Die Flucht und welchen Dolmetscher René fand



René war einem der nächsten Hügel zugeeilt. Aber selbst das schien schon kein leichtes Unternehmen zu werden. Der Proviant, den er für ein Hemd eingetauscht hatte, wurde ihm beim Lauf durch das Dickicht hinderlich. Er wußte aber, was ihm bevorstand, wenn er von den Leuten des „Delaware“ wieder eingefangen wurde. Als er hügeligen Boden erreichte, wurde seine Flucht dadurch erleichtert. Das Land war hier bearbeitet, und er mußte sich nicht mehr durch dichte Büsche seine Bahn brechen. Blieb er in der Nähe des bebauten Landes, so brauchte er auch keinen Hunger zu fürchten, denn überall wuchsen genügend Früchte. Nur die Kokospalmen reichten nicht mehr so weit hinauf. Aber er entdeckte auf den Feldern eine Menge Wassermelonen, die ihn reichlich dafür entschädigen konnten. Aber jetzt durfte er sich nicht weiter beladen, denn er trug bereits, was er mitnehmen konnte, und die Hitze war groß.


Durch die Felder ging seine Flucht ganz gut, dann aber wurde das Dickicht wieder so schlimm wie vorher, und die Guiavenbüsche schienen hier eine undurchdringliche Hecke zu bilden. Als sie aufhörten, und damit auch jede Form von Fruchtpflanzen, begannen hohe, dunkle Kasuarinen, die einen leichteren Durchgang ermöglicht hätten, wenn nicht so viele trockene Äste zwischen ihnen gelegen hätten. Aber, er mußte hindurch, und mit diesem Willen überwand er alle Schwierigkeiten. Jetzt wurde der Boden steinig, und als er den höchsten Punkt endlich erreicht hatte, fand er zu seiner Freude einen kleinen, felsigen Platz. Diese Stelle ließ sich leicht zu einem Kastell ausbauen. Zehn Fuß war er dort oben von allen Seiten frei, und das brüchige Gestein, das den auflaufenden Gipfel bildete, konnte ihm als Versteck dienen. Außerdem ließen sich die losen Steine als Waffe verwenden, falls er doch entdeckt wurde.

Mit einem Triumphruf nahm er von dieser kleinen Festung Besitz. Als er seine Last abgeworfen und sich die nassen Haare aus der Stirn strich, sagte er lächelnd: „Beim Himmel, mit Adolphe und zwei guten Gewehren wollte ich mir hier die ganze Besatzung des ‚Delaware‘ vom Leibe halten! Ha – der ‚Delaware‘!“ unterbrach er sich überrascht. Als er einen Blick über den kleinen Wall warf, bemerkte er, daß er frei über das Meer schauen konnte. Dort oben lag sein altes Schiff so klar und nah vor ihm, daß er die einzelnen Leute an Bord sehen konnte. Mit dem Fernglas mußte es möglich sein, ihn auf dem Hügel zu erkennen, wenn er sich frei zeigen würde. Eben kletterten die Landgänger an Bord. Er wußte, daß man ihn längst vermißte und daß die Eingeborenen ihn jetzt suchen würden. Mit seiner schweren Ladung hatte er an vielen Stellen eine ziemlich breite Fährte zurückgelassen. Die kurze Zeit, die ihm bis zur Entdeckung blieb, wollte er benutzen, um seine Stellung so gut wie möglich zu befestigen. Alles andere würde das Schicksal entscheiden. Er war jung und ein Franzose – also weit davon entfernt, sich vorzeitig Sorgen zu machen.

Mit Ausnahme von zwei kleinen Terzerolen trug er keine Schußwaffen. Ein langes, zweischneidiges, schweres Messer steckte in einer Lederscheide. Als er die beiden kleinen Pistolen aus der Tasche nahm und vor sich auf die Steine legte, überflog ein trotziges, fast mutwilliges Lächeln seine schönen Züge.

