Über die Lage der russischen Armee bei Smolensk

Der großen Gefahr entgangen, einzeln geschlagen zu werden, hatten die beiden russischen Westarmeen, am 1. und 3. August Smolensk erreicht und dort Verstärkungen und Mittel zu einer reichlichen Verpflegung gefunden. Die lange angestrebte Vereinigung war also endlich zur vollendeten Tatsache geworden.

Betrachten wir die strategische Lage der bei Smolensk konzentrierten russischen Armee, so finden wir, dass dieselbe hauptsächlich aus den Beziehungen resultierte, in welchen die Armee zum Raume stand. Bedingt durch die Absicht der Russen, gab es für dieselben sowohl in nordöstlicher, wie in südöstlicher Richtung wichtige Räume.


Gegen Nordosten lag das heilige Moskau, jenes Mekka der Russen, welches sie schon aus nationalen Gründen zu schützen Willens waren; gegen Südosten aber jene strategisch wichtigste Gegend, welche ihnen die meisten Hilfsquellen, sowohl an lebendiger Kraft, als an Mitteln zur Erhaltung des Heeres bot, deren Besitz sich zu erhalten also eigentlich eine Lebensbedingimg für die Russen war.

In Smolensk waren sie nun im Stande, gegen die Aufstellung, welche die französische Armee einnahm, beiden Zwecken zu entsprechen; sie konnten dies aber nur solange, als die russische Armee bei Smolensk und das gegenseitige Verhältnis erhalten blieb; denn mit jedem Schritte der Russen, sei es nordostwärts, um auf Moskau zurückzugehen, sei es nordwärts um nach einer unglücklichen Schlacht auszuweichen, und mit jedem Vorgehen der Franzosen südlich von Smolensk verminderten sich die erwähnten günstigen Verhältnisse oder verschwanden sie gänzlich.

Denn der Grundidee des russischen Kriegsplanes, den Krieg in die Länge zu ziehen, konnte dann nicht mehr entsprochen werden, weil die Russen in jedem der angeführten Fälle notwendigerweise in die höchst ungünstige Lage kamen, sich von ihren Hilfsquellen zu entfernen und Gegenden zu betreten, welche die Bedürfnisse der Armee nicht decken, also den Krieg nicht weiter ernähren konnten.

Nachdem also die Gegend in südöstlicher Richtung, die Südprovinzen Russlands, wegen ihres Reichtumes an allen Hilfsmitteln für den Krieg und für die beabsichtigte Art, ihn zu führen und hinauszuziehen, ohne dass es noch zur Entscheidung komme, von überlegener Bedeutung waren, schien es auch geboten sich von denselben nicht zu trennen; musste Smolensk verlassen werden, so war die Richtung gegen Kaluga jener auf Moskau gewiss vorzuziehen; ja man kann sogar die Behauptung aufstellen, dass durch das Einschlagen der empfohlenen Richtung beide Zwecke, Moskau zu schützen und die Südprovinzen sich zu erhalten, zu verbinden waren; musste doch durch ein Zurückgehen gegen Südosten, also gegen die Südprovinzen, gleichzeitig die Absicht Moskau zu decken, schon desshalb am besten erreicht werden, weil Napoleon zu folgen gezwungen war.

Wir sagen „gezwungen,“ in der Voraussetzung, dass die russische Armee nach bewirkter Vereinigung ihre Bewegung gegen Südosten von Smolensk aus antrat. Denn tat sie dieses von einem andern, Moskau nahe liegenden Punkte aus, so war es allerdings möglich und wahrscheinlich, dass Napoleon, sein nächstes Objekt, die russische Armee, für einige Tage aufgebend, sich auf Moskau warf. Er hätte dadurch sein Streben, die Entscheidung des Krieges durch Bekämpfung des russischen Heeres so bald als möglich herbeizuführen, nur momentan aus den Augen verloren; er würde ihm aber für lange, vielleicht sehr lange Zeit untreu geworden sein, wenn er, falls sich die russische Armee schon von Smolensk aus gegen Südosten gezogen hatte, seine Operationen direkt und ohne diese zu beachten, nach dem weit entfernten Moskau fortgesetzt hätte.

Und er konnte das sogar nicht wagen; denn nicht die russische Armee wäre durch diese Operation, wie man behaupten will, in eine missliche Flankenlage gekommen, sondern im Gregenteile die französische, deren Verbindungen den Russen vollkommen preisgegeben gewesen wären.

Es ist wahr, die französische Armee hätte auf der Moskauer Straße, wo die Ortschaften noch nicht ausgesogen waren, mehr Subsistenzmittel gefunden. Wären diese aber zu ihrer Erhaltung genügend, wären sie ausreichend gewesen, um die Armee von ihrer Hilfsbasis zu emanzipieren, von der dieselbe schon durch bedeutende Räume getrennt war? Konnte überhaupt in dem fanatisierten Lande auf ergiebige Requisitionen gerechnet werden ? Wir glauben, dass diess Alles nicht der Fall war und dass allein schon der täglich größer werdenden Verpflegsschwierigkeiten wegen das Streben nach baldiger Entscheidung, das vom Anbeginne her der Grundgedanke von Napoleons Handlungen war, jetzt noch lebhafter ihn beherrschen musste, als damals, wo seine Armee eine kolossale Überlegenheit repräsentierte, während die Russen weit von ihren Verstärkungen und, im Gegensatze zu ihrer jetzigen Lage bei Smolensk, getrennt waren. Und wie konnte dieses Streben nach der Entscheidung anders zum Ausdrucke kommen, als dadurch, dass er der russischen Armee folgte, sie zum Stehen zwang und schlug.

So wichtig auch der Besitz Moskaus in politischer Beziehung war, so besass er doch bei Napoleons Lage nicht jene Anziehungskraft, wie sie der russischen Armee eigen war. Es ist daher nicht zu zweifeln, dass sie bei eiuem Zuge gegen Osten oder Südosten Napoleon nach sich gezogen hätte.

Wenn nun die Russen, ihren eigenen Vortheil verkennend, diese Richtung doch nicht einschlugen, sondern auf der großen Straße über Wjäzma nach Moskau zurückgingen, von wo sie dann erst durch einen Flankenmarsch sich südlich davon versetzten, so geschah dies desshalb, weil sie auf dieser Straße bereits alle Anstalten getroffen, alle Verstärkungen dahin dirigiert und die Schlachtfelder recognoscirt hatten, und endlich weil auf die fanatische Gesinnung der Bevölkerung, welche ihre Metropole direkt gedeckt und dafür gekämpft wissen wollte, Rücksicht genommen werden musste.

Wir haben die Bemerkung gemacht, dass die Lage der vereinten, verstärkten und gut verpflegten Armee der Russen bei Smolensk in Bezug auf ihre Rückzugswege gegen Moskau oder nach der Gegend Kaluga-Orel eine günstige war, haben aber auch beigefügt, dass sie nur so lange günstig blieb, als die französische Armee den Russen frontal in der Gegend zwischen Düna und Dniepr gegenüberstand, dass aber ein Vorgehen der Franzosen von ihrem rechten Flügel aus, also südlich der russischen Aufstellung, die Lage der Russen zu einer ungünstigen gestalten musste; denn die Moskauer Straße, die Etapenstraße der Russen, setzt östlich von Smolensk bei Solowjewo *) auf das rechte Dniepr-Ufer über; es konnte also bei einem Angriffe aus der südlichen Richtung, wobei zugleich die Rückzugslinie der Russen in die Verlängerung ihres linken Flügels fiel, durch Wegnahme des Übergangspunktes die russische Armee von Moskau ab gegen Norden gedrängt werden, abgesehen davon, dass dadurch a priori die Verbindung mit dem Süden und den dortigen Kriegsmitteln zu unterbrechen war.

In dieser Lage befand sich die russische Armee, 120.000 Manu stark; ihr gegenüber in einer weitläufigen Aufstellung von Surash bis Mohilew und in einer Stärke von etwa 183.000 Mann die Armee Napoleons.

Diese strategische Situation, der Umstand, dass man vereint war und Verstärkungen erhalten hatte, während die Armee Napoleons auf einer Front von 20 Meilen zerstreut stand; das Missvergnügen in der Armee über das fortwährende Retiriren, und das kampflustige Drängen im russischen Hauptquartier, dies Alles ließ den Entschluss zur Offensive, entgegen der besseren Überzeugung Barclays, zur Reife gedeihen.

*) Eine zweite Straße, jene von Smolensk über Duchowschtschina, setzt bei Dorogobusch auf das linke Ufer des Dniepr über, wodurch für den vorliegenden konkreten Fall die strategische Wichtigkeit der zwei genannten Übergangspunkte hervortritt.

Es entsteht nun die Frage:

Waren die Russen auch dazu berechtigt?

Bei den vom Beginne des Krieges an getrennten russischen Armeen musste selbstverständlich, so lange die Trennung anhielt, jeder Gedanke an einen entscheidenden Kampf unbeachtet bleiben und durfte erst dann in den Vordergrund treten, wenn die Vereinigung stattgefunden und wenn man aus dem Räume so viel Nutzen gezogen hatte, um mit Vorteil kämpfen zu können.

Bei Smoleusk waren nun die Russen allerdings vereint, allein die sonstigen Bedingungen waren noch nicht erfüllt. Es wurde mit Absicht die Forderung betont, dass die Russen erst dann kämpfen durften, wenn es mit Vorteil geschehen konnte; es war diess nicht nur in ihrer Lage begründet, sondern auch als Prinzip in ihrem allgemeinen Kriegsplane aufgestellt.

Man hatte, die Überlegenheit der Zahl und des feindlichen Feldherrn würdigend, als Grundsatz anerkannt, dass man den Raum als Bundesgenossen betrachtend, die Entscheidung hinausschieben müsse, um Zeit zu gewinnen, sich selbst zu stärken, den Feind aber zu schwächen, und dass man selbst dann, wenn die beiderseitigen Kräfte ins Gleichgewicht gelangt waren, nur in einer strategisch und taktisch günstigen Lage kämpfen dürfe: denn von der Erhaltung der Armee hänge das Schicksal des Landes ab und ohne volle Wahrscheinlichkeit des Sieges sei daher die Entscheidungsschlacht überhaupt nicht zu wagen.

Wenn man nun konsequent war und die Verhältnisse richtig erwog, musste man sich sagen, dass der Augenblick der Entscheidung noch lange nicht gekommen, der Raum als Bundesgenosse noch lange nicht ausgenützt, dass der Gegner noch immer bedeutend überlegen war und dass bei dieser Überlegenheit und dem Feldherrntalente Napoleons die Entscheidung nur nachteilig ausfallen konnte.

Auf die zweite Bedingung: strategisch und taktisch günstige Verhältnisse, übergehend, müssen wir bemerken, dass dieselben bei Smolensk nicht vorhanden, nicht zu erwarten waren.

Der Mangel an strategisch günstigen Bedingungen resultiert aus den bereits besprochenen Beziehungen der russischen Aufstellung bei Smolensk zu den möglichen Rückzugsrichtungen. Da die Moskauer Straße nämlich, welche zugleich die Etapenstraße der Russen war, bei Solowjewo, östlich von Smolensk, vom rechten auf das linke Dniepr-Ufer überging, so musste ein von Süden her erfolgender Angriff für die Russen eine höchst bedenkliche Situation schaffen, indem dadurch die Gefahr nahe trat, die Kückzugsstraße vom Feinde unterbrochen und mit Macht besetzt zu sehen, in Folge dessen die Verbindung mit Moskau und dem wichtigen Süden zu verlieren und nach Norden gedrängt zu werden, was für die Russen einer Katastrophe gleich kam.

