Der Mi-to-na-re -3-



Dicht neben dem Diplom lag in der kleinen Schublade, zu der er René geführt hatte, auch ein schmales, zierliches Kästchen aus Sandelholz. Als René es entdeckte, schob er es rasch zur Seite und legte Papiere darauf. Dadurch wurde aber die Neugierde des jungen Franzosen erst recht entfacht. Er bedrängte nun den Missionar, ihm doch zu zeigen, was er da so geheimnisvoll verstecke.


Mitonare wollte erst nicht mit der Sprache heraus, dann aber nahm er das Kästchen doch heraus und hielt es lange Zeit in der Hand. Dabei betrachtete er es mit einem Ausdruck von Anhänglichkeit und begann endlich zu erzählen. Als Mitonare noch im blinden, entsetzlichen Heidentum lebte, war er ein hervorragender Tätowierer, der beste auf der Insel, gewesen. Dieses Kästchen enthielt seine damaligen Werkzeuge, die er jetzt allerdings nicht mehr gebrauchte. „Bodder Au-e“ von Tahiti hatte ihm die Augen geöffnet und ihm gesagt, zu was diese heidnischen Gebräuche führten. Aber er bewahrte sie doch noch als eine Art Reliquie auf.

Obwohl sich der kleine Mann bemühte, seinem Gast die Zeit zu vertreiben, vergingen die Stunden nur langsam. René sehnte sich nach anderer Gesellschaft, aber Sadie ließ ihn auch nicht lange warten. Die Sonne stand noch hoch, als sie eintrat. Aber es war nicht die Sadie vom heutigen Morgen mit dem luftigen Schultertuch um den nackten Oberkörper. Sie hatte wieder das lange, fast europäische Sonntagskleid angezogen. Wenn sie auch René wie immer anlächelte, wirkte sie doch jetzt ernster und reifer.

Fast schüchtern reichte sie dem jungen Mann die Hand. Als sie das Haus verließen, gingen sie eine ganze Zeit schweigend nebeneinander her. Doch Renés leichte Art überspielte das bald. Als Sadie bemerkte, daß er sich an sein Versprechen hielt, verlor sie ebenfalls ihre Scheu und war bald darauf wieder das fröhliche Mädchen. Sie scherzte und lachte, erzählte René tausend drollige Geschichten, beschrieb ihm ihre früheren Tänze und Gebräuche. Sie erzählte auch von dem schönen Tahiti, wo ihre Eltern gelebt hatten und jetzt fremde Menschen Haß und Feindschaften in Gottes Namen verbreiteten. Sie führte ihn dabei einen schmalen Pfad entlang, der unter überhängenden Kokospalmen durch fruchtbedeckte Guiaven-, Orangen- und Brotfruchthaine führte. Sie erreichten ein anderes Grundstück, das zu einem Gemüsegarten eingerichtet war. Aber auch eine Menge Fruchtbäume und Kaffee sowie Zuckerrohr wuchsen hier.

Mit nur wenig Arbeit gab die Erde hier reichliche Ernte. René glaubte, in seinem Leben kein schöneres, herrlicheres Land gesehen zu haben als diese kleine Insel. Wie gern hätte er sich mit dem Mädchen über ihre künftige Heimat unterhalten. Aber als ob sie fühlte, daß solche Gedanken in ihm aufkamen, lenkte sie ihn rasch und geschickt wieder davon ab, zeigte und pflückte ihm die verschiedenen Früchte. Dann führte sie ihn an den Strand hinunter, wo in einer natürlichen, kleinen Bai ein schmales, langes Kanu lag. Das bestiegen sie und fuhren in das spiegelglatte, kristallklare Binnenwasser, das durch die Riffe vor jeder eindringenden See geschützt wird.

Noch nie hatte René früher die Bildung dieser Korallenbäume tief unter dem klaren Wasser gesehen. Er traute jetzt seinen Augen kaum, als sich an mehreren Stellen in Farbenspiel und Form völlig neue Welten für ihn öffneten. Er konnte sich nicht satt sehen an den zauberschnell wechselnden Gruppen und Bildern, und Sadie freute sich kindisch über ihn.