„Es sind zwar keine Zweiunddreißigpfünder, und ich weiß noch nicht einmal, ob sie wirklich losgehen, aber sie haben doch Mündungen. Wenn die Eingeborenen hier überhaupt schon einmal eine solche Waffe gesehen haben, so müßte ich mich sehr irren, wenn ich mir nicht damit die ganze Insel vom Leibe halten kann. Kurze Zeit werden sie mir aber jetzt noch Ruhe lassen, und die will ich wenigstens nutzen, um mich etwas zu stärken.“ Damit schnürte er sein Bündel auf, in dem er auch etwas Schiffszwieback und ein Stück Salzfleisch verborgen hatte. Mit einem Teil davon, einigen Bananen und einer Kokosnuß hielt er eine so vortreffliche Mahlzeit, als ob er sich in völliger Sicherheit befände.

Die Feinde waren ihm jetzt viel näher, als er selbst vermutete. Kaum hatte er sein Essen beendet und nahm noch einen Schluck Milch aus der Kokosnuß, als er nicht weit entfernt ein Geräusch hörte. Er hielt horchend inne – da krachten wieder die Büsche. Trotzdem trank er erst in aller Ruhe, stellte dann die Nuß vorsichtig zur Seite, damit sie nicht umfiel, und griff seine beiden Pistolen auf. Aufmerksam beobachtete er jetzt zwischen den Steinen hindurch die Stelle, von der er die Geräusche gehört hatte. Es dauerte nicht lange, und er konnte schon die bunten Kattunüberwürfe mehrerer Eingeborener erkennen, die langsam und aufmerksam den Boden betrachtend seinen Spuren folgten.

Wie viele es waren, ließ sich noch nicht erkennen, aber das war jetzt auch gleich. War er erst einmal aufgefunden, konnten sie schnell Verstärkung holen. Er mußte deshalb jetzt sehen, ob er sich auf friedliche Weise mit ihnen verständigen konnte. Der erste der Eingeborenen, der ihr Anführer zu sein schien, sandte jetzt jeweils zwei Mann rechts und links um die Steingruppe, um zu sehen, wohin die Spuren weiter führten. Er selbst kam gerade auf den Felsen zu. René wußte, daß er von diesen Leuten noch weiter keine Gefahr zu befürchten hatte. Aber sein Aufenthalt war nicht länger zu verheimlichen. Er richtete sich auf und stützte sich mit den Ellbogen auf den vor ihm liegenden Felsblock. Erst sah er dem Mann unten eine Weile lächelnd zu und sagte dann plötzlich mit lauter Stimme den schon mehrfach gehörten Gruß:

„Joranna boy!“

Wäre dem Eingeborenen plötzlich ein grimmiger Tausendfüßler über den Nacken gelaufen, hätte er nicht rascher und erschrockener in die Höhe und dann zur Seite springen können. Erst das laute Lachen Renés brachte ihn wieder zu sich. In seiner Überraschung hatte er einen Schrei ausgestoßen, und gleich darauf standen seine Begleiter neben ihm. Sie schienen etwas verlegen zu sein, als sie den Gesuchten so plötzlich friedlich lachend vor sich hatten.

Erst sahen sie schweigend zu ihm empor, sie mißtrauten ihm offensichtlich. Obwohl sie wußten, daß der Weiße unbewaffnet war, wußten sie doch nicht, welche außerordentlichen Mittel er sonst noch hatte, um ihnen zu schaden. Sie wollten zwar gern die ausgesetzte Belohnung verdienen, dabei aber keineswegs ihr Leben einsetzen. René blieb unverändert in seiner Haltung, und langsam verlor sich die Furcht der Eingeborenen. Der Anführer sah seine Gefährten erst ganz ernsthaft an, dann verzog ein breites Grinsen seine sonst gutmütigen Züge. Die anderen wußten noch immer nicht, wie sie sich verhalten sollten, dann wurde ihnen das Komische ihrer Lage bewußt. Erst lächelte der eine, und war gleich darauf so finster wie vorher. Dann sah er den Häuptling und dessen ausbrechende Fröhlichkeit und glaubte wahrscheinlich, nun endlich auch herausplatzen zu können. Die anderen drehten sich erschrocken zu ihm um.

