Das Geständnis -2-



„Lieber junger Freund“, begann er endlich. „Sie sind frei und aufrichtig gegen mich gewesen, und ich will genauso zu Ihnen reden. Sie werden mir deshalb nichts übelnehmen, denn Gott weiß es, es geschieht nur zu Ihrer beider Wohl. Sie sind, wie ich aus den Papieren sehen konnte, von guter Herkunft. Sie sind in dem gebildeten, geselligen Leben Europas erzogen, an europäische Sitten, an ein Leben gewöhnt, das Ihnen mehr bietet als nur Essen und Trinken und ein einzelnes Wesen, dem Sie sich anschließen können, auch wenn Sie es noch so sehr lieben. Die Beweise haben Sie selber in Ihrem bisherigen unsteten Leben. Weder in Afrika noch in Amerika fanden Sie, was Sie suchten. Die rohe Gesellschaft des Walfängers trieb sie wieder zu einem verzweifelten Schritt, bei dem Sie selbst Ihr Leben einsetzten, um nicht wieder zurückkehren zu müssen. Sie fanden hier, in der größten Gefahr, auf sehr romantische Weise ein junges, reizendes Mädchen, dessen Erscheinung Ihre Leidenschaft weckte, später dann Ihr Herz gewann. Szenerie und Umgebung, sogar Farbe und Abstammung des Mädchens trugen dazu bei, den Reiz in Ihrem jugendlichen Herzen zu erhöhen. Unser herrliches Klima, die tropische Vegetation, das stille blaue Meer, ja das ganze Stilleben unseres Plätzchens hier bestach Ihre Sinne. Jetzt sind Sie fest davon überzeugt, daß Sie in dem Mädchen und dieser Insel das Ideal Ihres Lebens gefunden, das Ziel Ihres ganzen Strebens und Drängens erreicht haben. Wenn Sie sich aber irren? Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie folgen dem Drang Ihres Herzens und glauben nicht, daß Sie sich täuschen. Aber hören Sie mich ruhig weiter an. Sie sind jung, das Leben liegt noch vor Ihnen. Ich bin alt, meine Bahn ist bald durchwandelt. Sie haben die Hoffnung, ich die Erfahrung. Dreiundzwanzig Jahre meines Lebens habe ich auf diesen schönen Inseln zugebracht. In dieser Zeit habe ich aber auch viele Leute kommen und gehen sehen. Ich habe Hoffnungen und Träume aufblähen und verwelken sehen und weiß, was ein Mann in Ihren Verhältnissen hier zu finden glaubt – und was er findet. Noch ist alles neu. Die Palmen, die tropische Vegetation üben einen Reiz auf den Neuankommenden aus, dem er sich selten entziehen kann. Nur wenige Jahre führen aber eine gewaltige Änderung herbei. Besonders der junge Mensch braucht eine Veränderung, einen Reiz für seine Tätigkeit, will er nicht erschlaffen und sich seinem Schmerz hingeben. Viele Europäer haben sich in den letzten Jahren hierhergezogen gefühlt. Diejenigen, die wirklich hiergeblieben sind, waren schon ältere Leute und brachten meistens ihre Familien mit. Fast alle kamen hierher, um ein Geschäft zu betreiben und sich ein Vermögen zu erwerben. Dann werden fast alle wieder nach Europa zurückkehren, wenn ihre Kinder erwachsen sind. Dorthin passen sie auch. Die Frauen stammen von dort und sehnen sich nach dort zurück, und sie lassen hier nur eine freundliche Erinnerung zurück. Die Fasern ihres Herzens haben nicht zwischen den Palmen und Bananen Wurzel geschlagen.


Viele von ihnen haben auch Mädchen der Inseln geheiratet, die ersten und hübschesten, die ihnen begegneten. Sie finden auf allen Inseln verstreut Beispiele. Aber das sind fast nur rohe Matrosen, denen das müßige Leben gefällt. Sie haben sich auch in ihrer Heimat in keinen anderen Kreisen bewegt und nur ihr materielles Wohl im Kopf. Aber selbst sie verlassen oft, selbst nach vielen Jahren, ihre Familie. Selbst ihnen genügt nicht mehr diese tropische Ruhe, sie sehnen sich nach Abwechslung, nach einer Veränderung ihrer Verhältnisse, auch wenn sie dafür wieder hart arbeiten oder ihr früheres Leben aufnehmen müßten.

