Tagebücher von Karl August Varnhagen von Ense, Band 1

Autor: Karl August Varnhagen von Ense (*21. Februar 1785 in Düsseldorf; † 10. Oktober 1858 in Berlin) deutscher Chronist der Zeit der Romantik bis zur Revolution 1848 und zum anschließenden Jahrzehnt der Reaktion, Erzähler, Biograph, Tagebuchschreiber und Diplomat., Erscheinungsjahr: 1861
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Varnhagen von Ense, Tagebücher, Goethe, Berlin, Kissing, Sittenbild, 19. Jahrhundert, Anekdoten, Hofgeschichten, Lagebeurteilungen, Rezensionen, Kurbetrieb, Berlinerleben
Die vorliegenden Tagebücher beleuchten in ununterbrochener Folge unsere jüngste Vergangenheit. Was Varnhagen von Ense zunächst nur für sich selber niederschrieb, ist in der Tat eine vollständige Darstellung der preußischen Geschichte geworden, die hier sich unverhüllt und klar den Augen des Lesers darbietet. Während die ersten Blätter in Kürze de n matten, schlaffen, gedrückten Zustand unter Friedrich Wilhelm dem Dritten zeigen, entrollt sich in den folgenden das ganze Gemälde der Regierung Friedrich Wilhelms des Vierten, mit all ihren verschiedenen Anläufen und Schwankungen, welche die Revolution von 1848 stufenweise vorbereiten und unabänderlich hervorrufen mussten. - Vieles bisher Dunkle und Ungewusste ist hier zum ersten male aufgeklärt, das ganze preußische Staatswesen, der König, die Minister, die sich bekämpfenden Parteien, das Leben in der Gesellschaft, der Wissenschaft und Literatur so bis zum innersten Kern geschildert, wie dies kaum einem Zweiten möglich sein dürfte; Varnhagen erhielt von allen Seiten die genauesten und zuverlässigsten Mitteilungen, und so verband sich in ihm mit seltenem Darstellungstalent, mit dem umfassendsten und durchdringendsten Geist und dem sichersten politischen Blick die tiefste und schärfste Kenntnis der Lage der Dinge.

Wer es unrecht findet, wenn Persönlichkeiten ohne Erlaubnis der Personen zur Schau gestellt werden, durch Briefe zum Beispiel, die man drucken lässt, der darf auch keine Kenntnis von dem nach seiner Meinung unrechtmäßig Mitgeteilten nehmen, oder er macht sich der Schuld mitschuldig. — Leset also dergleichen Bücher nicht! Geht nicht hin, wo ihr die Sitte und Behandlung zu tadeln findet!

Varnhagen von Ense.
(Den 11. August 1836.)
Was er in edlem Eifer, der sich oft bis zur flammenden Leidenschaft steigerte, im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit treu und gewissenhaft niederschrieb, wird jeder Unparteiische in seinem unschätzbaren Werte erkennen. Es sind die Aufzeichnungen eines ächten Patrioten, dessen Herz feurig und liebevoll für Preußen, für Deutschland schlug, und der so begeistert und freudig jeden Aufschwung zur Freiheit, zum Wohl des Vaterlandes begrüßte, wie ihn die Schmach und Unterdrückung desselben mit tiefstem Schmerz erfüllen mussten. Wenn er während der unheilvollen Reaktionsjahre sich den Ausbrüchen des gerechtesten Zornes und Unmutes überließ, so wird man auch in diesen die warme Liebe zum Vaterlande erkennen müssen, und in den oft starken, vielleicht maßlos erscheinenden Ausdrücken den natürlichen Aufschrei, die edle Empörung, die der Anblick der zertretenen Freiheit, der um ihre Rechte betrogenen Nation in jedem ächten Manne hervorrufen musste. An solche Aufzeichnungen den Anspruch zu machen, wie an ein stilistisch-glattes und abgerundetes Kunstwerk wäre unrichtig, es durfte ihnen nichts von ihrer kräftigen Frische und Unmittelbarkeit genommen werden.

Ein Anhänger des konstitutionellen Königtums, und dem Könige Friedrich Wilhelm dem Vierten persönlich ergeben, ohne in seiner Nähe zu sein, hielt Varnhagen an diesen Gesinnungen fest bis aufs Äußerste. Grade dadurch aber erhält die Entwicklung, die mit ihm selbst in diesen Blättern allmählich vor sich geht, einen so besonders lehrreichen Charakter. Sie zeigt wie die neueste Geschichte auf einen normal gesunden Geist wirken musste, der, von fast entgegengesetzten Prinzipien ausgehend, vermöge der Intelligenz seiner Auffassungskraft unter der zwingenden Macht der Ereignisse zuletzt erkennen muss, dass die wahre Volksfreiheit nur auf ganz anderem Wege zu erlangen sei! — Die Entwicklung, die Varnhagen hier gleichsam unter den Augen des Lesers an seinem eignen Menschen durchmacht — sie ist die Entwicklung, welche die letzten fünfzehn Jahre im Volksgeist im Allgemeinen hervorgebracht haben müssen, wenn diese Jahre keine verlorenen sein sollen. Es ist die Entwicklung, die tausend Andere wie Varnhagen an sich erlebt haben und die tausend Andere an ihm nachleben und an ihm durchmachen werden, sich nach seinem Beispiel an der Lehrkraft der Ereignisse bildend.

Neben der allgemeinen politischen Wichtigkeit dieser Tagebücher, geben sie auch ein treues Zeugnis von Varnhagens edlem und herrlichem Charakter; sein hoher Geist, seine Zartheit und seine Kraft, seine Anmut und die zermalmende Schärfe seines Witzes, seine persönliche Gutmütigkeit und Menschenliebe, sein unbestechlicher Wahrheitssinn, seine wahrhaft ideale Uneigennützigkeit, zeigen sich in hundert Zügen. Hatte er, noch in den besten Jugendjahren bereits eine glänzend begonnene diplomatische Karriere verlassen, so wies er auch alle späteren für ein Talent wie das seinige verlockenden Anerbietungen zu erneuter Wirksamkeit im Staate mit Entschiedenheit zurück, da sie sich mit seiner

Überzeugung nicht vereinigen ließen. In stiller Zurückgezogenheit lebend, begehrte er nichts für sich selbst.

Ich halte es für eine heilige Pflicht das vorliegende Werk der Öffentlichkeit zu übergeben; möge es weithin die Geister entzünden und erleuchten und tausendfältig den Sinn für Freiheit und Vaterland anregen und ausbreiten, dessen wir mehr als jemals bedürfen für die Kämpfe, welche die nächste Zukunft schon uns bringen kann. Ein ruhmvolleres und glänzenderes Denkmal für den edlen Verstorbenen und das zugleich mehr in seinem Sinne wäre, kann es nicht geben, als wenn in solcher Weise sein Geist noch nach seinem Tode tätig fortwirkt für die heilige Sache, die er im Leben zu der seinigen gemacht.

Die Philister werden wieder zittern vor Schreck, die Reaktion wird wieder schäumen vor Wut sich in ihrer Nichtswürdigkeit enthüllt zu finden; was liegt daran! Meine Feinde mögen sehen, dass es ihnen nicht gelungen mich einzuschüchtern, und meine Freunde, dass ich getreulich und unbeirrt fortfahre die Aufgabe, die mir geworden, zu erfüllen!

Die schon früher mit den „Briefen von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense“ veröffentlichten Tageblätter sind hier nicht wieder mit aufgenommen, da sie dem größten Teile der Leser als bekannt vorausgesetzt werden durften.

Berlin, im August 1861.

Ludmilla Assing.