Es währte eine Weile, bis Antwort kam

Es währte eine Weile, bis Antwort kam: „Ich möchte, wir hier an der Küste hätten eine gleiche Flotte und könnten uns mal in ehrlichem Kampf auf gleich und gleich mit den Brüdern von drüben messen. Dann sollt’ es sich wohl zeigen, wer der bessere Seemann wäre. Aber wir haben kein einziges Schiff, und sie lassen es auch nie dazu kommen, wenn es sonst möglich wäre. Warum liegen sie hier?“
"Ja, daß wir sicher sein sollen, die Dänen können uns die Ostsee nicht sperren. England schützt die kleinen Völker.“
"O Gott, Jungfer Jungmann, wer hat Ihr das gesagt?“
"Sie sagen es doch in Rostock, und mein Vater, der früher selber in London gewesen ist und die Engländer kennt.-
"Wenn der Euch das erzählt, kennt er die Vettern vom Kanal nicht. Aber gar nicht“
"Mein Vater versteht alles und kennt alles“, klang Dortes Stimme dazwischen. ,,Er kennt die ganze Erde.“
„Na, was weiter“, sagte der blonde Mann. „Ich bin auch schon um die ganze Erde gefahren, und wo ich hinkam, fand ich englische Schiffer und englische Krämer und englisches Geld und schöne englische Worte und verdammt falsche englische Taten. Und die liegen hier jetzt nur, daß wir spüren sollen: sie sind die Herren der See, und wir sollen uns nicht unterstehen zu mucksen und unser Geld und unsere Waren über Kopenhagen zu schicken, wenn doch der Markt in London daran verdienen will.“ Er sah zurück nach den Schiffen, und sein Gesicht war dunkel von Haß. „Wir sind ein elendes Volk hier an der Küste. Es gab eine Zeit, da hatten sich alle unsere Städte zu einem festen Bund zusammengetan und waren so stark, daß sie dem englischen König Krieg ansagten und die Themse hinausfuhren und ihn nach ihrem Willen zwangen.“ Er schlug mit dem Fuß auf die Bootsplanken. „Das könnten wir auch noch, wenn wir einig wären.“
„Wer sollte einig sein?“
„Alle Völker, die die englische Faust im Nacken spüren.“
„Aber Ihr seid der erste, der so etwas redet.“
"Weil ich draußen war und offene Angen hatte und auf ihren eigenen Schiffen fuhr uud ihre eigene Sprache spreche und verstand, was sie sich erzählen, wenn sie prahlen in ihrer Betrunkenheit.“
"Was ein Betrunkener spricht, das acht’ man nicht!“
"Wenn sie trinken, dann kommt zum Vorschein, was sie sonst aus Klugheit noch etwa verbergen. Sie sagen, sie sind das erste Volk der Welt, und wir andern sind ihre Knechte.“
Maria schwieg und starrte vor sich hin. Aus den Worten des jungen Kapitäns schlug eine fanatische Glut zu ihr hinüber. Was waren ihr bisher solche Fragen gewesen? Der Vater saß zwischen seinen Schätzen und lehrte sie in allen Dingen die Schönheit suchen und als höchsten Reiz der Schönheit die Harmonie, den Goldenen Schnitt, der in wenigen Linien das vollkommene Verhältnis der Dinge bildet. Er übertrug diesen Goldenen Schnitt auch auf das Leben, und wo Menschen und Schicksal verwirrend und verzerrend dazwischentraten, zog er sich zurück und verschloß seine Augen, seine Ohren und sein Haus vor ihnen.

Und im Kreise der Rostocker Jugend hatte das junge Ding gelacht und getanzt, mit den Studenten gescherzt und geliebelt, versteht sich in allen Ehren, aber Kampf und Streit der großen Welt lagen weit von ihren Wegen. Und die Tante Friede, ach, die gute Tante Friede! Die lebte ihrer Seele und der Aussicht, einmal aus dem Hause des reichen Vetters in ein bescheidenes Stübchen im Heiligengeistkloster überzusiedeln, in dem alte Rostockerinnen seit der Reformation einen beschaulichen Lebensabend fanden. Wenn sie auf Erden vorher noch etwas zu tun hatte, so war es, die Sache zwischen ihrer Nichte Maria und dem Magister Panthenius zu einem günstigen Ende zu führen.


Seit zwei Jahren ging der Magister, der eine geduldige Natur hatte, um das Mädchen, und es war endlich Aussicht, daß dies sich seinen Werbungen nicht länger abhold zeigen würde. Und nun kam eine Fahrt in einem Segelboot und ein junger Seemann, derbe, untersetzt, mit kräftigen Zügen, die eine blonde Schifferkrause umgab, und der stand im Gegensatz zu allem, was daheim in Rostock gelebt und gelehrt wurde.

