Theodor Herzl

Aus: Die jüdische Bewegung. Erste Folge 1900-1914
Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph und Bibelübersetzer, Erscheinungsjahr: 1904
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit
Ende 1895 und Anfang 1896 erschienen zwei Bücher von Theodor Herzl: „Das Palais Bourbon" und „Der Judenstaat". Er war fünfunddreißig Jahre alt, als er kurz hintereinander diese zwei Werke veröffentlichte, die einen seltsamen Gegensatz und doch keinen Widerspruch bedeuten.

„Das Palais Bourbon" ist eine Sammlung von Aufsätzen über parlamentarische Menschen und Zustände Frankreichs. Sie waren zuerst in der Neuen Freien Presse gedruckt, deren Pariser Berichterstatter Herzl damals gewesen ist. Man merkt ihnen diesen Ursprung nur selten an. Sie haben einen großen Zug von Seelenforschung und zuweilen eine durch Ausscheidung des Zufälligen und Darstellung des Wesentlichen monumentalisierende Charakteristik. Bemerkenswert ist dieser Blick für das Wesentliche, der in die Wahlversammlung von dreißig Bauern in einem Dörfchen mit gleicher Lust und Schärfe taucht wie in die große Krisensitzung der Kammer und immer das wahrhaft Wirkliche, die entscheidende Geste herausholt, immer schöpferisch überlegen, immer mitfühlend ironisch. Denn dies im letzten Grunde sind in eigentümlicher Mischung die Bedeutsamkeiten Herzls, die wir aus diesem Buche kennen lernen: die innige Ironie und die Lyrik der Geste. Seine Ironie, den krausen Geschicken Einzelner gegenüber fast zärtlich, bekommt zornige Wucht, wenn das politische Getriebe als Ganzes betrachtet wird: das Parlament, dieses schläfrige oder tobende Ungetüm, „voll dunkler Regungen und arm an Ausdrücken", und dann wieder die Parlamentarier, „Masken mit groben Zügen und von schrecklicher Starrheit"; der große Staatsmann, „der aus einer tiefen Überlegung heraus sich nur kleiner Mittel bedient", und die kleinen Staatsmännchen, diese Schwätzer mit ihren erhitzten Köpfen. Und der Journalist, der über ihre Reden und Bewegungen in ehrfurchtsvoller Gegenständlichkeit zu berichten gehalten ist, teilt unterm Strich sein Lachen über sie alle mit, ein schönes Lachen, voll Freiheit und Synthese, das Lachen des Geistes, wenn die Hände müde geworden sind, all das überflüssige Pathos in Schnellschrift zu verzeichnen. In dieser Ironie ist auch etwas Pathos verborgen, aber ein notwendiges. Es ist das Aufstreben vom Reiche des Nutzzwecks zu einer vom Zweck befreiten Anschauung. In dieser aber waltet ein positiver ästhetischer Wert: die Schönheit der Geste. Die schöne Geste ist ein Epiphainomenon, ein zweckloses Gebilde, das aus dem Zwecktreiben emporblüht. Die Geste hat selbstverständlich Absicht, aber ihre Schönheit ist unvorhergesehene Zutat, die aus dem Innerlichsten, oft aus dem Unbewusstesten des beseelten Organismus quillt. Von ihr ist wohl zu unterscheiden die Pose, die im Anfang Anspannung ist, welche die Linie verzerrt, und später Mechanisierung, welche die Linie verglättet. Die echte, wahrhaft schöne Geste hat Herzl wie wenig anderes geliebt. In seinen Pariser Studien widmet er ihr einen intensiven, innigen Kultus. Einmal sitzt er in einer sozialdemokratischen Versammlung, hört den grellen Phrasen des Redners zu und betrachtet das begeisterte Publikum, von Erbarmen und Ironie erfüllt. Da besteigt ein Arbeiter die Tribüne und singt ein neues Lied. Er stellt sich auf die Fußspitzen, reckt sich gewaltig, scheint über Menschengröße zu wachsen. Die rechte Hand schwingt er hoch über seinem Haupte. Diese Hand ist verstümmelt. „Der Daumen fehlt. Irgendein brutales Ungefähr an der Maschine. Doch arbeitet er wieder mit seiner armen Hand, das sieht man. Jetzt flattert und zittert sie fortwährend über seinem Kopf, als wollte er sie den rächenden Genossen zeigen." Die haben sich nun den Kehrreim gemerkt, nun singen sie alle mit. „Es braust. Leidenschaftlich erheben sie alle ihre Hände, aber zuhöchst flattert die verstümmelte Hand des Sängers. Und großartig weht über der Versammlung ein Hauch der Revolution."