„Wenn dir das so gefällt, will ich dich zu meinem Korallengarten bringen und dir meine kleinen Gold- und Silberfische zeigen. Die darfst du aber nicht mit der Hand oder dem Ruder scheu machen, denn sie sind furchtbar ängstlich.“ Noch während sie sprach, lenkte sie das Kanu weiter zu den Riffen und daran entlang. Das Wasser war hier so tief, daß selbst größere Boote um die ganze Insel fahren konnten. Dann gelangten sie wieder in flacheres Wasser, wo dunkelbraune und rötlich-graue Korallenbäume an vielen Stellen bis zur Wasseroberfläche ragten. Dazwischen waren wieder, von dünnen, feinen Zweigen durchwachsen, größere, tiefe Stellen.

Überall wimmelte es hier von kleinen blauen, gelben, weißen, roten, gestreiften und gefleckten Fischen. Sie schwammen in Scharen oder einzeln herum, schossen auseinander, wenn sie eine Gefahr vermuteten, und versammelten sich gleich darauf wieder, um ihr Spiel erneut fortzusetzen.

René wollte hier mit dem Kanu kurze Zeit still liegen, um die Tiere zu beobachten. „Nur noch ein kleines Stück, dann kannst du dich satt sehen an den Herrlichkeiten der Tiefe“, sagte Sadie und setzte das Ruder stärker ein. Das leichte Fahrzeug trieb rasch auf eine Stelle zu, wo ein starker Korallenzweig gerade über die Oberfläche des Wassers ragte. Hier hielt sie plötzlich an, und während sie sich am Zweig festhielt, sagte sie René, daß er einen Stein aus dem Bug auf die Koralle werfen sollte. Gleich darauf war durch das verbundene Bastseil das Kanu verankert. Zunächst konnte René noch nichts erkennen, weil das Wasser zu unruhig war. Einige Minuten sahen sie schweigend hinunter.

Die Korallenbäume schienen hier einen vollkommen dichten Kranz zu bilden. Er stieg von unten auf, neigte sich nach außen etwas und hob sich dann bis zur Wasseroberfläche gerade empor. Der innere Raum mochte zwanzig Fuß im Durchmesser haben. Das glich fast einer aufgebrochenen Riesenblume, die aus ihrem Kelch bunte, zackige Fasern emporschickte.

Aber die Blume lebte. Hier und da, tief unten aus dem Kelch heraus, kamen ein paar kleine Fischchen aufgeschossen, als ob sie sehen wollten, ob die Gefahr vorüber sei. Das dunkle Kanu, das mit seinem Schatten auf dem Wasser lag, machte sie vielleicht noch mißtrauisch, aber nicht sehr lange. Sie verschwanden wieder, und gleich darauf quoll es aus allen Winkeln und Spalten in Massen. Alle Farben wild und bunt durcheinander, auf und nieder, herüber und hinüber schießend.

„Eita, eita!“, rief Sadie. „Iti, iti, iti!“ Dabei warf sie kleine Krümel Brotfrucht auf die Wasseroberfläche. Im Nu schossen sie von allen Seiten herauf, fünf, sechs schnappten gleichzeitig ein größeres Stück und tauchten damit. Andere stießen an einem zu großen Stück und konnten es nicht bewältigen. Wieder andere begnügten sich mit kleinen Stücken. Mit der wiederkehrenden Ruhe waren aber auch nach den kleinen Bewohnern dieses Bassins ihre Feinde zurückgekehrt. Zwei große, dunkelbraune Fische mit breiten Mäulern und tückisch blitzenden Augen kamen an den äußeren Rand der Blume, deren Spalten zu schmal waren, um sie durchzulassen. Die kleinen Dinger schienen auch zu wissen, daß ihnen der Feind hier nichts anhaben konnte, es sei denn, er käme von oben herein. Dann waren sie auch wie der Blitz in ihren Schlupfwinkeln.

Manchmal wagte sich aber auch ein leichtsinniges Fischchen hinaus ins Freie, als ob es die Ungeheuer verhöhnen wollte. Ehe die sich umdrehen konnten, war es schon wieder zwischen die zackigen Palisaden geschlüpft und erzählte wahrscheinlich den anderen von seinen Heldentaten.

So trieben sie hier in dieser für René neuen, zauberhaften Welt, bis die Sonne groß und glänzend in das Meer tauchte und Stern nach Stern am Himmel auffunkelte. Sadie erzählte dabei René von dem stillen Frieden dieses Landes und dem glücklichen Leben, das sie alle führen könnten, wenn nicht oft böse Menschen da wären, die sie störten und kränkten und Leidenschaften in ihnen weckten, die ihnen früher unbekannt waren.