Auf Tahiti haben Sie einige wenige Beispiele unter Ihren Landsleuten, die tahitische Mädchen wirklich geheiratet haben. Jetzt sind diese Frauen jung und schön. Sie können sie mit nach Europa nehmen und vielleicht stolz auf sie sein, wenn Sie das Gefühl einer etwas bizarren Eitelkeit so nennen wollen. Werden sie aber alt, dann ist das vorbei. Weibliche Körper blühen und verblühen in unserem tropischen Klima so rasch wie unsere üppige Pflanzenwelt. Sie können keine alte Frau aus der Südsee nach Europa bringen, sie dort in Ihre Kreise einführen. Sie möchten das auch nicht, denn Sie wüßten zu gut, wie Sie hinter Ihrem Rücken zum Gespött der Leute werden, die Ihre Gründe nicht kennen und achten. Wollen Sie das Wesen, das sich an Sie geschlossen hat und mit Herz und Seele an Ihnen hängt, nicht unglücklich machen, so müssen Sie bei ihm auf den Inseln bleiben. Unmut und Sehnsucht nach einem anderen Leben werden dann an Ihnen zehren, schlimmer noch als bei einem jungen Menschen. Denn der war frei, er konnte noch dem ersten Drang folgen. Jetzt aber ist das vorbei. Die Möglichkeit, frei zu handeln, ist ihm genommen.

Ich spreche von mehreren Beispielen, die ich selber kenne. Die Liebe, die ich für Prudentia fühle, macht mich besorgt, und ich möchte ihr ein solches Schicksal ersparen. Wie ich Ihnen sagte, und wie Sie sicher selbst bemerkt haben, ist Prudentia keines der gewöhnlichen, sinnlichen Mädchen dieser Inseln, die sich dem ersten an den Hals werfen, ohne sich etwas dabei zu denken. Die erwarten auch nichts anderes, als daß sie irgendwann wieder verlassen werden. Ich fürchte vielmehr, daß Sie Prudentias Herz schon zu sehr gewonnen haben. Jetzt wäre aber doch noch vielleicht eine Trennung möglich. Sie würden beide an diese Zeit wie an einen schönen Traum zurückdenken, von dem es das Herz nur eine kurze Zeit schmerzt. Aber Sie können dadurch vielleicht beide auch einem verfehlten Lebensziel ausweichen, das dann später nicht mehr zu ändern wäre und leider für beide verderblich würde.

Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie Prudentia im Augenblick mit aller Leidenschaft lieben. Aber wird der alte Hang eines unsteten Lebens Ihnen in dem Stilleben unserer Inseln Ruhe und Frieden lassen? Unsere Palmen sind grün und herrlich, aber so wie sie dort stehen, stehen sie das ganze Jahr. Kein gelbes, fallendes Blatt, keine Schneedecke, keine keimenden, wachsenden Knospen geben ihnen im nächsten Frühjahr wieder neuen Reiz. Unsere Bäume sind mit Früchten bedeckt, aber die Blütenzeit fehlt uns. Wir brauchen nie auf die Frucht zu warten, sie hängt voll und reif am Baum, während kaum bemerkt andere schon wieder nachblühen und nachwachsen, um die fehlenden immer wieder zu ersetzen und die Plätze auszufüllen. Wir kennen hier auch nicht die Sorgen und Mühen des Lebens, das Salz jedes gesellschaftlichen Verkehrs, durch das eine erworbene Existenz erst ihren ganzen Reiz gewinnt. Wir stehen morgens auf, essen und trinken, und legen uns abends wieder schlafen. Nachrichten von der anderen Welt dringen nur selten zu uns durch. Wie sie kommen, wäre es fast besser, sie blieben ganz aus, denn anstatt zu befriedigen, lassen sie selbst im Herzen der Ältesten von uns eine Leere zurück, die wir vergeblich auszufüllen versuchen.

