Der Mi-to-na-re -1-



      Es war ein ziemlich langer Marsch durch eine wilde Gegend und oft durch Dickichte, durch die der Flüchtling allein nie einen Weg gefunden hätte. An den Sternen sah er, wie viele Umwege sie machten. Das geschah entweder, um undurchdringliche Stellen zu umgehen, oder auch, um etwaige Verfolger irrezuführen. Endlich erreichten sie wieder eingezäunte Gärten mit Bananen, Brotfrucht, Orangen, Wassermelonen und süßen Kartoffeln. Als die Sonne eben über dem vor ihnen liegenden Wasserspiegel aufstieg, betraten sie eine freundliche Ansiedlung mit Bambushütten, zwischen denen sich sogar einige weißgetünchte Häuser befanden. Sie waren dicht in den Schatten hoher Kokospalmen und breitästiger Brotfruchtbäume geschmiegt und von einer hohen, festen Umzäunung eingeschlossen.
      René zögerte, den Ort zu betreten. Er blieb stehen und betrachtete den freundlichen Platz, der wie ein in sich abgeschlossenes Paradies stillen Friedens vor ihm lag. Sadie schaute sich nach ihm um und erkundigte sich, ob er sich fürchte, näher zu kommen.
      „Fürchten? Wenn ich mich vor irgend etwas fürchten würde, hätte ich denn diese Insel betreten?“
      „Fürchtest du wirklich nichts? Auch nicht Gott?“ sagte das Mädchen erstaunt.
      Der junge Mann erkannte, daß er ein Feld berührte, das er vermeiden mußte. Sowenig er sich aus irgendeinem Religionsbekenntnis machte, besaß er doch genügend Sinn, die Religion anderer zu achten. Außerdem mochte er dem Mädchen auch nicht mit einer rauhen Antwort weh tun und antwortete deshalb ausweichend: „Ich sprach nicht von Gott, Sadie. Ich meinte die Menschen. Hier wohnt also der weiße Missionar?“
      „Hier wohnt er, wenn er auf der Insel ist“, erwiderte das Mädchen. „Gerade jetzt besucht er aber mehrere andere Inseln in Missionsgeschäften. Doch wir erwarten ihn schon seit drei Tagen zurück, und er kann jede Stunde hier wieder eintreffen.“
      „Dann wohnt also im Moment kein Missionar auf dieser Insel?“ erkundigte sich René fast erfreut.
      „Jedenfalls kein weißer Missionar“, antwortete Sadie. „Aber du scheinst dich darüber zu freuen. Ich hatte geglaubt, es würde dich beruhigen, wenn du einen Landsmann in der Nähe weißt.“
      „Ihr habt also auch eingeborene Missionare hier?“ umging er die Frage durch eine andere. „Sind sie auch auf den anderen Inseln?“
      „Nicht auf allen, aber auf vielen. Hier aber wirst du Schutz finden, bis dein Schiff zurückkehrt. Von den Bewohnern der Insel wird es keiner wagen, Hand an dich zu legen, solange du dich in den Mauern dieses Wohnortes befindest. Was deine eigenen Landsleute tun, wenn sie wiederkommen, weiß ich nicht. Ich fürchte aber, sie werden kaum die Heiligkeit dieses Ortes anerkennen, obwohl sie doch dem Namen nach auch Christen sind. Mein Pflegevater hat mir erzählt, daß es auf den Schiffen viele böse, gottlose Menschen gibt und wir Insulaner manchmal viel bessere Christen sind. Aber du gehörst doch nicht zu denen?“
      „Oh, dein Pflegevater mag da schon recht haben, denn viel Christentum darf man auf einem Walfänger nicht erwarten. Es sind aber auch viele gute, brave Menschen dazwischen. Ich bin vielleicht leichtsinnig, aber schlecht wohl doch nicht. Das mußt du mir allerdings auf mein Gesicht hin glauben, denn andere Bürgen für mich habe ich nicht.“
      Das Mädchen lächelte zufriedengestellt. Jetzt ergriff sie zum erstenmal seine Hand und führte ihn durch eine kleine Gartenpforte. Ein breiter Gang führte sie durch eine dichte Allee regelmäßig gepflanzter Bananen zum Haus. Unter dem vorstehenden Schutzdach konnte René die kleine, etwas wohlbeleibte Gestalt eines Insulaners erkennen. Als er die Gestalt mit einem flüchtigen, forschenden Blick musterte, konnte er ein leichtes Lächeln kaum verbergen. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, daß der Mann, wenn der Geist und die Zivilisation zu ihm von oben gekommen seien, mit den Beinen noch im Heidentum stecke.
      Der kleine, gelbbraune Missionar sah auch in seiner halb frommen, halb wilden Tracht eigentümlich genug aus. Er war ohne Hut, seine Haare im Gegensatz zu den Insulanern kurz abgeschnitten. Dann trug er ein weißes, baumwollenes Hemd und eine weite Halsbinde aus Leinen sowie eine hellgelbe Weste mit blanken Knöpfen. Darüber, und keineswegs passend zum Klima, einen schwarzen Frack. So weit war also der Geist gekommen, darunter aber fing wieder der Heide an. Der Mann konnte sich zwar an die fremde Religion, aber nicht an Hosen gewöhnen. So hatte er um seine Lenden ein Stück rot und gelb gefärbten Kattun gewickelt, der freundlich gegen den schwarzen Rock abstach. Die Beine trug er vollkommen nackt. Unter dem Kattun sah man noch die alten, heidnischen Tätowierungen früherer Zeiten. Sie wirkten auf René wie scheu, von dem christlichen Kleidungsstück bedroht.
      Der kleine Mann schien über den Besuch erstaunt und auch nicht besonders erfreut. Sadie erzählte ihm in seiner Sprache mit kurzen Worten die Ereignisse und bat ihn dann um seinen Schutz für den Verfolgten. René kam es vor, als hätte er zunächst einige Einwände, und dabei kam das Wort „Mitonare“ sehr häufig vor. Sadie oder Pu-de-ni-a, wie sie der kleine Missionar in seinem merkwürdigen Kauderwelsch nannte, konnte allen Ausflüchten begegnen. Da er selbst gutmütig und auch gastfrei war, schien er sich endlich zu fügen. Er streckte dem jungen Mann mit einem halb freundlichen, halb salbungsvollen Blick die dicke, fette Hand entgegen. Dabei entdeckte René auch dort noch Tätowierungen. In einer Sprache, die wohl Englisch sein sollte, aber meistens in Tahitisch auslief, sprach er René an.
      „Gu day bodder – gu day – a heare mai – gu fend here – ehoa ino – very gu fend –“ Dann folgte noch eine längere Auseinandersetzung, jetzt auf einmal in reinem Tahitisch, als ob er annahm, daß der Fremde durch die einleitenden Worte in seiner eigenen Sprache nun gut vorbereitet war in der einheimischen.
      Sadie, die ihr Lächeln kaum verbergen konnte, sah, wie der Fremde verlegen vor ihm stand und nicht richtig wußte, wie er sich verhalten sollte, übersetzte schnell und bat ihn, in das Haus zu treten, um sich mit Speise und Trank zu stärken und von den überstandenen Strapazen auszuruhen.
      „Wie kann ich erfahren, was aus dem Schiff geworden ist, das vielleicht gerade jetzt von der anderer Seite wieder auf die Insel zusegelt?“
      „Kümmere dich nicht darum. Ich habe eben einen Jungen zu der nächsten Bergspitze ausgesandt, von wo aus er das Meer überblicken kann. Er bringt uns Nachricht, ob das fremde Segel noch in der Nähe ist. Jetzt ins Haus. Wie ich schon gesagt habe, bist du hier sicher, bis das Schiff zurückkehrt. Selbst dann finden wir vielleicht noch Mittel, um dich zu verbergen.“
      Der kleine Mann hatte sich René gegenüber als „Mi mitonare – mi mitonare!“ vorgestellt. Er eilte ihnen jetzt geschäftig voran. Obwohl heute wirklich ihr Sonntag war, 1) brachte er eigenhändig Teller und Bestecke. Sie ruhten wenig benutzt in einer tiefen Schrankecke. Dann folgten kaltes Fleisch, Früchte und Kokosmilch. Nochmals lud er den jungen Mann freundlich eine sich niederzusetzen und nach Herzenslust zuzulangen.
      René sah erst Sadie an und dann das Essen. Er schämte sich, sie neben sich zu bitten, und hätte es trotzdem gern getan. Das schöne Mädchen erriet, was er wollte, schüttelte lachend den Kopf und war im nächsten Augenblick durch die offene Tür verschwunden.