„Joranna, Joranna!“ rief jetzt der erste hinauf, dem offensichtlich ein Stein vom Herzen gefallen war. Es stellte sich heraus, daß er etwas gebrochen Englisch sprach. Auf diesen Inseln gab es immer wieder Eingeborene, die sich Worte und Redensarten beim Handel mit den Weißen aufgeschnappt und behalten hatten.

„Joranna boy! Wie gebt es? Wie geht’s, Freund? Komm herunter, komm herunter, weißer Mann Kapitän sagt, soll herunterkommen!“

„So? Weißer Mann Kapitän sagt also, ich soll herunterkommen?“ sagte René und lachte dabei.

Der Eingeborene nickte, erfreut, daß er so gut verstanden wurde. Dann versicherte er seinen Begleitern, daß er die Sache jetzt gleich in Ordnung bringen würde.

„Und wenn ich weißer Mann kein Kapitän nun nicht will?,“ erkundigte sich René, noch immer lachend.

„Nicht will?“ rief der Führer der Eingeborenen erstaunt aus und sah den Fremden an. Aber er konnte in dessen Gesicht noch immer keinen Ernst entdecken. So hielt er die Antwort für einen guten Spaß, schaute sich um, lachte laut auf und erzählte seinen Begleitern mit der größten Heiterkeit, was der Weiße da oben eben so Lustiges gesagt hatte.

Die übrigen Eingeborenen, die gleich von Anfang an nichts anderes erwartet hatten, konnten darin aber keinen Spaß entdecken. Ein paar Worte an den Alten machten ihn ebenfalls rasch wieder ernst. Jetzt glaubte auch er an die Möglichkeit, daß der Fremde möglicherweise wirklich nicht selber herunterkommen wollte. Ihn da herunterzuholen war jedenfalls eine unangenehme Sache.

„Ach, bah!“ sagte dann aber der Alte kopfschüttelnd. Dabei machte er ein Gesicht, als ob er mit einem ungezogenen Kind schimpfte. „Närrisch! Weißer Mann Kapitän guter Mann, verlangen weiter nichts als herunterkommen.“

„Was bekommt ihr dafür, mich zu holen?“ erkundigte sich René jetzt plötzlich und brachte den Redner damit völlig aus der Fassung. Er sah erst den Weißen erstaunt an, dann seine Begleiter und war unschlüssig, ob er diese etwas indiskrete Frage so geradezu und wahrheitsgemäß beantworten sollte. Er hielt es auch für besser, erst einmal mit seinen Begleitern darüber zu beraten. Die hatten aber keine Bedenken, und jetzt erzählte der Anführer völlig ernst und sachlich von den Artikeln, die sie bekommen würden. Dabei zeigte er einen Eifer und eine Genauigkeit, als ob das noch ein besonderer Grund für den Weißen sein müsse, nun schnell herunterzukommen und ihnen die zustehenden Dinge nicht weiter widerrechtlich vorzuenthalten.

Zu ihrem Erstaunen ließ sich aber der Fremde selbst nicht durch die Erwähnung des Handbeils und der fünf Yards roten Kattuns bestechen, sondern blieb ruhig und unbeweglich in seiner Stellung. Natürlich war René diese Aufzählung nicht angenehm. Er konnte daraus sehen, wie sehr dem Harpunier daran lag, ihn wieder zu fangen. Die Habgier dieser einfachen und gutmütigen Leute war jedenfalls erregt, und sie würden alles tun, um den versprochenen Lohn so rasch wie möglich zu verdienen. Überredung half hier nichts, das sah er sofort. Selbst, wenn er ihre Sprache beherrscht hätte, wäre das unmöglich geworden. Er konnte jetzt nur versuchen, ihnen Geld und vielleicht Kleider in gleicher Menge anzubieten. Das hätte noch den Vorteil, daß die Eingeborenen keine Gefahr für sich bei einer Auseinandersetzung fürchten mußten.

Als sie mit der Aufzählung fertig waren und zu ihm aufsahen, als könne er nun nicht länger widerstehen, entgegnete er: „So? Das also hat euch weißer Mann Kapitän alles geboten, um mich allein wieder unten abzuliefern?“

„Ja, Freund, bloß unten abliefern!“ lautete die Antwort.