In den letzten zwei Monaten seines Aufenthaltes in Paris schrieb Herzl den „Judenstaat". Hier schweigt der Ironiker, und nur selten hört man einen verhaltenen lyrischen Ton, so wenn die Fahne des projektierten Staates beschrieben wird. Sonst ist alles ernst und umgrenzt, sachlich durchdacht und in einer verdichteten, objektivierenden Sprache gesagt. Und doch steht das Buch in einem starken Zusammenhang zu jenem. Man bemerkt ihn lange nicht vor scheinbarem Widerspruch. Dort die radikale Ironisierung der Politik; hier wird ein eminent politisches Unternehmen vorgeschlagen. Dennoch ist es eine natürliche Weiterentwicklung. Der Ekel an der kleinen Politik erzeugte die Sehnsucht nach großer, die Erkenntnis der Nichtigkeit all der Tagesgeschichte den Willen, ein Werk der Weltgeschichte vorbereiten zu helfen. Auch die Tagesgeschichte wird Weltgeschichte — wenn sie vorüber ist: wenn aus den tausend Sinnlosigkeiten ein Sinn sich auferbaut. Was fehlt, ist die immanente Einheitlichkeit, der Strom, der den Wellen von vornherein einen Sinn gibt, die reine Linie. Statt mit hellem Herzen und frohgespannten Muskeln dem Meere entgegenzuschwimmen, muss man durch Pfützen waten, unlustig und angewidert. Ach, eine Politik, an deren Anfang eine Idee stünde! Eine Politik, die die harmonische Entfaltung dieser Idee wäre! Eine Politik, voll von Überraschungen, weil sie aus den an ihr teilnehmenden Menschen ihr Tiefstes herauslocken und verwerten würde, und doch voll schöner Einheit, weil die Idee die Meisterin wäre, alle Köpfe, alle Hände ihr Werkzeug, alle Tat ihre Schöpfung! Das war der allgemeine Antrieb zum „Judenstaat". Der spezielle war das Gefühl des Judenschicksals.

Es muss schon hier gesagt werden, dass dieses Gefühl ein enges war, aus Mitleid und mehr äußerlichem eigenen Erleben geboren, und durchaus nicht das ausschöpfte, was heute von sensiblen Naturen an tragischer Fülle des Judenschicksals gefühlt werden kann. „Von dieser erfährt, wer an seinem Judentum vorübergeht, nur das Gröbste und Handgreiflichste, das gar nicht zum wesentlich Tragischen gehört. Wer aber sein Judentum in sein Leben aufnimmt, um es zu leben, der erweitert sein eigenes Martyrium um das Martyrium von hundert Volksgenerationen, er knüpft die Geschichte seines Leibes an die Geschichte zahlloser Leiber, die einst geduldet hatten. Er wird der Sohn der Jahrtausende und deren Herr." Solches hat Herzl in der Jugend, in der zutiefst bestimmenden Zeit des Lebens nicht gewonnen. Er hat die Judenverfolgung überall gesehen, zum Teil unmittelbar empfunden. An jüdischem Emotionsmaterial, an umfassender Kenntnis des Judentums, dessen nach innen gekehrter Verteidigungskampf, dessen nach außen projiziertes mystisches Hoffen in einem reichen und bedeutsamen Schriftturn niedergelegt sind, hatte er in seiner Jugend nichts empfangen, vor allem nichts von der vollen und heroischen Stimmung des neuen Judentums, das ganz und gar Werden und Verheißung ist. So wurde ihm die Judenverfolgung zur Judenfrage und der gemeinsame Feind zur Grundlage der jüdischen Nationalität. „Wir sind ein Volk — der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu", heißt es im „Judenstaat". Die Erkenntnis, dass die wahre Judenfrage eine innere und individuelle ist, nämlich die Stellungnahme jedes einzelnen Juden zu der ererbten Wesensbesonderheit, die er in sich vorfindet, zu seinem inneren Judentum, und dass dieses allein das Volk statuiert, war Herzl versagt. Deshalb ist er im „Judenstaat" und in allen seinen späteren Kundgebungen an dem Problem der jüdischen Eigenart und ihrer Produktivierung, das eines der merkwürdigsten Kulturprobleme ist, vorübergegangen. Die Judenfrage ist ihm nie zur Judentumsfrage geworden; sie ist für ihn stets eine Judenheitsfrage geblieben. Diese hat er allerdings richtig erfasst und meisterhaft dargestellt, wenn er sie auch allzu exklusiv auf die Judenwanderung zurückführte, der einen Abfluss zu schaffen denn auch der nächste Zweck der Staatsgründung ist, deren Plan er in seinem Buche entwirft.