Wollen Sie nun mit Ihrem jungen, tatkräftigen Herzen in dieses felsenumschlossene Tal, aus dem es keine Rückkehr für Sie gibt, hinabspringen? Schauen Sie sich um hier, junger Freund. Sehen Sie nach oben! Noch liegt die ganze übrige Welt ausgebreitet vor Ihren Blicken. Haben Sie nichts, was nur den geringsten Anhaltspunkt für Ihr Herz bietet? Bedenken Sie, bei einem sinkenden Schiff kann das kleinste, unbedeutendste vergessene Tau das Boot, mit dem sich der Schiffbrüchige retten will, rettungslos mit in den Abgrund ziehen.“

Der alte Mann schwieg. Eine Träne stand ihm im Augenwinkel. Ernst und forschend sah er den jungen Mann an. Es war, als wolle er seine innersten Gefühle ergründen. René war gerührt, aber er war auch entschlossen und erwiderte den Blick. Dann antwortete er mit fester Stimme:

„Sie verstehen es, alter Herr, Herz und Seele mit Ihren Worten zu treffen. Aber ich springe getrost hinab in dieses Tal, denn da oben blüht für mich kein Glück, keine Freude mehr. Meine Familie ist tot, ich habe weder Bruder noch Schwester, die Anspruch auf meine Nähe haben. Alles, was mein Herz sonst hätte binden können, ist für mich verloren. Wenn Sie mich jetzt wieder kalt und erbarmungslos in die Welt zurückstießen, würde ich untergehen. Auch Sadie hängt mit inniger Liebe an mir. Sie ist nicht der Mensch, einmal zu lieben und dann wieder leicht zu vergessen. Wollen Sie auch aus ihrem Herzen die erste Neigung reißen? Dazu haben Sie Sadie zu lieb, auch wenn ich Ihnen gleichgültig bin. Aber ich kann mich auch irren, vielleicht täusche ich mich selbst in Sadies Gefühlen. Sprechen Sie selbst mit ihr, fragen Sie sie. Halten Sie unsere Verbindung für gefahrvoll für sie, und glaubt auch Sadie, daß sie sich jetzt ohne großen Schmerz von mir trennen könnte, gut. Beim ewigen Gott, dann will ich nicht weiter den Frieden dieses Tales stören, sondern verzichten. Auch wenn mir das Herz bricht, ich werde mich nicht weiter beklagen, und das erste Kanu soll mich zu einer anderen Insel bringen.“

Er war aufgesprungen und hatte seine Mütze ergriffen. Damit wollte er das Zimmer verlassen, aber der alte Missionar streckte ihm die Hand entgegen. Mit bewegter Stimme sagte er herzlich zu ihm:

„Das ist aufrichtig von Ihnen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich nicht einen Augenblick daran gezweifelt hatte, daß Sie so fühlen, wie Sie es dem Mädchen versprochen haben. Ich kenne Prudentia oder, wenn Sie so wollen, Sadie so gut, daß es kaum einer langen Rede bedarf. In wenigen Minuten haben Sie meine Antwort. Warten Sie bitte in der Zwischenzeit in diesem Haus. Aber glauben Sie nicht, junger Freund, daß ich Ihnen das Wort reden werde!“ setzte er ernster hinzu. „Sie müssen es meinem Gewissen überlassen, mit Sadie zu handeln, wie ich es vor ihm verantworten kann.“

„Handeln Sie, als ob Sie ihr Vater wären“, sagte René herzlich. „Ich will Sadies Glück, nicht meins.“ Damit verließ er mit schnellen Schritten das Zimmer. Auf den Ruf des alten Mannes betrat das Mädchen schüchtern und mit niedergeschlagenem Blick das Zimmer. Sie schaute nicht auf, aber sie fühlte, daß René nicht mehr hier war. Ihr Herz klopfte ihr hörbar in der Brust. Ihr Vater hatte ihn abgewiesen, und der schöne Traum ihres Glückes war in Nacht und Tränen zerflossen.

„Prudentia“, sagte der alte Mann und zog das zitternde Mädchen sanft an sich. „Ich habe den jungen Fremden weggeschickt von hier. Er hat dich jetzt wohl lieb, aber wenn er einige Zeit von seiner Heimat entfernt ist, sehnt er sich wieder nach ihr zurück und läßt mein armes Mädchen hier allein. Dann wirst du sehr unglücklich und elend werden. Jetzt ist der Eindruck, den er auf dein Herz gemacht hat, noch flüchtig, noch leicht wieder zu verwischen. Du wirst einen oder zwei Tage weinen, ihn dann aber vergessen. Nicht wahr, mein Kind, ich habe richtig gehandelt? Ich wollte ja nur dein Wohl.“

„Ich will alles tun, was du mir sagst, Vater“, flüsterte das Mädchen, dicht an seine Brust geschmiegt. Sie sprach so leise, daß er kaum ihre Worte verstehen konnte.

„Das ist mein gutes Kind“, sagte der Greis, aber die Stimme zitterte ihm. Er fühlte nur zu gut, was in dem Herzen des armen Mädchens vorging und wie tief die Liebe des Fremden schon Wurzeln geschlagen hatte. Es war nicht mehr möglich, sie ohne Schaden wieder herauszureißen. Er mußte sich selbst einen Augenblick sammeln, ehe er mit ermutigender Stimme fortfuhr:

„Nicht wahr, mein Kind, dann wirst du auch wieder glücklich und froh sein wie bisher? Wirst wieder lachen und singen und nicht den Kopf so trübe hängen lassen?“

„Ich will mir Mühe geben, lieber Vater!“ flüsterte das Mädchen und barg ihr Haupt fester an dem Herzen des alten Mannes.

„Wirst du auch den Fremden vergessen, willst du mir das aufrichtig versprechen, mein braves Mädchen?“ erkundigte sich leise der alte Mann.

Das war zuviel für das arme, gequälte Herz. Einen Augenblick schien es, als ob sie sich von seiner Brust emporheben wolle, um ihm in die Augen zu sehen. Aber sie sank wieder zurück und sagte nur leise:

„Ach, das weiß ich nicht, das weiß ich wirklich nicht, lieber Vater...“ Damit war ihre Kraft gebrochen, und laut und heftig schluchzend hing sie in seinen Armen. Sie schluchzte nicht allein, aus der Ecke des Zimmers vor ihnen tönte es noch lauter und heftiger. Der kleine Mitonare saß da auf einem der niedrigen Bambusschemel, ganz allein und vergessen, und weinte wie ein kleines Kind.

Da konnte sich auch der alte Missionar nicht länger halten. Er hob das tränenüberströmte Gesicht seiner Tochter zu sich und küßte es mehrfach. Dabei rief er:

„Nein, nein, Prudentia, ich bin doch kein Tyrann, der sein Kind elend und unglücklich machen möchte, nur weil die Möglichkeit existiert, daß es später doch einmal so kommen könnte. Nein, wenn Gott dir eine so gewaltige und innige Liebe für ihn ins Herz gelegt hat, dann nimm ihn, der Herr segne euch, und er wird alles zum besten lenken. Aber sei auch wieder mein gutes, fröhliches Mädchen. Lache wieder, singe wieder und mache das Herz deines alten Vaters froh durch dein heiteres, glückliches Gesicht!“

„Vater, lieber Vater!“ rief das Mädchen jubelnd aus. Mitonare hatte aber kaum gehört, welche Wendung die Sache nahm, als er, wie aus der Pistole geschossen, zur Tür hinausschoß und nach kaum zwei Minuten mit dem „verzweifelten Wi-wi“ zurückkam. René lag mit an dem Herzen des alten Mannes, ohne recht zu wissen, wie. Der Greis flüsterte einen leisen Segen über die Häupter der Glücklichen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Tahiti