Doch zugleich regte sich in Maria das elterliche Blut, das immer nach See und Sturm gelechzt hatte, wurde zum Verbündeten des Mannes und lachte ihn aus den hellen Augen an: Wir zwei, du und ich -was? Wir sind von einer Art!

Der Wind ging herum. Am Himmel bildeten sich lange, durchsichtige Federwolken, und es kam ein tiefes Grollen durch die Flut. Die Sonne sank hinter Dünste, das grünklare Wasser färbte sich blauschwarz, Schaumkronen sprühten auf.

"Mir wird sehr schlechte, murmelte Dorte.
Es tat ihr so leid, daß sie das sagen mußte, sie hätte der Schwester noch stundenlanges Fahren gegönnt, aber die Umwandlung ihres inneren Menschen ließ sich nicht länger verbergen.

"Schlecht? Bei der Handvoll Wind? Du wirst nie auf die See passen, Dorte.
"Nein, das werde ich wohl nicht. Da mußte sie sich über den Schiffsrand beugen und kapitulieren.

Mack Düvel wendete. Aber nun wurde es erst schlimm, als die Wogen aus der anderen Richtung kamen, und das Kind lag ganz apathisch und leise stöhnend im Boot, den Kopf im Schoß der Schwester bergend.

Alle Jollen waren auf der Heimfahrt, als das Wetter so plötzlich heraufkam, es leuchtete überall von wehenden Segeln, und an der Einfahrt des Stromes entstand ein vielgestaltiges munteres Leben.

Die kleine ,,Seejungfer“ flog allen vorauf und überholte, was vor ihr war. Sie lag schon am Steg, als noch kein zweites Boot die Einfahrt gewonnen hatte. Dorte besann sich, als sie festen Boden unter den Füßen spürte. Freilich, auch der feste Boden hatte noch eine merkwürdige Neigung zum Schwanken, und unwillkürlich faßte das Kind nach dem Arm der Schwester.

Die bot dem Kapitän eben die Hand zum Abschied.
„Sollt schönen Dank haben. Das war ‘ne feine Fahrt. Ich wollt’, wir könnten sie noch einmal machen.“
„Und wenn der Magister schilt?“
„Was geht mich der Magister an? Der ist eine Landratte, ich bin ein Wasservogel.“
Mack Düvel sah ihr tief in die Augen. „Dies war nichts. Ich möcht’ Euch auch mal bei Sturm an Bord haben, ob Ihr da noch lacht.“
"Lachen und jubeln tät’ ich.“
„Und wenn die Fahrt Tage währte? Und wenn sie ein ganzes Leben lang währte, Jungfer Jungmann?“
„Da müßt’ ich mir den Kapitän doch erst ein bißchen genauer ansehen.“ Sie nickte und ging mit der Schwester zu Peter Jungmanns Fischerhäuschen.

Das lag nicht weit vom Auslauf des Stromes und sah weithin über Land und See. Niedrig und schmal, mit zwei Fenstern neben der Haustür und einem spitzen Giebel, hatte es das gleiche Gesicht wie all seine Schwestern im Ort. Drinnen hinter der Haustür der Flur, daneben die Vorstube, nach hinten die kleine Küche, die Hinterstube und eine Kammer, das war alles. Oben der Boden mit einem Kämmerchen im Giebel. Es roch nach Seetang und Fisch, denn an der Wand des Flurs hingen immer Netze, und allerlei Gerät stand in den Ecken.

Dorte liebte das Haus nicht. Es war ihr zu eng, zu dämmrig, zu armeleutemäßig. Nur einen Platz drinnen in der Vorstube hatte sie gern, den Eckschrank aus altem Erlenholz, mit den Borden hinter Glassenstern, in dem Peter Jungmann allerlei Mitbringsel seiner Weltreisen be-wahrte. Schöne grüne, innen perlmutterbezogene Muscheln, chinesische Tassen, aus denen noch nie ein Mensch getrunken hatte, zwei seidene Tücher aus Japan mit goldgestickten Blüten, und so mehr. Mit richtigem Gefühl hatte sie aus dem Mancherlei herausgefunden, was schön und wertvoll war, und Großmutter Jungmann schwer gekränkt, als sie zwei dicke Tassen mit Aufschriften: ,,Dem Großvater“ und ,,Der Großmutter“, die von der goldenen Hochzeit der Alten stammten, für scheußlich erklärte.

Heute hatte sie keine Lust, den Schrank zu durchschnükkern. Noch immer sang es so seltsam in den Beinen, und der Kopf war schwer, der innere Mensch aber schrecklich leer und schlaff. Sie war froh, als Thomas Lembke, der die Töchter des Freundes erspäht hatte, fragen ließ, ob die Jungfern mit ihm heimfahren wollten, er habe einen Wagen in Lütten-Klein.