Im „Palais Bourbon" sprach Herzl noch von „den Juden, die zufällig in einer antisemitischen Zeit ihr Leben verbringen müssen". Im „Judenstaat" blickt er tiefer, erfasst das Hervorgehen des Antisemitismus aus den wirtschaftlichen Verhältnissen, begreift deren unvermeidliche Weiterentwicklung, sieht in der Judennot nicht mehr eine zufällige, sondern eine historisch notwendige Erscheinung. Und aus dieser Einsicht heraus präzisiert er seine Forderung: Gründung einer jüdischen Volkssouveränität, eines Judenstaates. Eine Forderung, die der vorherzlische Zionismus schon vielfach erörtert hatte. Aber hier war sie zum ersten Male klar und scharf ausgesprochen, hier zum ersten Male in eingehender Untersuchung der praktischen Möglichkeiten ein Weg zum Ziele gezeigt. Deshalb vermochte erst Herzls Buch, aus der Idee ein Programm, aus der Bewegung eine Partei zu schaffen und die Massen mitzureißen. Zunächst entstand nun die Institution des Zionistenkongresses, und auf dem ersten Kongresse zu Basel 1897 wurde Herzl zum Führer der neuen Partei gewählt. Das war nicht seine Absicht gewesen, als er begann. „Ich selbst halte meine Aufgabe mit der Publikation dieser Schrift für erledigt", hatte er erklärt. Nun riss ihn die Sache mit, riss ihn empor. Und damit begann sein zweites Leben, dessen sieben Jahre das Dokument einer seltsamen Seelenwandlung oder vielmehr Seelenoffenbarung gewesen sind. Denn nun gab sich ein anderer und größerer Mensch kund.

