Erste Fortsetzung


Noch tendenziöser wurde die nationale Volkszählung in den Städten durchgeführt. Auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung von 1897 hätten die Ukrainer die absolute Mehrheit unter der städtischen Bevölkerung bloß im Poltavaschen (57,2%) und Charkivschen (54,2%). Es ist schwer zu verstehen, warum in den podolischen Städten 30,7% und in den volhynischen gar nur 19,7% ukrainischer Bevölkerung sein sollten, während in dem an Moskowien grenzenden Cernyhover Gebiet mit vier nichtukrainischen Bezirken sich bei eben derselben Volkszählung in den Städten 48,8% Ukrainer gegen 24,1% Großrussen fanden. Dafür zeigt das Katerynoslavsche wiederum nur 27,4% Ukrainer und sogar 41,8% Großrussen, fast doppelt so viel wie das Cernyhivsche. Diese und andere Abnormitäten zeigen ganz klar, dass die Volkszählungskommissionen nur vereinzelt ihre Aufgabe gehörig aufgefasst haben oder haben auffassen wollen und dass sie meist unter dem Einfluss der von der Behörde verkündeten Anschauung standen, dass es eine ukrainische Nationalität eigentlich nicht gebe, sondern bloß einen ukrainischen Volksdialekt, und daher alle Intelligenten und Halbintelligenten als „Ruski“ eintrugen, die man dann bei den summarischen Berechnungen den Großrussen zuzählte. Es ist auch möglich, dass gar mancher städtische Proletarier oder Intelligenzler aus Mangel an Nationalbewusstsein oder aus politischen Motiven seine Nationalität als „ruska“ angab. Als Ukrainer wurden bloß die Bürger in den kleinen Städten, die Vorstädter in den größeren Städten und dann die national eben voll bewusste ukrainische Intelligenz gezählt, die darauf bestand. Dass dem in der Tat so war, dafür haben wir einige Beweise. Nehmen wir beispielshalber die Beschäftigungsstatistik. Die Volkszählung von 1897 zeigt, dass von den Ukrainern sich 88% mit dem Ackerbau und damit verwandten Beschäftigungen befassten, während der Prozentsatz der Ackerbauer in ganz Russland (ohne Finnland) nur 75% beträgt. Kein anderes Volk in Europa und, wie es scheint, auch in der ganzen Welt weist einen so hohen Prozentsatz Ackerbauer auf. Wenn man hinzufügt, dass 3,6% Ukrainer auf Schwerarbeiter und Diener entfallen und 4,6% sich mit der Bearbeitung der Stoffe für Hausbau und Kleidung befassen, so ergibt sich, dass das ukrainische Volk nur auf diese drei Arten von Berufen verteilt ist und fast gar keine Vertreter in den anderen hat. Dem ist nun selbstverständlich nicht so, wie dies jeder mit den Verhältnissen in der Ukraine Vertraute weiß, und man kommt zu diesem Ergebnis eben nur auf die Art, dass die Volkszählung die Vertreter der höheren Berufe in die Rubrik ,,Großrussen“ einbezogen hat. Noch deutlicher erhellt dies aus der Statistik der Bildung. Wenn man sich auf die Angaben der Volkszählung von 1897 stützen wollte, so müsste man die Ukrainer für das kulturell rückständigste, für ein ganz ungebildetes, ja der Bildung geradezu abholdes Element des russischen Reiches ansehen. Dass dem nicht so ist, zeigen nicht nur die geschichtliche Vergangenheit des ukrainischen Volkes, sondern auch schon die Angaben eben jener Volkszählung, wenn sie nur ins rechte Licht gerückt werden. Vergleichen wir die Gouvernements mit rein ukrainischer Bevölkerung mit den rein großrussischen. Im Poltavaschen beträgt der Prozentsatz der Lese- und Schreibkundigen 16,9%, im Charkivschen 16,8% und dem gegenüber z. B. im Gouvernement Orlov 17,6%, im Gouvernement Pskov gar nur 14,6%, im weißruthenisch-großrussischen Smolenskschen 17,3%. Oder nehmen wir z. B. das Gouvernement Voroniz mit gemischter ukrainisch-großrussischer Bevölkerung (Großrussen 63,3%, Ukrainer 36,2%), so ergibt sich ein für beide Völker gleich hoher Prozentsatz der Lese- und Schreibkundigen: 16,3%; ähnlich auch im Cernyhivschen, wo die nationale Volkszählung mehr weniger objektiv durchgeführt wurde, bei einem Gesamtprozentsatz Lese- und Schreibkundiger von 18,2% lese- und schreibkundige Ukrainer 16,4%. Allein neben den angeführten Daten bringt die Volkszählung von 1897 in einigen anderen Gouvernements auch ganz abweichende. Im Kyjivschen ist der Gesamtprozentsatz der Lese- und Schreibkundigen mit 18,1% angegeben, unter den Ukrainern bloß mit 11,8% ; im Katerynoslavschen 21,5% unter den Ukrainern bloß 14,4% ; im Chersonschen 25,9%, unter den Ukrainern 15,3% usw.; und schon gar auffallend ist der Unterschied in Volhynien, wo gegen über den Gesamtprozentsatz der Lese- und Schreibkundigen von 17,2% der ukrainische nur 9,4%, also wenig mehr als die Hälfte ausmacht. Merkwürdigerweise ergeben sich so große Unterschiede bezüglich der Lese- und Schreibkundigen gerade in jenen Gouvernements, wo, wie wir oben aufgezeigt haben, die Zahl der Großrussen abnormal groß ist. Was bedeutet nun das? Nichts Anderes, als dass man hier bei der Volkszählung ganze Mengen ukrainischer Intelligenz und Gebildeter aus ukrainischen Volksschichten als Großrussen eingetragen hat. Die Berufsstatistik und die Statistik der Lese- und Schreibkundigkeit erweist die Ungenauigkeit der nationalen Volkszählung.

