Der Verrat und wie sich beide Teile dabei irrten -2-



„Das käme auf einen Versuch an“, antwortete der Harpunier kaltblütig. „Willst du keine Räson annehmen, so haben wir uns schon genug Mühe deinetwegen gemacht. Da können wir dich auch noch das kleine Stückchen tragen. Nehmt ihn auf, Leute, auch wenn er noch so strampelt. Hier ist genug Leine, um zwanzig solche Bürschchen einzuwickeln. So, jetzt noch einen um die Füße, dann hoch mit ihm und fort! Da kommt schon ein neuer Regenschauer! Daß die Pest dieses Land hole!“


„Wohin müssen wir jetzt gehen?“ fragte einer der Leute. „Ich weiß den Weg nicht.“

Der alte Harpunier sah sich einen Augenblick selbst verdutzt in der Dunkelheit um.

„Damn it, jetzt hin ich auch konfus geworden. Welchen Kurs haben wir denn eigentlich heraufgesteuert? Wo ist die verdammte Bestie von Insulaner? He, Raiteo, Kanaille, verwünschte, wo steckt der Satan?“

„Verraten und verkauft!“ knirschte René zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. Er sank erschöpft zurück und ließ sich willenlos davontragen. Nicht weit entfernt antwortete ein leiser Pfiff. Es war der Insulaner, der dort auf die Seeleute außerhalb des Bereiches des Ihiamoea wartete. Schweigend führte er den Zug den steilen, schlüpfrigen Pfad hinunter zum Landungsplatz.

Der Regen goß in Strömen hernieder. Der Wind hatte etwas nachgelassen. Als sie aber die Pandanusniederung erreichten und über den scharfen Korallensand gingen, dröhnten laut und mahnend die beiden Kanonenschüsse von Bord des „Delaware“ zu ihnen herüber. Fast unwillkürlich hielten die Leute einen Moment. Der Harpunier rief aber:

„Vorwärts, meine Jungen, vorwärts, wir kommen gerade rechtzeitig. Wetter noch einmal, das war abgepaßt! Eine Stunde später und wir hätten die ganze Geschichte aufgeben müssen!“

„Was mögen sie an Bord nur haben?“ erkundigte sich einer der anderen Harpuniere.

„Wahrscheinlich wird dem Alten der Wind zu bunt“, lachte der Harpunier. „Jetzt ist gerade eine ruhige Zwischenzeit, um an Bord zurückzukehren. Rasch, Leute, da vorn sehe ich schon die Feuer.“

Ein neuer Hoffnungsfunke durchzuckte René. Wenn ihn auch einer der Insulaner verraten hatte, waren ihm die anderen doch noch gewogen. Wer weiß, ob sie zusahen, wie er fortgeschleppt wurde, wenn er um Hilfe rief. So viel hatte er während seines Aufenthaltes auf der Insel schon von ihrer Sprache gelernt. Als die ersten Häuser erreicht waren, schrie er plötzlich mit lauter, donnernder Stimme um Hilfe.

„Knebel her!“ sagte der Harpunier ruhig. „Wer hat ihn, du, John?“

„Ja, hier“, antwortete der Mann und reichte dem Harpunier den Knebel.

„Der Kerl schreit uns noch die Insulaner auf den Hals. Wer weiß, wen er hier zum Freund gewonnen hat, besser ist besser.“

Fest gebunden und mit dem Knebel im Mund konnte sich der Gefangene nicht mehr rühren, und gleich darauf erreichten sie den Strand.

Raiteo forderte jetzt den ausgehandelten Lohn, denn er wollte sich nicht mit den Weißen zusammen sehen lassen. Ehe sie abstießen, wollte er dann mit seinem Bruder zu dem Boot gehen und die Sachen in Empfang nehmen.

„Lauft mit dem Burschen voraus und legt ihn ins Boot, bis ich den Schuft hier abgefertigt habe“, sagte der Harpunier zu seinen Leuten. „Wort müssen wir halten, seht zu, daß ihr inzwischen das Boot flottbekommt.“

Während die Leute dem Strand zueilten, blieb er neben dem Insulaner stehen und zahlte ihm das Blutgeld aus. Als er sich von ihm abwandte, glitt Raiteo in die Büsche.