Worte waren sein Material gewesen, nun wurden es Menschen. Er hatte Taten entworfen, nun wurde es ihm gegeben, sie auszuführen. Nun galt es nicht mehr, stimmungsvolle Feuilletons und geistreiche Stücke zu schreiben, sondern einen uralten, königlichen Traum zu verwirklichen. Ein glückloses, ahnungsreiches Volk kam fast wie Marmor unter seine Hand. Und er wuchs mit seinem Material. Der Journalist wurde der Mann seiner Tat, mit jener suggestiven Macht begabt, welche nur die Berufung verleiht. Seine Ironie bewahrte er sich im Verkehr mit Gegnern, sonst ging sie in einer lächelnden Besonnenheit unter, auf deren Grunde sein unerschütterlicher Selbstglaube ruhte und die allen Enttäuschungen standhielt. Sein lyrisches Gefühl der Geste verließ ihn nicht; jedes Projekt, jeden Erfolg schätzte er nicht bloß politisch, sondern auch ästhetisch ein, nach dem Stimmungswert der darin enthaltenen Geste, und das gereichte der Sache zuweilen zum Schäden, weil er manches Projekt von außen aufnahm und lose einfügte, statt alle sich aus einem einheitlichen Plane entfalten zu lassen, manchen äußeren Erfolg überschätzte und als Fortschritt der Bewegung behandelte. Mit diesem Verhalten war ein straffes und gewissermaßen physiologisches Selbstgefühl verbunden, das ihm die großen und immer natürlichen Gebärden eines wohlwollenden und etwas schwerfälligen Fürsten gab. Sein Mitleiden war stark und tief erregt, es gab Augenblicke, da es wirklich die Millionen umfasste, und es beeinflusste nicht immer günstig das Tempo seiner Arbeit; jede Judenverfolgung trieb ihn an, sofort und mit den noch unzulänglichen Mitteln dieser Anfangsjahre die Realisierung dessen zu versuchen, was nur als langsames und allmähliches Werk der sich geistig und sittlich entwickelnden, im Willen und in der Fähigkeit erstarkenden Volksgeneration denkbar ist. Dabei hatte er eine große Art, Menschen für seine Auffassung zu gewinnen, Menschen zu beherrschen, zu bestimmen, zu verwenden. „Mit der Zentralisierung lassen sich Wunder wirken, wenn im Mittelpunkt einer ist, der zu befehlen versteht", hatte er einmal gesagt. Er war nun so einer geworden. Und die Zentralisierung war eine vollständige. Er hatte trotz aller Komitees und Direktorien in Wahrheit die Gewalt eines Diktators. Bald hatte er auch die Seele eines Diktators, mit weiten Entschlossenheiten und weiten Irrtümern, hilfreicher Kraft und despotischer Meinungsunterdrückung, vor allem aber mit einer bewundernswürdigen Energie der Hingabe an die Aktion. Immerhin gab seine Starrheit nach, wo eine große unpersönliche Macht mit großer Geste ihm entgegentrat. So hatte er die Wirtschaftsordnung des Judenstaats noch recht manchestermäßig entworfen; nun lernte er die Bedeutung der Genossenschaft kennen und huldigte einer sozialistischen Idee. Nur die großartige Regeneration aller Volkskräfte, die sich seit einigen Dezennien im östlichen Judentum anbahnt, blieb ihm fremd. Alle geistige und künstlerische Produktion, die dieser einzigartigen Volksverjüngung entstammt, blieb für ihn ein Mittel der Propaganda, wurde von ihm niemals als Selbstzweck erfasst. Der hebräischen Sprache, die in unseren Tagen eine eigenartige und durchaus moderne Literatur hervorgebracht hat, machte er nur äußerliche Konzessionen. Das ist das erste Paradox dieser sieben Jahre Theodor Herzls; er kam, ganz und gar Sohn des Westens, an die Spitze einer Bewegung, deren starke Wurzeln ganz und gar im Osten sind.

Das zweite Paradox ist der Gegensatz zwischen seiner ursprünglichen seelischen Veranlagung, die zu innerst allem politischen Getriebe widerstrebte und nur nach der reinen Linie der großen Taten Sehnsucht trug, und seiner nunmehrigen Arbeit, die nicht immer ins Freie und Große gehen konnte. Doch lässt sich dieses Paradox bis zu einem gewissen Grade auflösen, wenn auch nicht so vollständig, wie der scheinbare Widerspruch zwischen „Palais Bourbon" und „Judenstaat". Er hatte den Parlamentarismus negiert, nun gründete er eine Art von Parlament, den Zionistenkongress. Aber dieser gab einem bisher unfreien und unselbständigen Volke eine Vertretung und damit das äußere und suggestive Zeichen seiner Einheit, und zugleich den im Wechsel dauernden Träger seiner Befreiung; er trat nur einmal im Jahr auf wenige Tage zusammen und stellte in abgekürzter Form das Fortschreiten einer jungen Bewegung dar; so konnte er sich Großzügigkeit und Echtheit bewahren. Noch schärfer hatte Herzl alles Programm bekämpft; „welche Qual", schrieb er aus Paris, „ist das Programm für die unbeschränkten Geister unter den Berufspolitikern — und wie überflüssig sind die Grenzen eines Programms für die ohnehin schon Bornierten". Nun half er ein Programm schaffen, das sogenannte Baseler Programm, dem er bis auf das 1903 eingebrachte programmwidrige Projekt einer Ansiedlung von Juden in Britisch-Ostafrika treu anhing. Aber dieses Programm war die wenigstens zeitweilig notwendige Zusammenfassung der verschiedenartigen und ihre Sondermeinung mitunter recht stürmisch betonenden Kongresselemente und es beschränkte sich daher auch auf die lapidare Erklärung des Zieles — „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" — und auf eine knappe Andeutung der Mittel. Das schlimmste ist, dass diese Mittel in der Anwendung nicht immer groß waren und dass man manchmal an jenes Wort Herzls von dem großen Staatsmann denken musste. Namentlich machte sich häufig ein leidiger Opportunismus breit, der wohl in irgendeinem Maße jeder Politik anhaften mag, hier aber in besonders empfindlicher Weise die Linie störte.

