Zweite Fortsetzung

Im Gouvernement Minsk weist die offizielle Volkszählung überhaupt keine Ukrainer aus, d. h. sie zählt die sogenannten Pyncuken den Weißruthenen zu. Eine solche Entscheidung der Mitglieder der statistischen Kommission steht im Widerspruch zum Standpunkt, den in dieser Angelegenheit die Wissenschaft einnimmt. In Körperbau, Sprache und Tracht unterscheidet sich der Pincuk scharf vom Weißruthenen, hingegen kommt er der Bevölkerung des volhynischen Polisje sehr nahe. Er ist meist mittleren Wuchses, breitschulterig, untersetzt. Das Gesicht ist bei ihm breit, rund, mit stärker vorstehenden Backenknochen als bei den Weißruthenen, seine Haarfarbe überwiegend dunkel. Die Mundart der Pincuken gehört zur polisjischen Gruppe des Ukrainischen und unterscheidet sich merklich von den benachbarten weißruthenischen Mundarten. So kennt sie nicht die weißruthenische Aussprache des vortonigen o als a, dieses so charakteristische Merkmal des Weißruthenischen, aber auch das c und dz kommt sehr selten und das auch nur in den Grenzdörfern vor. Die Flexionsformen der Haupt- und Zeitwörter sind durchaus ukrainisch. Daher vertreten Kenner der örtlichen Verhältnisse wie Karskyj, Sendrjak und Dovnar-Zapolskyj sehr entschieden die Ansicht, dass die Pyncuken Ukrainer und keineswegs Weißruthenen sind.*) Dies gibt uns also vollauf das Recht, den ganzen Pinsker Bezirk und den südlichen Teil des Bezirkes Mozyr zum ukrainischen Territorium zu rechnen. Demnach geht die Grenze des ukrainischen ethnographischen Gebietes im Gouvernement Minsk von der Iasolda in nordwestlicher Richtung, die westliche Gouvernementsgrenze entlang bis zur Scara am Vygonovske-See, übergeht von hier bei Hancevici zum Flüsschen Cna und läuft am linken Ufer dieses Flüsschens bis zu seiner Einmündung in den Pripjatj. Dann wendet sie sich mit dem Pripjatj nach Osten und hält sich an diesen Fluss bis Mozyr. Unterhalb Mozyr wendet sie sich geradeaus nach Süden und erreicht nordöstlich von Ovruc die Grenze des Gouvernements Volhynien. Schließlich trifft sie, längs der nördlichen Grenze des Gouvernements Kyjiv verlaufend, den Dnipro, ein klein wenig oberhalb der Mündung des Pripjatj in den Dnipro.

*) Vgl. Russland, vollständige geographische Beschreibung unseres Vaterlandes, unter der Redaktion von V. P. Semenov; Bd. IX: Das obere Dnjeprland und Weißruthenien, St. Petersburg 1905, S. 193—195, und die ebenda, beigeschlossene Karte: Die Stämme des oberen Dnjeprlandes und Weißrutheniens.