„Tot oder lebendig?“ fragte der junge Mann kaltblütig und erschrak damit den alten Mann heftig. Jetzt begann der Anführer erst zu ahnen, daß der Fremde möglicherweise doch nicht so gutwillig mit ihnen gehen würde.

„Tot oder lebendig?“ wiederholte er erstaunt und versuchte zu lachen, was ihm aber mißglückte. „Tot? Wir wollen doch weißen Mann nicht tot abliefern, lebendig natürlich!“

„Wenn sich nun aber der weiße Mann zur Wehr setzt?“

„Zur Wehr setzen?“ wiederholte der Anführer, der das Wort nicht richtig zu verstehen schien.

„Ich meine, wenn weißer Mann unter keiner Bedingung gutwillig mitgehen will und sich verteidigt?“ erklärte es ihm der Fremde deutlich genug.

„Aber fünf Yards roten Kattun! Ein Handbeil! Zwei Messer!“ begann der erstaunte Eingeborene alle Herrlichkeiten wieder aufzuzählen. René lag aber nicht daran, sie nur hinzuhalten. Mitten in der erneuten Aufzählung unterbrach er ihn deshalb und sagte freundlich, während er eine ganze Handvoll Silbergeld aus seiner Tasche nahm und sie ihnen zeigte: „Was wollt ihr denn tun, wenn ich euch so viel bares Geld gebe, wie euch weißer Mann Kapitän für mich versprochen hat, und ich dann bei euch bleibe und bei euch lebe?“

Das war jedenfalls ein Vorschlag zur Güte, und die Eingeborenen berieten sich lange. Dann erkundigte sich der Alte, wieviel Geld er da eigentlich in der Hand halte. René zählte es rasch. Es waren sechs Fünffrancstücke und vielleicht zehn Franc in kleiner Münze, Geld, wie sie es hier durch den Handel mit Tahiti gut kannten. Für eine solche Summe konnten sie natürlich die gleiche Menge Ware bekommen, wie sie ihnen geboten war. Aber der nächste Handelsplatz, Papeete, war weit und die Sachen noch nicht hier. An Bord des Walfängers dagegen würden sie sie sofort erhalten. Die Unterhandlung fiel deshalb für den Matrosen ungünstig aus. Der Alte versuchte nun, gewissermaßen als Entschuldigung, ihm zu erklären, daß niemand auf der Insel ohne Zustimmung ihres Königs leben dürfte. Selbst wenn sie wollten, könnten sie nicht allein darüber entscheiden. Aufrichtig setzte der Anführer noch hinzu: „Selbst wenn wir jetzt dein Geld nehmen und dich in Ruhe lassen, könnten wir dich nicht schützen. Der König würde bald andere schicken, um dich trotzdem zu fangen.“

René sah das ein und beschloß, mit Seiner Majestät direkt zu verhandeln. Aber wie sollte das geschehen? Stieg er herunter, so gab er sich freiwillig in die Gewalt seiner Feinde. Überfielen die ihn dann, so konnten sie ihm ohne Mühe abnehmen, was er bei sich hatte, und er würde keinen Centime mehr davon sehen. Dem König konnte er aber auch nicht zumuten, hier zu ihm hinaufzuklettern, um mit ihm zu verhandeln. Trotzdem beschloß er, wenigstens den Versuch zu unternehmen. Er bat also den Anführer der Gruppe, daß er dem König Nachricht zukommen ließ, daß er mit ihm verhandeln wolle. Er bäte um die Erlaubnis für einen längeren Aufenthalt auf dieser Insel, bis sich das fremde Schiff entfernt hätte. Dafür würde er dem König, wenn der ihm für seine Sicherheit garantiere, zwanzig Fünffrancstücke auszahlen. Das war ein enormer Betrag für die Eingeborenen.