Das dritte Paradox, unlösbar und von entscheidender Bedeutung, ist die Tatsache, dass Herzl ein Staatsmann ohne Staat war, der vielmehr der Aufgabe dienen wollte, einen Staat zu errichten, und dass er bei dieser Sachlage nicht darauf ausging, vorerst eine starke Ansiedlung von Juden in Palästina zu schaffen und dann von der Türkei Rechte für sie zu fordern, sondern es als das nächste Ziel betrachtete, von den Mächten Garantien für die Autonomie der zu gründenden Ansiedlung zu erlangen. Demgemäß verhandelte er mit Fürsten und Regierungen, konnte aber als Vertreter einer noch so großen Masse von jüdischen Kleinbürgern und Halbproletariern, ohne staatlichen oder kapitalistischen Rückhalt und ohne die Grundlage einer schon bestehenden großen Kolonie, kein Resultat erzielen, das die Bahn jetzt schon freigemacht hätte. Hierzu kam, dass eines der Postulate, die Herzl im „Judenstaat" für den Beginn der Aktion aufgestellt hatte, eines der allerwichtigsten, die wissenschaftliche Erforschung von Volk und Land als Basis eines systematischen Arbeitsplanes, nur ganz langsam realisiert wurde; erst gegen Ende 1903 konstituierte sich eine Kommission zur Erforschung Palästinas, und die Arbeit der Judenstatistik ist bis heute der Initiative einzelner überlassen geblieben. Die diplomatische Aktion wurde ausschließlich in den Vordergrund gerückt und die Volksmassen lebten in einer ewigen Spannung, von jeder Audienz bis zur nächsten. Das Beste der zionistischen Diplomatie war das für sie geschaffene Werkzeug, die Jüdische Kolonialbank, diese denkwürdige Volksbank mit ihren hunderttausend Aktionären. Doch muss eine andere Institution des Zionismus, der Jüdische Nationalfonds, aus der Opferwilligkeit des Volkes entstanden, zum Ankauf von Volksdomänen in Palästina bestimmt, als ethisch und politisch bedeutsamer bezeichnet werden.

Trotz aller Schwächen übte Herzl einen unbeschreiblichen Einfluss auf seine ganze Umgebung aus. Es ging etwas Bannendes von ihm aus, dem kaum zu widerstehen war. Am mächtigsten aber wirkte er auf die Massen des Volkes, die ihn nie gesehen hatten. Die Volksphantasie wob eine zärtliche Legende um ihn, tauchte seine Handlungen in das Dämmer des Geheimnisses, schmückte seine Stirn mit messianischem Glänze.

Auch das Ostafrikaprojekt, welches das Ideal des Volkes verletzte, konnte Herzls Macht nicht erschüttern. Enttäuschungen wie Erfolge steigerten sein Selbstvertrauen und seine Zukunftssicherheit. So nahm ihn der Tod hin. Er starb, all der tragischen Paradoxe kaum bewusst, die er in seiner Seele trug. Sein Sterben war von der Mittagshöhe seiner Sonne bestrahlt. Er ließ auch in seinen Gegnern das Bild einer sonnenhaften, harmonisch gebundenen Erscheinung. Niemand hat die Reinheit seines Wesens, die Treue seiner Hingabe, die Aufrichtigkeit seines Wirkens angezweifelt. Er war ein Dichter; das Schicksal führte ihn seinem Volke zu und machte ihn zum Helden; aber er hat nie aufgehört, Dichter zu sein. Er hat viel geirrt, aber es gilt von ihm sein eigenes Wort: „Es gibt im Leben eines Volkes . . . Individuen ohnegleichen. Ihre Fehler und Vorzüge gehören zum unveräußerlichen Eigentum der Nation, die solche Gestalten hervorbringt. Sie müssen sich nach ihrer Natur ausleben, schaden, nützen, das Volk hinreißen . . .; sie müssen Irrtümer wie eine fruchtbare Nilüberschwemmung über das Land ausgießen, für einen fernen Zweck."

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph

Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph