2.3.1 Exkurs: Dreyfus-Affaire: Auslöser des Zionismus oder Mythos?

Die eben dargestellte Ansicht über die Dreyfus-Affaire als entscheidender Auslöser für die Wandlung Herzls zum Zionisten ist eine in der traditionellen Forschung vertretene Position: Sie geht hauptsächlich aus einem Artikel hervor, den Herzl 1899 in der „North American Preview“ veröffentlicht, und in dem er sagt: „Zum Zionisten hat mich der Dreyfus-Prozess gemacht“4). Alex Bein übernimmt diese Theorie, und ihm schließen sich u.a. Norman Finkelstein, Thomas Rahe und Julius Schoeps an. Die Dreyfus-Affaire wird hierbei zwar nicht als alleiniger Auslöser betrachtet, aber gewissermaßen als der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Diese Ansicht wird jedoch immer mehr in Frage gestellt: Zum einen rückt der Nationalismus immer mehr in den Mittelpunkt der Forschung um die Ursache Herzls, auf die Idee eines Judenstaates zu kommen (siehe nächstes Kapitel), zum anderen wird die Dreyfus-Affaire lediglich als nachträgliche Legitimation Herzls angesehen: So ist weder ein Tagebucheintrag noch ein Brief (mit der Ausnahme eines Briefes an Paul Goldmann, einem Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris) vom Zeitpunkt des Prozesses erhalten, in dem die Dreyfus-Affaire auch nur erwähnt worden wäre.
Daher ist sie für Historiker wie Jaques Kornberg und Pierre Heumann lediglich ein Mythos. Viel ausschlaggebender sei der Antisemitismus in Österreich gewesen, den Herzl am eigenen Leib erfuhr. Dreyfus sei nur eine gute Möglichkeit für Herzl gewesen, seine zionistischen Bemühungen zu rechtfertigen, da er ein sehr starkes öffentliches Aufsehen in Europa erregte. Diese Rechtfertigung wäre fälschlicherweise von den frühen Herzlbiographen übernommen worden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Theodor Herzl - zentrale Figur des Zionismus?