Zwischen der Mündung des Pripjatj und der der Soza, auf etwa 90 km Länge, wird der Dnipro zum weißruthenisch-ukrainischen Grenzfluss. Vom Unterlauf der Soza an wendet sich die Grenze nach Osten und fällt bis zum Quellgebiet des Snov mit der Verwaltungsgrenze zwischen den Gouvernements Mohyliv und Cernyhiv zusammen. Hier endigt die weißruthenische Grenze und weiter ostwärts werden die Großrussen die nördlichen Nachbarn der Ukrainer. Im Cernyhivschen sondert die Volkszählung die vier nördlichen Bezirke: Novozybkiv, Suraz, Mynsk und Starodub als fremd, nichtukrainisch, ab. Schon früher bei der kritischen Betrachtung des objektiven Wertes der Volkszählung von 1897 haben vir die Aufmerksamkeit, auf den Umstand gelenkt, dass hier eine sehr scharfe ethnographische Grenze durch laufen würde, auf deren einer Seite (in den Bezirken Novozybkiv und Starodub) 94% Großrussen und auf der anderen (in den Bezirken Sosnycja und Novhorod-Siverskyj) 93% Ukrainer leben würden. Das fällt umso mehr in die Augen, als dort keinerlei natürliche geographische Grenzen verlaufen, weder ein versumpfter Fluss wie der Pripjatj, noch unwegsame Gebirge, was das Vorhandensein einer so scharfen Grenzscheide rechtfertigen würde. Dazu kommt, dass im Bezirke Novozybkiv die großrussische Kolonisation einen schmalen, nach Osten vorspringenden Keil bildet, der sich zwischen das ukrainische und weißruthenisehe Gebiet zwängt (der Bezirk Suraz ist nach der Volkszählung weißruthenisch), und derartige Keile haben, besonders in der Ebene, gewöhnlich eine gemischte Bevölkerung. Was den Bezirk Starodub betrifft, so leben dort an die 20.000 „kleinrussische Kosaken“, welche die Volkszählung den Großrussen zugezählt hat. Aber wie dem auch sei, wir müssen in Ermanglung anderer positiver Angaben annehmen, dass, wenn auch in jenen Gebieten zweifellos nicht wenig Ukrainer leben, sie doch die Minderheit der Bevölkerung bilden, und daher kein Grund besteht, jene Bezirke dem geschlossenen ukrainischen Gebiete einzuverleiben. Daher führen wir die ethnographische Grenze mit dem oberen Snov in östlicher Richtung bis zum Flussknie unterhalb Blesnja, ferner mit dem linken Nebenfluss des Snov bis zum Dorfe Semenivka, von hier nach Norden in der Richtung auf das Dorf Kurkovyci und dann wieder geradeaus östlich bis zur Einmündung des Flusses Suclofa in die Desna. Östlich der Desna folgt die ukrainisch-großrussische ethnographische Grenze der Verwaltungsgrenze zwischen den Gouvernements Cernyhiv und Orlov. Im Gouvernement Kursk weist die Volkszählung drei Bezirke mit überwiegend ukrainischer Bevölkerung auf: Putyvl 52,5% (in den Dörfern 55,3%), Hrajvoron 58,8% (in den Dörfern 60,5%) und Novo-Oskol 51% (in den Dörfern 55,6%) Ukrainer. Im Bezirk Suraz sind die Großrussen (51,9%) und Ukrainer (47,9%) fast gleichmäßig vertreten, in weiteren drei Bezirken haben die Ukrainer beträchtliche Minderheiten: Rylsk 31%, Koroca 34,3%, Bilkorod 21,2%. Hier tritt das, was wir im nördlichen Cernykivschen nicht gesehen haben, nämlich ein ziemlich breiter Streifen gemischten ukrainisch-großrussischen Territoriums auf, in dem das ukrainische Element in nordöstlicher Richtung immer mehr im großrussischen Übergewicht aufgeht. Und gerade da vermissen wir am meisten den Mangel von Angaben über Nationalität nach Dörfern oder wenigstens nach Volosten (Sammelgemeinden). Da wir keine leeren Vermutungen anstellen wollen, wie dies V. Kosovyj (Liter. Nauk. Vistnyk 1907, Bd. XXXIX, S. 330) tut, so sind wir genötigt, die ethnographische Grenze längs der gewundenen Bezirksgrenzen zu führen, wenn wir auch wissen, dass sich dies nicht vollkommen mit den Tatsachen deckt. Bloß im Bezirke Sudza weichen wir von diesem Grundsatz ab und zählen den südlichen Teil am Psjol zum geschlossenen ukrainischen Gebiet, wobei wir uns unter anderem darauf stützen, dass hier in Sudza, der Bezirkshauptstadt selbst, die Volkszählung doppelt so viel Ukrainer als Großrussen ausweist. Die so gestaltete Grenze geht von dem Punkte, wo die Grenzen der Gouvernements Orlov, Cernyhiv und Kursk Zusammenstößen, in nördlicher Richtung längs des Schienenweges von Hluchiv nach Vorozba bis zur nördlichen Grenze des Gouvernements Ckarkiv, wendet sich mit dieser Grenze nach Osten und, indem sie nördlich von Sudza und dem oberen Psjol verläuft, erreicht sie das Dorf Douhyj Kolodjazj; von hier geht sie in geschlängelter Linie über das Quellgebiet der Vorskla und Uda zurück zur Grenze des Charkivschen, genau nördlich von Charkiv. Mit der Grenze des Gouvernements Charkiv komt sie an Vovcansk vorbei zur Grenze des Gouvernements Voroniz. In diesem Raume schob sich die großrussische Kolonisation noch im 17. Jahrhundert nach Süden vor, bis sie von einer mächtigen ukrainischen aufgehalten wurde, die, in östlicher Richtung verlaufend, ihren Weg durchkreuzte. Bilhorod am oberen Donec war im 17. Jahrhundert der Mittelpunkt der „ukrainischen Städte“ der moskowitischen Ukraine, welche sich von Sevsk und Rylsk bis gegen Charkiv hinzogen. Auch jetzt noch nähert sich hier die großrussische ethnograpische Grenze auf 40 — 50 km der Hauptstadt der rechtsseitigen Ukraine. Scharf nach Westen und hierauf nach Norden umbiegend, geht die ethnographische Grenze von der Grenze des Voronizschen längs des Flüsschens Koroca bis zu dessen Quellen, dann biegt sie wieder nach Osten um, durchschneidet den Fluss Oskol gerade auf halbem Wege zwischen Alt- und Neu-Oskol und mündet in die Grenze des Gouvernements Voroniz.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Territorium und Bevölkerung der Ukraine