René hätte die Nacht hindurch ihrer Stimme lauschen mögen, aber das junge Mädchen lenkte endlich, trotz seiner Bitten, das Kanu zum Land zurück. Sie fuhren jetzt direkt zum Ufer der Wohnung des Missionars, der sie schon etwas ungeduldig am Ufer erwartete. Er richtete mehrere Fragen in ihrer Sprache an Sadie. Sie wurde rot, antwortete ihm aber lächelnd und verschwand dann wieder mit einem freundlichen Kopfnicken zu René.

Dem kleinen Mitonare schienen heute abend eine Menge Fragen im Kopf herumzugehen. Beim Abendbrot das aus etwas Brotfrucht, Kokosmilch und einigen Bananen bestand, war er einsilbig und sah René immer dann von der Seite an, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Nach dem Essen faßte er den jungen Mann am Arm und führte ihn hinaus an den Strand zu einem kräftigen Tuituinußbaum. Dort begann er aufgeregt auf ihn einzureden und mischte dabei das Englisch noch stärker als sonst mit seiner Sprache. René hatte Schwierigkeiten, den Zusammenhang der Worte überhaupt zu verstehen. Der Name „Pu-de-ni-a“, der mehrfach vorkam, ließ ihn dann ahnen, was der kleine Mann eigentlich meinte. René hatte nichts zu verbergen und hätte ihm gern Aufschluß über seine Gefühle für Sadie gegeben, wenn er nur zu Wort gekommen wäre. Sowie er aber nur den Mund öffnete, rief der Missionar ein rasches „aita, aita!“ dazwischen und redete dann nur noch lauter und heftiger weiter. René mußte ihn also gewähren lassen, bis er von selbst müde wurde.

„Weißer Mann kommt her und findet Brotfrucht und Fleisch und Bananen und Kokosnüsse, Yam und Kartoffeln, und Mitonare ist freundlich mit ihm“, sagte der kleine Mann in seiner kaum verständlichen Mischung. „Zeige ihm Diplom und andere Sachen und tue gar nicht, als ob Fremder Ferani wäre und an keinen Gott glaube. Weißer Mann hat Schutz hier vor den anderen weißen Männern. Tane tane Atiu sind freundlicher gegen ihn als Leute seiner eigenen Farbe, und was tut Ferani? Geht hin und macht kleines Mädchen von Mitonare unglücklich. Redet ihr allerlei unsinnige Sachen vor! Aber Pu-de-ni-a ist nicht wie viele andere Mädchen auf der Insel und auf Tahiti. Ferani kann Mädchen genug bekommen, sehr viele, aber nicht Pu-de-ni-a. Ferani geht nachher weg, und Pu-de-ni-a sitzt und weint und ist nicht mehr glücklich, und alte Mann Mitonare O-no-so-no weint, weil er Pu-de-ni-a weinen sieht. Ferani sollte sich schämen, und wenn Ferani auch kein Christ ist, kann er doch tun, was recht ist. Wir waren früher auch keine Christen, nein, schreckliche Heiden, haben uns tätowiert und nach der Trommel und dem Rauschen der Brandung getanzt. Wir haben einen kleinen, winzig kleinen Gott angebetet. Aber wir wußten, was richtig war, und wir taten es auch, auch wenn mein Vater dafür in der Hölle sitzen muß.“

So ging die Rede des kleinen Mitonare sinngemäß wohl über eine Stunde. Wenn René auch zu Beginn manchmal gern über die oft komisch genug klingenden Worte gelacht hätte, sah er doch daraus, wie lieb der Mann das Mädchen haben mußte und wieviel er von ihr hielt. Die Sorge um sie hatte ihn ängstlich und eifrig gemacht. Er faßte seine Hand, die ihm der Mitonare zunächst aber nicht überlassen wollte, und sagte ihm dann alles, was ihm auf dem Herzen lag.

Er liebe Sadie und wolle sie heiraten, hier auf der Insel bei ihnen bleiben und Yams und Kartoffeln anbauen und Kokospalmen pflanzen. Er wolle nie wieder fort von ihnen gehen und weder ihn noch Prudentia verlassen. Er erzählte ihm dann aber auch, wie er das heute morgen Sadie selber gesagt hatte und welches Versprechen sie ihm abgenommen hatte. Er könne sich fest darauf verlassen, daß René es einhielte. Er würde Sadie, bis der alte Missionar zurückkäme, als seine Schwester ansehen, der kein Leid geschehen solle, wenn er es verhindern könne.