Und das war eine Möglichkeit, mit der gar sehr gerechnet werden musste, da die Aufstellung der Franzosen derart war, dass sie aus ihr ohne großen Zeitverlust jederzeit mit namhafter Kraft südlich des Dniepr vordringen konnten. Diese Verhältnisse bezeichneten die Gegend östlich von Smolensk als den Schlüssel der russischen Aufstellung.

Smolensk war der wichtigste Punkt, wo noch die Sicherheit gewahrt blieb; mit jedem Schritte in westlicher Richtung entfernten sich die Russen immer mehr von der bezeichneten Gegend und stellten zugleich auch die „Sicherheit“ mehr in Frage, ohne damit besondere Aussicht auf entscheidende Erfolge zu erlangen.

Was nun die taktischen Verhältnisse betrifft, so genügt die Betrachtung der beiderseitigen Kraft, um die Ungunst der Umstände darzutun.

Der russische Offensivplan stützte sich auf die Meinung, dass zwischen Düna und Dniepr nur etwa 75.000 Mann Franzosen ständen, dass Davoust noch zwischen Orzsa und Mohilew, das 8. und 5. Corps aber sich noch weiter südlich gegen Mozyr befänden.

Gegen jene 75.000 Mann, welche auf einem Räume von 15 Meilen Breite und 10 Meilen Tiefe zerstreut gedacht waren, glaubte man mit den 120.000 Mann, die man beisammen hatte, auf die feindliche Mitte losgehend, des Sieges gewiss, wie günstiger eigener Rückzugsverhältnisse sicher zu sein, also in jeder Beziehung vorteilhafte Kampfbedinguugen sich schaffen zu können.

Diese Annahme war nun eine irrige, weil sie auf fehlerhafte Voraussetzungen basiert war; denn bekanntlich stand in dem Räume zwischen Düna und Dniepr, mit Ausnahme Poniatowskys, die ganze französische Armee, die nach der Ausdehnung des Raumes in zweimal 24 Stunden in ihrer Gesammtheit konzentriert sein konnte.

Die Russen konnten unter solchen Umständen taktisch günstige Verhältnisse nicht hoffen, da der Gegner namhaft überlegen und rasch zu vereinigen war, was sie ungeachtet ihrer zahlreichen leichten Reiterei nicht wussten. Wäre aber selbst das Kräfteverhältnis für die Russen günstiger gewesen, so müsste von ihnen doch jedenfalls auf die Empfindlichkeit ihres linken Flügels und ihrer Rückzugsverhältnisse ßRücksicht genommen werden.

Wenn nämlich die Russen aufbrachen, um die französischen Cantonnements anzugreifen, so mussten sie jede Richtung vermeiden, die sie vom Dniepr trennen konnte, weil sie sonst von dem zur Fortführung des Krieges wichtigsten Raume abgedrängt werden und trotzdem, nach ihrer Voraussetzung, nur einen partiellen Erfolg über ein einzelnes französisches Corps, nicht aber einen Sieg über den ganzen überlegenen und kriegsgeschulten Gegner zu erlangen hoffen konnten.

Es war daher der Stoß gegen den rechten Flügel, aber nicht gegen das Centrum der Franzosen zu führen.

Jede Bewegung nordwärts war ein Entgegenkommen für die strategische Idee der Franzosen; die Aufstellung Neweroffskojs bei Krasnoj und der eilige Rückmarsch auf Smolensk beweisen, dass die Wichtigkeit der Gegend südlich und östlich von Smolensk von den Russen wohl gefühlt wurde; das Schwanken, die Unsicherheit, die sich in den russischen Bewegungen vom 7. bis 15. August äußert, beweist nicht minder, dass Barclay die Gefahr fühlte, in die er sich, getrieben von patriotischer Verblendung, durch seinen Entschluss begab, ein Entschluss, der zur verderblichen Tat werden konnte, wenn nicht Neweroffskoj auf so treffliche Weise die Franzosen aufgehalten hätte.