Die oben vorgebrachten Einwände zeigen, dass die von der Volkszählung von 1897 angegebene Gesamtzahl der Ukrainer im großrussischen Beiche beträchtlich zugunsten des herrschenden großrussischen Elementes zugestutzt ist, dass sie hinter den wirklichen Zahlen weit zurücksteht. Gleich wohl werden wir, indem wir jetzt zur Einzelbetrachtung des vom ukrainischen Volke besiedelten Gebietes übergehen, gezwungen sein, uns auf die genannte Volkszählung zu stützen aus dem einfachen Grunde, weil es andere authentische allgemeine Quellen dieser Art überhaupt nicht gibt und irgendwelche Verallgemeinerungen auf Grund von Beobachtungen in einigen Dörfern oder einer einzelnen Gegend in einem leidenschaftslosen wissenschaftlichen Aufsatz keinen Platz finden dürfen. Nur in vereinzelten Fällen, dort wo andere durchaus sichere und authentische Daten es ermöglichen, werden wir, gestützt auf eine feste reale Grundlage, die nötigen Korrekturen vornehmen. Eine andere unumgängliche Notwendigkeit, die auch durch das uns zu Gebote stehende Material bedingt ist, zwingt uns, als Grundlage für die ethnographische Betrachtung den Bezirk anzunehmen. Dass das Gouvernement eine solche Grundlage nicht sein kann, ist klar. Das ist ein übermäßig ausgedehntes Verwaltungsgebiet und die große Zahl der Gouvernements mit gemischter Bevölkerung zeigt, dass die Gouvernementsgrenzen sehr selten mit den ethnographischen Grenzen zusammenfallen. Aber auch die Bezirke sind noch viel zu groß, um sie als verlässliche Einheit der Bestimmung des nationalen Gebietes zugrunde zu legen; denn es gibt auch genug Bezirke mit einem sehr bunten Völkergemisch, da man doch auch die Bezirksgrenzen nicht nach ethnographischen Grundsätzen gezogen hat. Eine vollkommen genaue und der Wirklichkeit entsprechende ethnographische Grenze könnte man nur dann ziehen, wenn wir Angaben über die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung der einzelnen Dörfer oder wenigstens der Volosten (Sammelgemeinden) hätten. Nur in Ermanglung solcher Daten und durch die, wie gesagt, unumgängliche Notwendigkeit gezwungen, nehmen wir als Ausgangspunkt den Bezirk an und wollen nur dort versuchen, eine genauere Grenze zu ziehen, wo dies ein anderes authentisches Material zulässt. Zum geschlossenen ukrainischen Territorium rechnen wir alle jene Bezirke, in denen die Ukrainer die absolute Mehrheit der Bevölkerung (d. i. mehr als 50%) bilden oder wo keine Nation die absolute, die ukrainische aber unter ihnen die relative Mehrheit hat. Wir beginnen die Übersicht der Grenzen des geschlossenen ukrainischen Gebietes vom Nordwesten. Hier sind die Weißruthenen Nachbarn der Ukrainer. Eine genaue Ermittlung der ukrainisch-weißruthenischen Grenze gehört zu den schwierigeren Fragen deshalb, weil wir im Grenzgebiet Übergangsmundarten finden, welche die einen Gelehrten zum Ukrainischen, die anderen zum Weißruthenischen zählen. Die Volkszählung von 1897 zeigt, dass im Gouvernement Grodno die Ukrainer in den zwei am weitesten nach Süden vorgeschobenen Bezirken, Berestje und Kobryn, die absolute Mehrheit der Bevölkerung bilden. Im dritten, Bilsk, sind als Ukrainer bloß 39,1% (auf den Dörfern 42%) der Bevölkerung ausgewiesen, aber sie haben hier die relative Mehrheit. Auf den Karten von Rittich-Petermann und Velycko wird auch der Bezirk Pruzany zum ukrainischen Territorium gezählt, aber nach den Angaben der Volkszählung ist das eine weißruthenische Enklave (75,5% Weißruthenen, 6,7% Ukrainer). Der vom deutschen Kommando „Ost“ herausgegebene Atlas über die ethnographischen Verhältnisse im westlichen Russland („Völkerverteilung in Westrussland“, 2. Auflage, Hamburg, L. Friedricksen & Co., 1917) zählt auf der Übersichtskarte den Bezirk Pruzany zum ukrainischen. Offenbar handelt es sich da um die Frage, ob die pruzansche Übergangsmundart mehr gemeinsame Merkmale mit dem Ukrainischen oder aber mit dem Weißruthenischen hat. Solange diese Frage nicht entschieden ist, hat man keinen Grund, die Angaben der Volkszählung zu verwerfen oder zu ändern. Daher wird man die ethnographische Grenze des ukrainischen Gebietes im Gouvernement Grodno folgendermaßen führen: längs der Narva stromaufwärts von Suraz an bis zum Westrande des Bjelovjez-Urwaldes, ferner längs des West- und Südrandes dieses Forstes bis zum Quellgebiet der Lisna, eines rechten Nebenflusses des Bug, von da nach Süden bis zum Flüsschen Muchavec, westlich von Kobryn, endlich in östlicher Richtung in einem nach Norden ausgebauchten Bogen, mehr weniger längs der Eisenbahnlinie Minsk—Berestje Lytowske bis zur Jasolda und dann die Jasolda abwärts bis zur Gouvernementsgrenze.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Territorium und Bevölkerung der Ukraine