I. Das ethnographische Gebiet der Ukraine.

Schon seit jeher wurden Versuche einer genauen Abgrenzung des vom ukrainischen Volke besiedelten Gebietes und einer genauen Feststellung der Zahl der Ukrainer gemacht. Indessen konnten alle diese Versuche, wenigstens soweit es sich um die russische Ukraine handelte, keinen Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit machen, da die hierzu erforderlichen authentischen Daten vollständig fehlten. Die Karte von Rittich-Petermann, herausgegeben in Petermanns Geographischen Mitteilungen 1878, die Karte von Georg Velycko*) aus dem Anfang der neunziger Jahre und andere stützen sich auf ein sehr verschiedenes und in seinem Werte sehr ungleichmäßiges Material und gaben daher nicht die volle Gewähr für Genauigkeit in den Einzelheiten. Erst die erste allgemeine russische Volkszählung, welche am 28. Januar 1897 durchgeführt wurde, bot detaillierte Angaben über die Zahl und das Siedlungsgebiet aller das russische Reich bewohnenden Völker, somit auch) des ukrainischen Volkes. Leider wurde diese Volkszählung später nicht, wiederholt und daher sind die Angaben aus dem Jahre 1897 bis heute die einzige amtliche Quelle geblieben, die uns für die hier zu behandelnden Fragen zu Gebote steht.

*) In den slawischen Namen des Textes schreiben wir v = w, c = tsch, c = z, z= dem stimmhaften s, s = sch und z = sh.


Doch müssen wir uns hier schon dagegen verwahren, als würden wir jene Volkszählung in allen ihren Einzelheiten gleichsam als ein unfehlbares Evangelium ansehen, wie dies K. Fortunatov in seiner Broschüre „Die nationalen Siedlungsgebiete Russlands“ und einige andere Forscher getan haben. Die amtlichen Volkszählungen der Nationalitäten haben den Fehler, dass sie den Einflüssen der offiziellen Politik unterliegen und mehr oder weniger unrichtige Ergebnisse liefern, und zwar immer zugunsten der staatlichen und zuungunsten der nichtstaatlichen Völker. Die alle 10 Jahre stattfindenden Volkszählungen in Galizien und Ungarn können als klassisches Beispiel einer amtlichen Fälschung der nationalen Statistik gelten. Im Vergleich zu ihnen ist die russische Volkszählung von 1897 noch ziemlich gewissenhaft. Dass aber auch sie das tatsächliche Verhältnis der nationalen Kräfte nicht getreu widerspiegelt, dass auch sie zugunsten des herrschenden (großrussischen) Volkes zugeschnitten ist, darauf hat schon Russov in seinem Bericht in der Freien ökonomischen Gesellschaft im Jahre 1905 sowie auch in einem Aufsatz „Einige Bemerkungen über das Territorium und die Bevölkerung der Ukraine“ (Ukr. Vestnik 1906) hingewiesen und auch V. Kosovyj in der Abhandlung „Die nationalen und territorialen Grenzen der Ukraine“ (Lit. Nauk. Vestnyk 1907) vermerkt. Wir wollen versuchen, ihre Einwände durch einige eben jener Volkszählung entnommene Daten zu stützen. Wie schon bemerkt, ist die nationale Volkszählung von 1897 sehr ungleichmäßig und inkonsequent gearbeitet, je nach der größeren oder geringeren Geschicklichkeit und Gewissenhaftigkeit der mit der Volkszählung Betrauten oder je nach dem Standpunkt, den gegenüber der nationalen Frage die Lokalbehörde, beziehungsweise der Vorsitzende der örtlichen Volkszählungskommission, der Ispravnik, einnahm. So ist z. B. bekannt, dass in den ukrainischen Gouvernements, wo die ukrainische Bevölkerung seit Alters her oder zum mindesten seit einigen Jahrhunderten lebt, von einer großrussischen Kolonisation keine Rede sein kann. Die Zahl der Großrussen ist hier sehr gering; es ist dies ein ständig wechselndes, zuströmendes Element: Beamte verschiedener Kategorien, Priester mit ihren Familien, Polizei und Gendarmerie, militärische Organe, verschiedene Professionisten usw. und auch von diesen bei weitem nicht alle; gibt es doch auch unter ihnen genug ortsansässige Ukrainer. Alles das zusammen ergibt durchschnittlich 1—2% der Bevölkerung. Nur in den größeren politischen, Handels- und gewerblichen Mittelpunkten, wie Kyjiv oder Charkiv, finden sich Großrussen in größerer Zahl auch in den anderen Schichten der Bevölkerung, unter den Kaufleuten, Gewerbe treibenden, Facharbeitern usw. Daher weist auch in jenen Teilen des russischen Reiches, wo eine Bevölkerung mit stark entwickeltem Nationalbewusstsein lebt, wie z. B. in Polen, die Volkszählung nur 1/2 —2% Großrussen aus. Sogar in einem so bedeutenden Mittelpunkt wie Warschau erreicht die Zahl der großrussischen Bevölkerung keine 8%. Dasselbe sehen wir auch in den altukrainischen Gouvernements, in jenen Bezirken, wo die nationale Volkszählung regelrecht und gewissenhaft durchgeführt wurde. So z. B. schwankt in allen Bezirken des Kyjiver Gouvernements mit Ausnahme des Kyjiver und Berdicever Bezirkes, der durch die Volkszählung ausgewiesene Prozentsatz der Großrussen zwischen 1,1% (im Lipover Bezirk) und 2,3% (im Bezirke Vassylkiv), im Gouver nement Poltava in allen Bezirken mit Ausnahme der Bezirke Poltava, Konstantinohorod und Kremencug zwischen 0,6% (in den Bezirken Hadjac und Zinkiv) und 1,5% (im Bezirke Lubni). Sogar, im Gouvernement Cernyhiv, das unmittelbar an das großrussische Nationalgebiet grenzt, und von allen ukrainischen Ländern am längsten unter moskowitischer Herrschaft gestanden ist, finden wir Bezirke mit einem ebenso geringen Prozentsatz großrussischen Elementes, so z. B. die Bezirke Borzna und Krolevec mit je 0,7%, Kozelec ,1%, Sosnycja 1,2%, Oster 1,8%, Nizyn 1,9% u. a. Demgegen über muss man die Angaben der genannten Volkszählung, als würde in den Bezirken des Cholmlandes und Volhvniens die Zahl der Großrussen zwischen 2—6% , im größeren Teile des Gouvernements Podolien zwischen 2—7%, in den ukrainischen Bezirken des Gouvenements Grodno zwischen 3—10% schwanken, als ganz sonderbar und unglaubwürdig ansehen. zumal jene Gebiete später unter die moskowitische Herrschaft gelangt sind, weit entfernt vom großrussischen ethnographischen Grenzgebiet und ganz abseits von der Richtung der großrussischen Kolonisation liegen. Nicht weniger rätselhaft erscheint es, woher im Bezirke Konstantinohorod, Gouvernement Poltava, 12% und im Bezirke Zmyjiv des Gouvernements Charkiv gar 35% Großrussen kommen. Auch das großrussisch-ukrainische Grenzgebiet ist stark zuungunsten der Ukrainer zugeschnitten. Während wir sonst an 6 ethnographischen Grenzen einen mehr oder weniger breiten Streifen gemischter Bevölkerung finden, treffen wir im Cernihivschen eine unnatürlich scharfe Grenzlinie, die merkwürdigerweise mit den Bezirksgrenzen genau zusammenfällt: in unmittelbarer Nachbarschaft des Bezirkes Novhorod-Siverskyj mit 4% Großrussen haben wir den Bezirk Starodub mit 93% großrussischer Bevölkerung, angrenzend an den Bezirk Sosnycja mit 1% den Bezirk Novozybkiv mit 94,5% Großrussen. Als nicht unerheblich zuungunsten der Ukrainer vergrößert müssen wir auch den Prozentsatz der Großrussen in den sogenannten neurussischen und ziskaukasischen Gouvernements ansehen, wenn wir auch nicht bestreiten, dass dorthin auch die großrussische Kolonisation geht. Diese Vergrößerung kann man sozusagen urkundlich feststellen auf Grund der Angaben über die Einwanderung in die genannten Gebiete und über die Herkunft der Kolonisten aus den einzelnen Gouvernements. Nehmen wir z. B. das Gouvernement Stavropil, welches die Großrussen und Ukrainer erst in ganz junger Zeit, im Laufe des 19. Jahrhunderts besiedelt haben. Die Volkszählung von 1897 fand dort 203.368 (auf 873.301 der Gesamtbevölkerung des Gouvernements) außerhalb der Grenzen des Gouvernements Geborene, also frisch eingewanderte Kolonisten. Aus dem europäischen Russland (mit Ausnahme Finnlands) kamen hin 199.391, davon aus rein groß russischen Gouvernements 50.270, d. i. 25,2%, aus ukrainischen 88.078, — allein Poltava und Charkiv gaben zusammen 53.474 Einwanderer, d. h. 44,2%. Wie kann man daher gegenüber dieser Tatsache den Angaben der Volkszählung betreffend die Nationalität Glauben schenken, welche im Gouvernement Stavropil 55,3% Großrussen und nur 36,6% Ukrainer ausweist?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Territorium und Bevölkerung der Ukraine