2.3 Antisemitismus und Herzl

Bevor hierbei auf die einzelnen Einflüsse eingegangen wird, ist eine grundsätzliche Vorbemerkung vonnöten: Der Antisemitismus an sich reicht nicht aus, um zionistische Ansätze weder Herzls noch eines anderen Zionisten zu erklären, denn Antisemitismus gibt es seit es die Diaspora gibt (das Phänomen, nicht den Begriff). Zwei entscheidende Faktoren kommen im 19. Jahrhundert jedoch hinzu: Zum einen ist es die Emanzipation der Juden, die Juden aus den Ghettos holt und sie gesellschaftlich integriert, aber als Folge die Assimilation hat, zum anderen eine neue, rassisch pseudowissenschaftliche Rechtfertigung des Antisemitismus als Folge des grundsätzlichen religiösen Bedeutungsschwund seit der Aufklärung. Nur so ist der Zionismus als Antwort auf diese Phänomene als postemanzipatorische Bewegung zu verstehen.
Herzl selbst kommt nach eigenen Angaben bereits in der Realschule mit Antisemitismus in Berührung, der wahrscheinlich durch den Börsenkrach in Ungarn 1873 ein neues Ventil erhält. Er gibt ihn als Grund an, die Realschule verlassen zu haben. Eher sind jedoch Herzls schlechte Noten in technischen Fächern dafür verantwortlich. Im Wien wird durch den Beitritt des deutsch-nationalen „Leseverein der deutschen Studenten“ in die ursprünglich eher liberale gesamtösterreichische „Akademische Lesehalle“ 1878, im gleichen Zeitraum wie Herzls Beitritt, und durch den verstärkten Einfluss des antisemitischen Demagogen Georg von Schönerer des „Lesevereins“ die Tendenz in der „Lesehalle“ zunehmend antisemitischer, bis zu ihrer Auflösung, drei Jahre später. Ebenso entwickelt sich die Studentenschaft „Albia“ der sich Herzl 1881 anschließt, jedoch nach einer antisemitischen Rede Hermann Bahrs im März 1883 seinen Austritt erklärt.
Mehr noch als diese Ereignisse haben ihm die Lektüre folgender Bücher beeindruckt:
In Eugen Dührings „die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage“ ist es die neue rassische Rechtfertigungsweise des Antisemitismus, die Herzl schockiert zu Kenntnis nimmt: „Es ist mit der Zeit fortgeschritten, er weiß, daß man diese Lügen (...) nicht mehr auftischen darf, und so sinnt er denn auf neue, plausiblere, dem Jahrhundert angemessenere.“3) Mit der gleichen Begründungsart wird in Eduard Drumonts „La France juive“(1886), einen der größten buchhändlerischen Erfolge des 19. Jahrhunderts, die gesamte Geschichte Frankreichs unter antisemitischem Blickpunkt betrachtet, was zu Herzls erster öffentlichen zusammenfassenden Äußerung zur Judenfrage führt: „Französische Antisemiten“ in der „Neuen Freien Presse“, in der er zur Erkenntnis kommt, die radikalen Boulangisten hätten den Antisemitismus in Frankreich eingeführt. Noch sieht er ihn allerdings nicht im französischem Volk verankert, die Judenfrage sieht Herz! als soziale Frage an.
Dies ändert sich mit der Dreyfus-Affaire, in der der einzige jüdische Hauptmann Frankreichs, Alfred Dreyfus, aufgrund gefälschter Dokumente des Hochverrats beschuldigt und nach einem Prozess degradiert wird. Während des ganzen Prozesses gibt es antisemitische Ausschreitungen, die Herzl zu der Erkenntnis verleiten, daß die Emanzipation gescheitert sei, wenn selbst im freiheitsliebenden Frankreich der Antisemitismus so im Volk verankert ist. Ab diesem Zeitpunkt sieht er die Judentrage als nationale Frage an, die nur mit den Mitteln der Politik zu lösen sei.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzl - zentrale Figur des Zionismus?