      Der kleine Missionar begann eine Unterhaltung, die René zu jeder anderen Zeit amüsiert hätte. Jetzt aber hatte er wirklich großen Hunger, und die ständigen Fragen des Kleinen und das Kauderwelsch forderten seine ganze Aufmerksamkeit, die er viel lieber ungestört dem kalten Schweinebraten und den saftigen Früchten gewidmet hätte. Der Missionar ließ aber nicht nach und erkundigte sich nach allen Dingen, die den Fremden betrafen. Zunächst wollte er natürlich seinen Namen erfahren, der kurz und einfach genug für ihn war. Dann wollte er den Namen des Schiffes wissen, wohin es gesegelt sei und was sie gesehen hätten. Durch den weißen Missionar hatte er etwas Geographie gelernt und kannte die Hafenstädte der englischen und amerikanischen Küste. Er schien sich ungemein zu freuen, als René einen ihm bekannten Namen, Boston, erwähnte. Er nannte den Hafen hartnäckig bo-son.
      Wichtigstes Anliegen des kleinen, unermüdlichen Mannes war aber herauszubekommen, welches Land sein Heimatland und was für eine Religion der Flüchtling hatte. Aber René tat sich keinen Gefallen, als er sich kurz und knapp als Franzose bezeichnete.
      „Ein Wi-wi?“ sagte der kleine Mann etwas erstaunt, zog die Augenbrauen in die Höhe und spitzte den Mund. „Wi-wi? Hmmh!“ 2)
      „Wi-wi?“ entgegnete René, der diesen Ausdruck nicht erkannte. „Was wi-wi? Frenchman, Français, ferani!“ Er überlegte, was der Missionar wohl mit der merkwürdigen Bezeichnung meinte. Vielleicht ein Eigenname der Franzosen?
      „Viele Wi-wis in Tahiti! Keine Christen, wi-wis!“ sagte der Missionar.
      „Keine Christen? Na, ich weiß ja nicht! Einige sind wohl schon darunter, die sich so nennen!“ antwortete René und lachte.
      „Es, Christen, aber keine guten, aita maitai!“ nickte der unverwüstliche Kleine. –
      Jetzt erst begriff René, worauf der protestantische Missionar hinauswollte. Er mußte natürlich glauben, was ihm die protestantischen Geistlichen über die Religion der anderen Weißen, die sich ebenfalls Christen nannten, erzählt hatten. Er hütete sich aber, auf irgendeinen religiösen Streit einzugehen, und beschränkte sich darauf, ihm zu erklären, daß er nicht wisse, was es für Christen auf Tahiti gäbe. Er sei noch nie dort gewesen, in seinem Vaterland gäbe es aber sehr gute, fromme Christen. Zum Ergötzen des kleinen Mannes nannte er dabei Frankreich jetzt selbst „Wi-wi“.
      René hätte vielleicht noch zahlreiche andere Fragen beantworten müssen, wenn nicht gerade jetzt vor der Tür eine kleine Glocke geläutet hätte. Gleichzeitig erschien Sadie wieder, und René sprang mit einem Freudenruf auf.
      Das junge Mädchen bot in seiner Sonntagskleidung einen besonders hübschen Anblick. Sie bestand aus einem langen, faltigen Gewand, das ihr von den Schultern bis auf die Knöchel niederfiel. Von einer rotseidenen Schärpe wurde es zusammengehalten. Die Haare hatte sie wieder frisch mit wohlriechendem Öl getränkt und die langen, vollen Locken gekämmt, so daß sie ihr bis auf die Schultern herabfielen. Keine Blume schmückte sie jetzt, sondern nur eine dünne Schnur, aus den Erhöhungen einer reifen Ananas geschnitten, zog sich um ihr Haar und die Stirn, um die wilden Locken etwas zu bändigen. In der Hand hielt sie ein kleines Buch mit goldenem Schnitt, ein englisches Neues Testament. Sie sah jetzt so mädchenhaft fromm und schüchtern aus, daß René sie kaum wiedererkannt hätte. Und doch war sie jetzt noch schöner als in dem Augenblick, als sie mit ausgestrecktem Arm ihre Landsleute beschimpft hatte.
      „Wie schön du bist, Sadie!“ rief René fast unwillkürlich aus und streckte ihr seine Hand entgegen.
      „Nicht Sadie jetzt“, sagte das junge Mädchen und schüttelte den Kopf. „Prudentia heiße ich, denn ich gehe jetzt zu meinem Gott, durch dessen heiliges Wasser ich den Namen bekommen habe. Aber hier, mein Freund, nimm das hier und lese darin, während wir in der Kirche für dich und dein Wohl beten wollen. Es ist ein gutes Buch und wird dich trösten.“
      Es lag etwas Rührendes in ihrem Ton, und René nahm das Buch an. „Ich danke dir, Sadie, du mußt mir schon erlauben, dich so zu nennen. Das andere Wort will mir nicht über die Lippen. Du bleibst doch nicht zu lange?“
      „Vielleicht nur zu kurze Zeit für so schwere Sünder, wie wir es sind!“ antwortete das Mädchen ernst und traurig. „Aber keine Sorge. Von der anderen Seite der Insel sind eben Männer zur Kirche gekommen. Sie haben berichtet, daß dein Schiff nirgends zu sehen ist. Es ist weit nach Westen gegangen und braucht lange Zeit, wenn es gegen den Wind wieder hierher will. Bleibe aber im Haus und zeige dich nicht den Leuten draußen. Wir sprechen später darüber, jetzt darf ich nicht an weltliche Dinge denken. Ich dachte aber nur deinetwegen daran“, setzte sie hinzu und errötete dabei wieder.
      Auf den kleinen Mitonare hatte der Glockenton ebenfalls eine fast zauberhafte Wirkung. Noch lachte er über den Fremden, als der erste Glockenton erklang. Wie ein Schüler, den der strenge Blick seines Lehrers traf, zog sich, nein, zuckte sein Gesicht förmlich in ehrbare Falten, die ihm fast noch komischer standen als vorher das Lachen. Er erhob sich hastig, ergriff seine Bücher – alle in die tahitische Sprache durch die Missionare übersetzt – und sagte zu Sadie einige Worte. Dann verließ er mit langsamen Schritten das Haus.
      René blieb allein zurück. Sadie hatte ihn heute absichtlich nicht aufgefordert, sie in die Kirche zu begleiten. Sie hätte sonst nicht darauf verzichtet, aber heute waren zu viele Insulaner anwesend, die bei seiner Verfolgung dabei waren. Sadie wollte nicht schon heute beide Parteien wieder in Berührung bringen. Der Aufenthalt des Fremden konnte allerdings kaum lange Zeit geheim bleiben, wie sie recht gut wußte. Es war sogar fraglich, ob er es jetzt noch war. Den Frieden des Missionsgebäudes störten aber selbst die Verhärtetsten ihres Stammes nicht so leicht, und sie glaubte den von allen verlassenen Fremden wenigstens hier sicher.
      René warf sich auf eine der überall in dem hohen, luftigen Gebäude ausgebreiteten Matten und lag lange in tiefem Brüten über die letzten, für ihn so verhängnisvoll verlaufenen Stunden. Er war einer unmittelbaren Gefahr entgangen. Aber kam das Schiff zurück – und er zweifelte kaum daran, daß der Kapitän wenigstens noch einen Versuch machen würde, um ihn wieder zu bekommen –, wie sollte er sich dann retten? Er konnte auch kaum hoffen, von einem englischen und protestantischen Missionar beschützt zu werden. Wahrscheinlich war es das beste, wenn er weder Schiff noch Missionar abwartete und so rasch wie möglich die Insel wieder verließ. Und Sadie? Ob sie ihn begleiten würde? Er erschrak vor dem Gedanken, sie zurückzulassen. Dabei mochte er sich kaum eingestehen, wie sehr dieses schöne Mädchen schon sein Herz gefesselt hatte.
      „Das ist Unsinn, ja Wahnsinn, jetzt an Liebe zu denken, wo du noch nicht einmal eine Heimat hast. Sei vernünftig, René! Hier an die Inseln geworfen, hat das erste hübsche Gesicht, das dir in den Weg kam, dein leicht entzündbares Herz in lichterlohe Flammen versetzt! Das ist ein Strohfeuer und brennt in der ersten Woche ab.“
      Er stützte den Kopf auf und schlug das Buch auf, das noch immer vor ihm lag. Aber die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen. Zwischen jeder Zeile sah er wieder ihr Gesicht vor sich, und weder Lukas noch die Korinther konnten den Zauber lösen, der seine Seele mit der wilden Glut plötzlicher, gewaltig erwachter Liebe entzündet hatte.
      Der Tag verging ihm langsam. Sadie kehrte mit dem kleinen Missionar gegen Mittag zurück. Aber es war Sonntag. Kein Lächeln stahl sich über ihre Züge. Selten oder kaum einmal begegnete ihr Blick seinem, und die Stunden flossen für ihn träge unter Gebeten und Hymnen dahin.