Der kleine alte Mann war freundlicher und freundlicher geworden, je mehr er begriff, was der Fremde mit seinen Worten meinte und was er beabsichtigte. Als er aber verstand, welches Versprechen er dem Mädchen gegeben hatte und daß er es fest einhalten wollte, da übermannte ihn die Freude. Er fiel dem jungen Mann um den Hals und rieb sogar seine Nase mit ihm. Darüber war René sehr erstaunt, denn er wußte nicht was er mit dieser Zeremonie anfangen sollte. Das Nasereiben war die größte und innigste Freundschaftsversicherung, die man einander geben konnte.

Der kleine Bursche war jetzt völlig ausgelassen. Er erklärte René, dessen Namen er gut behalten hatte und sogar richtig aussprach, für den besten Wi-wi, der je einen Götzen angebetet habe. Außerdem meinte er, daß, wenn er bei ihnen auf der Insel bliebe, sie nicht einmal sehen wollten, ob sie nicht aus diesem Wi-wi mit Pu-de-ni-as und des Missionars Hilfe einen Christen machen könnten. Das würde wahrscheinlich schwieriger werden, als ihn zu verheiraten. Viel fehlte nicht, und der Missionar hätte angefangen, vor lauter Freude und Glück zu tanzen. Ein paarmal hatte er auch schon damit angefangen, allerdings im letzten Augenblick immer noch bemerkt und wieder abgebrochen. Das hätte sich doch für einen Mitonare nicht geschickt.

So verlebte René die nächsten drei Wochen in einem Glücksgefühl, wie er es selbst nie für möglich gehalten hatte. Nicht nur Sadie und der Mitonare gewannen ihn in dieser Zeit immer lieber, sondern auch die Eingeborenen der Insel. Das fröhliche Temperament des Franzosen und seine leichte Art lag den Insulanern. Sie sahen ihn gern. Der alte König, der von seinem hohen Titel abgesehen eine ganz unschuldige Persönlichkeit war, dabei aber doch viel Einfluß auf die anderen ausübte, wurde sein bester Freund. René hatte ihm allerdings mehrfach Geldgeschenke gemacht und damit das Herz des Mannes weit geöffnet. Als er dann aber von seiner Liebe zu Sadie erfuhr und hörte, daß René seine Insel nicht mehr verlassen wollte, versicherte er ihm fest, daß er ihn nie an sein Schiff ausliefern werde, sollte es wirklich einmal zurückkehren. Bei den Gesprächen dolmetschte oft Raiteo und sagte dabei, daß er weiße Mann Kapitän sehen werde, wie man ihm eine lange Nase zeigen würde. Der König dachte nämlich nicht daran, die bereits erhaltenen Gegenstände wieder herauszugeben.

Besonders komisch benahm sich Raiteo. Er hatte sich die größte Mühe gegeben, den Flüchtling zu fangen. Auch Verrat scheute er dabei nicht, um seinen Zweck zu erreichen und die Belohnung zu verdienen. Jetzt aber tat er so, als wäre er von Anfang an der beste Freund und Beschützer des jungen Mannes gewesen. Er erklärte ihn für seinen innigsten „taja“ und wies René immer wieder darauf hin, wie uneigennützig er damals für ihn gedolmetscht hatte und daß dafür wenige Geldstücke doch ein guter Lohn wären. René war klug genug, auch Raiteo zum Freund zu gewinnen. Mit einigen Talern war das getan, und wenn den Versicherungen zu glauben war, war er wirklich der treueste Freund.

René schrieb in der Zwischenzeit auch nach Frankreich. Einmal wollte er sich von dort sein Geld kommen lassen, dann aber auch Empfehlungsbriefe für Papeete an den französischen Konsul in Tahiti erhalten. Zwar benötigte er die jetzt nicht, aber er wußte ja nicht, was die Zukunft bringen würde. Er wollte zumindest nichts versäumt haben. Den Brief mußte er natürlich liegenlassen, bis sich eine Gelegenheit fand, nach Papeete, der Hauptstadt Tahitis, zu gelangen.

Das Herz des kleinen Mitonare gewann er auf ganz besondere Weise durch den regelmäßigen Besuch seiner Kirche. Er verstand zwar nichts von der Predigt, aber er summte die Melodien der Lieder mit. Er festigte dabei den Mitonare in dessen Ansicht, doch noch eines Tages einen Christ aus ihm zu machen. Der gute Mann war viel zu unschuldig, um auf den Gedanken zu kommen, daß René einzig und allein wegen Sadie das Gotteshaus besuchte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Tahiti