„Hölle und Teufel!“ fluchte der alte Harpunier, als er zum Strand kam und sah, wie die Mannschaft mit dem Boot beschäftigt war. Es lag hoch und trocken auf der Korallenbank und wohl fünfzig Schritt vom Wasser entfernt. „Habe ich den verdammten Schuften nicht gesagt, daß sie das Boot flotthalten sollen? Dabei haben sie es noch weiter aufs Trockene gezogen! Daß der Böse ihre Seelen verdamme! Hinein damit, Jungens! Greift unter und tragt es zum Wasser! Werft den Plunder heraus, der drin liegt, der Eigentümer kann es sich holen! Wo ist René?“

„Hier am Haus liegt er. Bill und Adolphe stehen Wache bei ihm!“

„Ach was, Wache! Der läuft jetzt nicht fort! Hier, Bill, Adolphe, anfassen und das Boot zu Wasser tragen! Hallo, meine Jungen, alle zusammen, there she comes, a-hoi! Was, zum Teufel, macht es so schwer?“

„Wir haben vorher Früchte eingeladen!“ antwortete Bill.

„Früchte? Hinaus damit, jetzt ist keine Zeit für Früchte! Hallo hier, einmal ein paar von den Insulanern hierher, damit wir freikommen!“

Aber von denen ließ sich keiner blicken. Der Hilferuf des Unglücklichen hatte ihnen sein Schicksal verraten. Wenn sie ihn auch nicht befreien wollten, so wollten sie auch mit der Sache selbst nichts zu tun haben oder gar den Fremden helfen.

Vielleicht zehn Schritte von dem Boot stand dicht am Strand eine kleine Bambushütte. Dort übernachteten die Missionare, wenn sie sich auf dieser Seite der Insel befanden. Als das Unwetter aufzog, war auch Bruder Rowe hierhergekommen. Er ließ sich natürlich nicht blicken, als die Männer mit dem Gefangenen zurückkamen. Durch die überall dünnen Stäbe der Wände konnte er aber deutlich erkennen, was draußen vorging. Kaum zwei Schritte von seiner Tür entfernt wurde der gefesselte René abgelegt. Bruder Rowe stand dicht hinter der Tür und beobachtete schweigend den am Boden Liegenden.

Außer ihm befand sich aber noch eine andere Gestalt in der Nähe. Es war das indirekte Werkzeug des ehrwürdigen Herrn – Raiteo, der vorsichtig um das Haus herumglitt und die Bewegungen der Männer beim Boot beobachtete. Er hatte seinen Bruder schon abgeschickt, um die Waren zu holen.

„So, Schuft, ja?“ murmelte er vor sich hin. „Erst ist man gut genug, weißer Mann Kapitän da hinauf zu führen, nachher ist man Schuft. Gut, gut, Raiteo ist nicht so dumm. Raiteo hat Geld sicher unter Baum versteckt. Jetzt kann Raiteo machen, was er will!“

Die Walfänger hatten alles, was das Boot schwerer machen konnte, hinausgeworfen. Der Regen floß wieder in Strömen nieder, als die sieben kräftigen Gestalten das Boot langsam, aber stetig zum Wasser schoben. Dort wurden sie wieder durch eine Korallenschicht aufgehalten, über die sie es dann auch endlich hinweghoben.

„Die verdammten Insulaner lassen sich nicht blicken!“ sagte der alte Harpunier keuchend vor Anstrengung. „Aber hole sie der Henker, wir brauchen sie nicht! Munter, meine Jungen, weiter, da hinten kommt es wieder schwarz wie die Nacht herauf. Wir müssen machen, daß wir das Schiff erreichen, wenn uns der Alte nicht hier zurücklassen soll. Nachher hätte er eine schöne Mannschaft an Bord, ohne alle Offiziere!“

Der „Delaware“ hatte eine Laterne ausgehängt und schien noch etwas näher zu kommen.

Als sich die Seeleute mit dem Boot von dem Haus entfernten, glitt Raiteo dahinter vor und wie eine Schlange an den festgebundenen Körper des Gefangenen heran. Dort begann er ohne einen Laut die Seile zu durchschneiden. So leise und geschickt war sein Manöver, daß der dicht davorstehende Missionar nicht erkennen konnte, was da vor seinen Augen geschah. René, der schon in dumpfer Verzweiflung den Gedanken an Rettung aufgegeben hatte, fühlte kaum den scharfen Schnitt des Messers, als ihn auch schon wieder wilde Hoffnung durchzuckte. Er begriff, daß er völlig ruhig liegen mußte, um die Aufmerksamkeit der Seeleute nicht auf sich zu ziehen.

Raiteo hatte Verstand genug, die Füße zuerst zu befreien. Selbst mit gebundenen Händen war in dieser Dunkelheit eine Flucht möglich. René drängte es, einen Arm freizubekommen, um sein Messer zu erreichen, das er noch immer an der Seite trug. Der Knebel hinderte ihn, einen Laut von sich zu geben, und Raiteo wollte ihn nicht entfernen, bis er mit allem fertig war. Er glaubte bei den Füßen alle Stricke durchtrennt zu haben und übersah dabei einen. René hob die Knie, um ihm die Stelle zu zeigen.