„Ja, sehr gut das!“ sagte der alte Mann nach einer kurzen Pause, in der er ernst überlegte. „Sehr gut das, weißer Mann nicht Kapitän kann mit König sprechen, aber muß hinuntergehen. König nicht heraufkommen hier oben auf Berg. König sehr faul, nicht viel Berge steigen.“

„Ja, da kann ich ihm nicht helfen. Wenn er die zwanzig großen Silberstücke verdienen will, muß er dafür mehr tun, als nur mit dem Zepter zu winken. Also marsch, gute Freunde, bringt Seiner Majestät meinen freundlichen Gruß und Handschlag und meldet ihm, was ich ihm hiermit anbiete. Er soll einen guten Vasallen an mir haben und wird sicherlich von mir noch Nutzen haben. Ich bin gelehrig, und wer weiß, ob ich mich nicht selbst ganz gut zum Schwiegersohn und Nachfolger eignen würde!“ sagte René und lachte wieder.

Der Alte verstand sicher nicht die Hälfte von dem, was ihm der Fremde da gerade übermütig erzählte. Aber er begriff doch, daß er dem König eine bedeutende Summe für seine Freiheit anbot und sonst nicht die Absicht hatte, von seinem Punkt herunterzukommen. Ging nun der König auf diese Bedingung ein, so verlor er selber seinen Anteil an dem ausgesetzten Lohn. Ging er aber nicht darauf ein, so war der ganze Weg doch umsonst gewesen. So erschien es ihm weitaus besser, den jungen, freundlichen Burschen gleich mitzunehmen. Er würde sich dabei sicher nicht gegen sie wehren, alles andere könnten sie später ausmachen. Schnell wechselte er mit seinen Begleitern einige Worte und wandte sich dann wieder an den Matrosen, der ihn aufmerksam beobachtet hatte. Mit bedächtiger Stimme sprach er jetzt und wickelte dabei das Lendentuch etwas fester um sich.

„Ja, weißer Mann, alles gut, weißer Mann Kapitän hat aber gesagt, müssen unten sein, bis Boot mit Kattun und Tabak und Messer und Beil und Hacke und anderen Sachen zurückkommt. So komm nur jetzt solange herunter, wollen unten erst zu König gehen, und nachher zu weiße Mann Kapitän.“

„Ich habe dir schwerhörigem Burschen doch schon gesagt, daß ich nicht eher herunterkommen will, als bis ich euren König gesprochen habe!“ rief René jetzt schon ungeduldiger. „Also sieh zu, daß du zu ihm kommst! Je eher er hier ist, desto schneller können wir unseren Handel beenden!“

Ob der Alte ihn nicht richtig verstanden hatte oder aber jetzt handeln wollte, konnte René nicht unterscheiden. Jedenfalls begann er entschlossen mit dem Aufstieg.

René hätte ihm ohne Mühe einen der schweren Steine auf den Kopf rollen können, aber er wollte in seinem eigenen Interesse Feindseligkeiten so lange wie möglich hinauszögern. Deshalb behinderte er den Alten auch nicht auf seinem Marsch, und gleich darauf stand er auf der kleinen Plattform, während seine vier Begleiter bemüht waren, ihm langsam nachzufolgen.

„So“, sagte der Eingeborene mit freundlichem Kopfnicken, als er neben René stand und die Hand ausstreckte, um ihm auf die Schulter zu klopfen. „So Freund, weißer Mann, nun wollen wir...“ Er brachte kein weiteres Wort heraus. Sein Blick war auf die Pistole gefallen, die der Weiße ruhig in der Hand hielt. Mit einem einzigen raschen Satz sprang er von der kleinen Steinfestung herab nach der Wurzel eines tiefer liegenden Baumes, von dort auf die Erde herunter. Auch da blieb er nicht eher stehen, bis er den schützenden Stamm einer Kasuarine erreicht hatte. Von dort aus begann er mit den Händen lebhaft zu gestikulieren und schrie und tobte dabei, als ob ihm etwas Furchtbares zugestoßen wäre. Die anderen warteten natürlich, als sie die Flucht ihres Anführers sahen, nicht weiter ab, sondern folgten so schnell wie möglich dem gegebenen Beispiel. Dabei richtete sich aber ihr Zorn nicht auf den jungen Mann, sondern nur auf den „weißen Mann Kapitän“, der sie unter falscher Vorspiegelung auf eine Verfolgungsjagd geschickt hatte, die sie leicht das Leben kosten konnte.

