwerung des Zutritts zum Geschäftsverkehre gedacht, so ist zu befürchten, daß die Frage damit nicht gelöst sein werde. Die Proletarier drin im Börsensaale würden sich nur um so viele Köpfe vermindern, als zu den Proletariern draußen vor dem Börsengebäude hinzukämen — vorausgesetzt, daß nicht einige gleich um ein paar Schritte weitergingen, bis ans untere Ende des Schottenringes, um im Donaukanal den Ausweg zu suchen. Man vergesse nicht, daß das Börsenelend damit nicht behoben ist, wenn man etliche Börsenbesucher auf die Gasse hinauswirft. Wohin soll ein solcher Mensch sich in dieser Zeit wenden? Wohin, um Gottes willen?

Das Börsenelend ist ein Teil der allgemeinen Judennot, es ist zugleich betrübend und empörend. Man kennt es nicht in seiner wahren Gestalt. Ein wenig Licht in diese Sache zu bringen, kann nicht schaden, und zwar weder den anständigen Juden der Börse noch auch den anständigen Juden außerhalb dieses Kreises. Darum sollte und musste das einmal gesagt werden.

Wir haben heute eine Pflicht getan.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzls Zionistische Schriften