„Geh doch einer von euch mal hinauf und sehe nach dem Gefangenen!“ sagte in diesem Augenblick der Harpunier. Schritte wurden laut, und Raiteo glitt rasch um das Haus.

Dadurch wurde dem Missionar, der schon durch die Bewegung des Gefangenen aufmerksam gemacht war, klar, daß hier jemand an der Befreiung arbeitete. Es lag keineswegs in seinem Plan, den Mann auf der Insel zu behalten, wo es schon einmal so weit gediehen war.

René schloß die Augen und sank in stummer Verzweiflung zurück, als sich der Matrose über ihn beugte, um zu sehen, ob die Stricke noch in Ordnung waren. Zu gleicher Zeit aber fühlte René, wie sich ein scharfes Messer erneut durch die Stricke schnitt, die seine Arme umspannten.

„Mut!“ flüsterte eine Stimme, die ihm wie himmlische Musik vorkam. „Mut, René, und jetzt fort!“ Dabei richtete er sich auf und rief laut: „All right!“ Er drehte sich um und wollte den Platz verlassen, als er einen Arm auf seiner Schulter fühlte und erschrocken herumfuhr. René lag noch am Boden, als er die zweite Gestalt bemerkte, aber seine Hand umfaßte vorsichtig das Messer und zog es aus der Scheide. Er wußte, er war frei, und mit zwei Sätzen war er im Bereich des Waldes.

Adolphe, denn der war Renés Befreier, drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite, um nicht erkannt zu werden. Da erkannte er zu seinem Erstaunen die Stimme des Missionars, der ihn etwas von dem Gefangenen fortzog und leise zu ihm sagte:

„Achtet auf den Gefangenen, Sir, man will ihn befreien, ich habe...“

Er sagte nichts weiter, denn ein einziger Faustschlag des riesigen Franzosen gegen seine Stirn streckte ihn besinnungslos zu Boden.

„Binde ihn!“ flüsterte Adolphe und beugte sich zu René. „Er hat dich verraten!“ So schnell, wie er gekommen war, sprang er wieder zu den anderen hinunter. Eben hatte man das Boot wieder bis zum Wasserrand gebracht.

„Der Gefangene liegt noch am Boden“, sagte er, als er zu den anderen trat.

„Haben Sie nachgesehen, ob die Seile noch in Ordnung sind?“

„Ich kann ja noch einmal hinaufgehen!“ erbot sich Adolphe.

Da blitzte es vom Wasser her, und gleich darauf dröhnte der dumpfe Schall eines neuen Schusses, dem in kaum einer Minute ein zweiter folgte, zu ihnen herüber.

„Hinein mit dem Boot ins Wasser!“ schrie der Alte. „Schnell, Leute, legt euch dagegen!“

Mit vereinter Kraft brachte man das Boot in die Flut.

„Alle hinein, mit Riemen und Masten!“ lautete der rasch gegebene Befehl. „Laßt die Früchte liegen, wo sie sind, vier von euch holen den Gefangenen, halt hier, das Boot stößt auf, noch einmal alle zusammen – ahoi – there she goes, nun die Riemen und unseren Mann her, und los geht es!“

Es wurde auch Zeit, daß sie losfuhren. Der Wind hatte sich jetzt nach anderthalb Stunden Ruhe völlig gedreht. Aus dem Westen kann es in diesen Breiten sehr böse zu wehen anfangen. Dort stieg auch schon eine schwere, rabenschwarze Wand auf, und der „Delaware“ mußte jetzt zusehen, daß er vom Land abkam. Die Leute rannten alle, so rasch sie konnten. Drei von ihnen nahmen die Riemen und den Masten auf, die anderen drei holten den Gefangenen, darunter Adolphe.

„Auf mit ihm!“ rief er und nahm den Oberkörper so hoch, daß er den Kopf unter seinen Arm bekam. „Auf mit ihm, Jungens, und hinunter! Da geht ein anderer Kanonenschuß, bei Gott!“

Die beiden anderen Bootssteuerer faßten den Gebundenen mit an, und in vollem Lauf ging es damit die Korallenbank hinunter.

„Vorn ins Boot mit ihm!“ schrie der Harpunier. „Haut ihm eins über den Schädel, wenn er nicht gehorcht! In die Riemen und rudert um euer Leben, dort kommt’s herauf! Zum Donnerwetter, werft ihn ins Boot! Wenn er nicht gehen will, soll es ihm auch nicht auf eine Beule ankommen!“

Es war jetzt keine Zeit weitere Bemerkungen zu machen. Die Leute sprangen an ihre Plätze, warfen die Riemen in die Dollen, der alte Harpunier hatte seinen in das Rudereisen gezogen, und jetzt flog das Boot durch die schon unruhige See zu dem nicht weit entfernten Schiff, das jetzt auch noch eine zweite Laterne aufgezogen hatte.