„Das sind zwei Handbeile!“ rief der alte Mann. „Und zehn Ellen Kattun, zwei fünf!“ Dabei streckte er die gespreizte Hand zweimal vor sich. „Und vier Messer und zwei zehn Stangen Tabak!“ Dabei zeigte er die Menge jeweils mit seiner Hand an. „Und zwei Hacken, und zwei Handvoll Nägel und eine Handvoll Knöpfe! Weißer Mann Kapitän sagt, was nicht wahr ist! Keine Waffen, und was ist das? Kleine, blanke Dinger da! Peng, macht Loch in armen Mann!“

„Keine Angst, tapferer Krieger!“ rief ihm René zu. Über diesen verblüffenden Erfolg mußte er schon wieder lachen. „Ich will euch nichts antun. Im Gegenteil! Euer König soll eine von diesen Handkanonen bekommen, falls er auf meine Bedingungen eingeht. Wir werden später sicher in Frieden und Freundschaft zusammenleben. Vielleicht unterwerfen wir uns gemeinsam einige der Nachbarinseln! Aber jetzt mach, daß du dem König meine Vorschläge erzählst! Ich sehe, daß vom Schiff aus wieder ein Boot abgeht, und möchte vorher noch deine trostbringenden Nachrichten hören!“

Der alte Mann sah ein, daß er mit Gewalt und seinen wenigen Begleitern nichts ausrichten konnte. Auch schien ihm jetzt der ausgesetzte Preis viel zu niedrig. Er hoffte, von dem Harpunier, dem „weißen Mann Kapitän“, noch mehr aushandeln zu können. Da der Weiße keine feindlichen Absichten weiter zeigte und ganz friedlich wie vorher dasaß, kam er auch wieder hinter seinem Baum hervor. Er besprach sich mit seinen Leuten, dann wandte er sich wieder an den Flüchtling.

„Gut, gut. Raiteo will gehen, mit König sprechen. Weißer Mann nicht Kapitän bleibt hier so lange. Raiteo kommt wieder, wenn Sonne dort!“ Er zeigte dabei mit der Hand die Himmelsgegend an, in der sich die Sonne befinden würde, wenn er zurückkäme. Dann zog er sich in die Büsche zurück, ohne eine weitere Antwort abzuwarten, und seine Leute folgten ihm. Kaum waren sie außer Sicht, da gab er ihnen den Befehl, den Platz auf vier Seiten zu umstellen. Dadurch wollte er nicht die Flucht des Weißen verhindern, was ihm wohl auch kaum gelungen wäre. Aber er wollte seine Fluchtrichtung erfahren, für alle Fälle.

Raiteo, wie er sich genannt hatte, dachte gar nicht daran, seinem König den ganzen Nutzen dieses Fanges allein zu lassen. Er beschloß, zunächst einmal zu sehen, wieviel Belohnung mehr er von dem fremden Schiff herauslocken könnte. So rasch er konnte, eilte er dem Strand zu, auf den das Boot jetzt wieder zuhielt. Er traf fast gleichzeitig mit ihm ein.

Der Harpunier fluchte kräftig, als er hörte, daß die Eingeborenen den Entlaufenen zwar gefunden hatten, ihn aber noch nicht zum Strand bringen konnten. Noch mehr fluchte er allerdings, als er die neue Forderung hörte. Gern hätte er ihnen jetzt das Sechsfache gegeben, wenn er dadurch den entlaufenen Matrosen wirklich fest in seiner Gewalt gehabt hätte. Der Kapitän des „Delaware“ war furchtbar wütend geworden, als er von der Flucht erfahren hatte. Aber Raiteo sollte die Sache jetzt nicht mehr allein aushandeln können. Der König, der von dem reichen Lohn erfahren hatte, kam jetzt selbst zu Verhandlungen an den Strand. Er wollte von Raiteo zu dem Unterschlupf geführt werden.