      Schon vor Tagesanbruch war er am nächsten Morgen auf, badete in dem kristallklaren Wasser der Korallenbänke, und wartete dann sehnsüchtig auf die Rückkehr Sadies, die aber heute sehr lange fortblieb. Vergeblich erkundigte er sich bei dem Mitonare.
      „Pu-de-ni-a?“ sagte der kopfschüttelnd und in seinem rätselhaften Englisch. „Der Herr weiß, wo man das Mädchen suchen soll, wenn man sie haben will. Pu-de-ni-a ataetai, wie kleine Eidechse, hier im Laub und da im Laub, kann sie nicht fassen, ist weg unter den Augen.“
      Der Kleine schien heute besonders zu einer Unterhaltung aufgelegt. Er lehnte sich auf seine Matte zurück, faltete die kurzen, dicken Finger auf dem runden Magen und begann wieder in herablassender Weise Fragen an den jungen Mann zu stellen. Dabei blieb René oft kaum Zeit, den Sinn zu verstehen, da kam schon die nächste, ohne die Antwort erst abzuwarten. Er trug aber heute weder den schwarzen Rock noch die hellgelbe Weste mit den blanken Knöpfen. Selbst das weiße Halstuch lag auf einem kleinen Bücherbrett, sorgfältig in ein Stück gelbes englisches Packpapier gewickelt. Seine Bewegungen wirkten dadurch freier, und er schien mit dem Frack auch den ganzen „Mitonare“ ausgezogen zu haben.
      Er erzählte jetzt René, daß er noch vor zehn Jahren ein entsetzlicher Heide war, der glaubte, daß das höchste Wesen Taaroa und nicht Gott hieß, seinen Götzen Früchte und Schweinefleisch zum Opfer brachte und Gefallen an den sündhaften Tänzen der eingeborenen Mädchen fand. Mitonare O-no-so-no hatte ihn aber gerettet. Sein Vater und sein Großvater waren alle in der Hölle, konnten aber nichts dafür, denn sie waren aus Versehen dorthin gekommen. Er hatte sich sogar tätowieren lassen. Als er sah, daß René bei der Erzählung unbewußt ein erstauntes Gesicht machte, lüftete er mit einer kurzen Bewegung den Kattun. Gleich darauf fiel er aber erschrocken in seine alte Stellung zurück, denn René war bei dieser plötzlichen Enthüllung in schallendes Gelächter ausgebrochen.
      Der Missionar wollte böse werden, und René hatte Mühe, ihn wieder zu beruhigen. Von da an begnügte er sich damit, ihm seine Lebensgeschichte ohne Illustrationen zu erzählen.
      Ein „Mitonare“ hatte es nach seiner Meinung schwer. Nicht der Predigten wegen, sondern mehr wegen des Fracks. Dazu der viele Ärger mit den Mädchen, die junges, leichtsinniges Volk waren. Sie würden immer denken, daß sie in den Himmel kommen, auch wenn sie lustig sind. Aber sie wissen es eben nicht besser. Da in dem Buch stehe alles drin. Ein sehr gutes Buch sei es, ein bißchen dick, aber sehr gutes Buch, und viele schwere Worte darin. Jetzt kam aber bald eine böse Zeit. Weiße Mitonares, vier, fünf, sechs, kamen hier herüber. Sahen zu, ob Mitonare roter Mann viel weiß und kleine Kanakas iti-iti gut unterrichtet hat. Viele schwere Worte auswendig lernen und viel Ärger mit iti-iti. Pu-de-ni-a gutes Kind. So schloß der Mitonare seine Rede und setzte hinzu, sie sei ein wenig wild, ein „bißchen sehr wild für waihini. Mitonare O-no-so-no Tochter. Aber nicht Tochter. Nur so Tochter.“ Dabei bemühte er sich in langer Rede und mit großer Anstrengung, René verständlich zu machen, daß sie seine Pflegetochter sei.





1) Außer auf Tahiti und Imeo (Eimeo) wird der Sonnabend anstelle des Sonntags gefeiert, denn die ersten hier eingetroffenen Missionare waren um das Kap der guten Hoffnung gekommen und hatten dadurch die Datumsgrenze überschritten, ohne es zunächst zu bemerken. Sie behielten ihre eigene Zeitrechnung bei, nur auf Tahiti und Imeo änderten sie die Franzosen später ab.
2) Spottname dieser Inseln für die Franzosen nach ihrem häufig gehörten „oui, oui – ja, ja!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Tahiti