René war in dem Augenblick, in dem ihn Adolphe verließ, aufgesprungen. Er wußte im ersten Gefühl der gewonnenen Freiheit gar nicht, was er zuerst tun sollte – fliehen oder sich um den Priester kümmern. Dann wäre aber seine Flucht doch zu schnell bemerkt worden. Eine zweite Person entschied seine Zweifel, nämlich Raiteo.

Er war überraschter Zeuge der schnell aufeinanderfolgenden Vorgänge geworden. Er war aber auch klug genug, um zu erkennen, daß es jetzt gut war, wenn er sich noch etwas bei der Befreiung beteiligte. Er hatte ja auch noch einen anderen Grund, zu wünschen, daß die Weißen die Insel in dem Glauben verließen, daß alles in Ordnung war. Sonst hätten sie ihm noch die anderen, noch nicht geborgenen Waren wieder abgenommen oder Lärm geschlagen. Dann wäre sein Anteil am Fang des Europäers bekannt geworden. Kaum hatte er deshalb den Missionar fallen sehen, als ihm auch der gleiche Gedanke durch den Kopf schoß, den auch der Franzose gehabt hatte. Wie eine Schlange glitt er aus seinem Versteck hervor und band rasch Hände und Füße des geistlichen Herren.

René wußte, daß er von dieser Seite keinen Angriff zu fürchten hatte, sondern nur Hilfe erhoffen konnte. Im ersten Augenblick erkannte er Raiteo nicht, bis der sich zu ihm umdrehte und leise sagte:

„Knebel, schnell!“

„Verdammter Schurke, wo kommst du her?“ rief René unwillkürlich aus.

„Pst, den Knebel!“ sagte Raiteo, nicht im mindesten beleidigt.

Es war auch keine Zeit mehr zu verlieren. Kaum hatte der Eingeborene den Knebel geschickt verknotet, als auch schon die Männer über die Korallenbank heraufkamen. Rasch schlüpften beide um das Haus herum und ins Dickicht.

Mit klopfendem Herzen hörte René, wie sie den Körper seines Stellvertreters aufnahmen und zum Boot trugen. Als dann aber die Ruderschläge erklangen und sich langsam entfernten, fiel ihm eine Zentnerlast von der Brust. Mit der direkten Gefahr verschwand aber auch jeder trübe Gedanke aus seiner Seele. Sein Leichtsinn überwog wieder, und lachend wandte er sich an Raiteo.

„Du bist doch der abgefeimteste, durchtriebenste Erzschurke, der sich denken läßt!“

Raiteo wußte zunächst nicht, wie er jetzt mit dem Befreiten stand. Aber schon beim Klang der Stimme begriff er, daß der „weiße Mann nicht Kapitän“ die Sache leichtnahm. Er war dabei klug genug, nicht weiter auf den Ton einzugehen, und beteuerte ihm, daß der „Bodder Aue“ seinen Schlupfwinkel an den weißen Mann Kapitän verraten habe. Der hätte ihn dann mit vorgehaltener Pistole und gebundenen Händen gezwungen, ihn zu dem Platz zu bringen.

René wußte durch Adolphe, daß die erste Aussage zutraf, die zweite war jedoch kaum wahrscheinlich. Doch der junge Franzose nahm den Burschen eben, wie er war. In seiner, neugewonnenen Freiheit fühlte er sich nicht geneigt, irgend jemand in der weiten Welt überhaupt zu zürnen. Zudem hatte Raiteo einen Teil seiner Schuld wieder gutgemacht und dadurch doch auch Reue gezeigt.

René beobachtete das Schiff noch weiter. Die neuen Kanonenschüsse verrieten die Eile, in der sich der Kapitän befand. Das war etwas, wofür ihn der Befreite segnete. Bald zeigten die eingeholten Lichter, daß das Boot wieder an Bord war. Noch konnte er die Kompaßlampe durch die Nacht erkennen, aber bald erlosch dieser schwache Punkt auch. Mit dem jetzt aus vollen Backen einsetzenden Westwind war in kaum einer halben Stunde jede Spur von dem so gefürchteten Schiff verschwunden.

Doch trotz des Wetters blieb René die Nacht über mit Raiteo auf dem Hügel und hielt Wache. Erst als er sich am kommenden Tag davon überzeugt hatte, daß der „Delaware“ nirgends mehr am Horizont zu erkennen war, flog er mehr als er ging die steilen, schlüpfrigen Hänge hinunter auf das Missionsgebäude zu. Dort wartete Sadie schon voller Angst auf einen Boten, der ihr melden sollte, ob das Schiff die Insel verlassen habe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Tahiti