Der Harpunier hatte schon Raiteo eine Belohnung angeboten, wenn er ihn selbst zu dem Platz führen würde. Aber dann kamen ihm doch Bedenken. Denn dabei hätte er entweder die Mannschaft mitnehmen müssen oder aber bei dem Boot postieren müssen. Wie leicht konnte da noch einer der Kerle entlaufen! Nach kurzer Überlegung bat er deshalb die Eingeborenen, so schnell wie möglich zurückzugehen und den Weißen zu holen. Die Versprechungen, die er ihnen dabei machte, und noch mehr die Waren, die er ihnen zeigte, stachelten sie an. Der König erhielt außerdem schon einige Geschenke, um seine Habgier noch weiter anzustacheln.

Die Eingeborenen waren diesmal in größerer Schar aufgebrochen, und sogar eine Menge neugieriger Frauen befanden sich unter ihnen. Der Harpunier erwartete sie jeden Moment zurück, als er plötzlich zu seinem großen Erstaunen ein Zeichen von seinem Schiff erhielt, so schnell wie möglich an Bord zu kommen.

„Was, zum Teufel, kann nur los sein?“ brummte er, als ihn einer der Leute auf die eben aufsteigende Flagge aufmerksam machte. „Fische, bei Gott!“ rief er dann aus, als das verabredete Signal dreimal auf- und niedergezogen wurde.

„Die hätten auch noch ein paar Stunden warten können! An Bord, Boys, an Bord, rasch an eure Riemen!“ Die Matrosen folgten seinem Befehl schnell. Er selbst blieb noch ein paar Momente unschlüssig am Ufer stehen, während sich die zurückgebliebenen Eingeborenen um ihn versammelten. So viel hatten sie schon von den Schiffen gesehen, um zu verstehen, daß eine aufgezogene Flagge etwas bedeutete. Jetzt waren sie neugierig, was die Weißen unternehmen würden.

Der Harpunier wußte das zunächst selbst nicht. Mußten sie jetzt hinter den Walen her, wie es den Anschein hatte? Dann konnten Tage vergehen, ehe sie wieder hierher zurückkamen. Sollte er in der Zwischenzeit die ausgesetzten Waren in der Hand des Königs zurücklassen? Wenn er es nicht tat, bestand die Gefahr, daß sich die Eingeborenen nicht mehr um den Entlaufenen kümmerten, wenn sie das Schiff absegeln sahen. Ließ er die Sachen da, so hieß das, ein wenig viel der Ehrlichkeit dieser Leute zu vertrauen. Nach seiner langen Erfahrung hatten sie in dieser Hinsicht keine besondere Vorstellung. Aber er entschloß sich denn doch dazu, denn einerseits hatten die Waren keinen wirklichen großen Wert, und andererseits würden die Eingeborenen so sicherlich ihr bestes versuchen, um den Matrosen wieder einzufangen und das Vertrauen zu rechtfertigen. Er wandte sich deshalb an den König und erklärte ihm mit kurzen Worten, daß er jetzt auf sein Schiff gehen müsse. Er wolle aber den Lohn für das Einfangen des Entlaufenen bei ihm niederlegen. Dafür verlange er von ihm, daß sie den Mann, wenn sie ihn bringen würden und das Schiff noch da wäre, augenblicklich mit einem Kanu hinüberschaffen sollten. Sollte es bereits unter Segeln sein, so sollte der König den Mann so lange sicher verwahren, bis er selber zurückkäme.

Der König versprach ihm dafür, die Sachen in sein eigenes Haus zu bringen, und versicherte dem Harpunier, daß nichts davon wegkäme. Sie seien alle Christen und zwei „Mitonares“ hier auf der Insel.

Der alte Harpunier wollte noch etwas darauf erwidern und sah ihn einen Augenblick zweifelnd an. Dann aber brummte er sich nur leise ein paar Worte in den Bart, sprang in sein Boot und schoß gleich darauf davon, so schnell die Leute mit äußerster Kraft die Riemen 1) führen konnten. Von dem zwei englische Meilen entfernten Schiff wehte noch immer die Flagge von der Gaffel und wurde dann und wann gezogen – ein Zeichen zu größter Eile.




1) Bezeichnung für die langen Ruder der See- und Walfischboote

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Tahiti