Maria lehnte ab. Sie wollte die nächsten zwei Tage bei den Großeltern bleiben. Dorte griff mit beiden Händen zu. Rostock mit seinen sicheren Straßen, in denen es nicht nach Fischen roch und wo der Sand nicht in Wolken flog, Rostock mit seinen hohen, stolzen Häusern und dem eigenen reichen Vaterhaus winkte nach dieser schrecklichen Seefahrt wie ein Paradies.

Es dämmerte bereits, als Herr Thomas Lembke seinen Schützling daheim vom Wagen hob.

Oben im großen Saal, der die ganze Breite des Hauses einnahm, war helles Licht. Dorte, nun wieder ganz munter, sah empor und sagte: ,,Da muß Besuch sein beim Vater. Die großen Armleuchter brennen. Kommt Ihr nicht mit hinauf, Ohm Lembke?“
„Hab’ noch zu arbeiten, Kind, grüß’ den Vater.“

So stieg sie allein die Stiegen empor.
Stimmen kamen ihr entgegen, lebhafte Männerstimmen. Der Vater sprach, so heiter und angeregt wie selten, und dann antwortete eine andere Stimme, die hatte solchen Wohllaut, daß Dorte vor der Tür den Schritt anhielt und lauschte. Wie Musik klang die Stimme, wie der Ton einer ganz weichen alten Geige. Gerade als sie öffnete, hörte sie die Worte: ,,Recht haben Sie, Ohm, Harmonie ist das erste und Schönheit ist die natürliche Tochter dieser göttlichen Mutter.“

Am Tisch saßen die zwei Männer. Vor ihnen noch die Reste des Abendessens, dazwischen in geschliffenen Gläsern goldener Rheinwein.

,,Da kommt das Kind,“ sagte von der Mauer, „sieh sie dir an, Neffe, das ist mein Adlatus, kann dich in allen Dingen meiner Sammlungen fast besser unterweisen als ich selber.“

Dorte wurde verlegen, doch die ausgestreckte Hand des Vaters zog sie heran und in das helle Licht der Kerzen. Sie sah dem Fremden gerade in das Antlitz. Es war wie die Stimme. Dunkles Haar um ein so regelmäßig geschnittenes Gesicht, wie antike Gemmen es zeigen. Oder als hätte ein Meister mit dem feinsten Grabstichel diesen Kopf in goldener Bronze geschnitten. Ein Antinouskopf, edel und schön, nur vielleicht, wie solcher Kopf, um eine Linie zu weich für einen Mann.

„Das ist dein Vetter, der Manfred Hagedorn, der mir so manchen freundlichen Brief zum Geburtstag geschrieben hat. Weißt es nicht?“

„Doch!“ Sie nickte.
„Der ist aus Braunschweig mit der Post heraufgekommen, hier in der Universität beim Professor Heinmöller ein Semester zu hospitieren. Will über die Hohenstaufen hören. Was meinst du, Dorothea, wollen wir ihm gut Freund sein so lange?“

Über Dörtes Züge ging ein Lächeln. Es wäre nicht schwer, dem neuen Vetter Freund zu sein, sagte ihr Gesicht.

Hagedorns Augen übergingen das Kind vom Scheitel bis zu den Zehen. Unscheinbar, registrierten sie. Zu schmal, zu blaß, zu schüchtern. Nur das Haar in den dicken, goldbraunen Locken hatte Reiz. Und überhaupt - - eben noch ganz Kind.

Und doch nicht so ganz Kind.

Denn in dieser Nacht träumte Dorte, die immer viel tränmte, sie höre den Kantor Siebenmüller aus seiner Geige spielen, wie er am Abend ost drüben über der Straße spielte. Die Geige hatte aber Menschenstimme und sang ein altes Lied, und die Melodie lockte Dorte, daß sie aus die Fensterbank stieg und von dort hinausflog, fchwebte, glitt, ja, man wnßte nicht, wie man es nennen sollte, bis sie drüben im Zimmer des Kantors stand. Das Zimmer war aber verändert, mehr ein Saal, nein, auch wieder nicht ein Saal, ein Garten zwischen Glasmauern, und mitten im Garten stand Manfred Hagedorn, sah ihr freundlich entgegen und fragte: ,,Wollen wir zusammen Rosen pflücken gehen, kleine Base?“

Bei den Worten empfand sie im Traum ein solches Glück, daß ihr das Herz förmlich weh tat. Sie schloß für einen Augenblick die Lider, und dann - - der Traum mußte so jäh abgerissen sein, wie er begonnen hatte, denn an Weiteres konnte sie sich den nächsten Morgen nicht erinnern.

Nur das wunderliche Gefühl von Glück und Schmerz war immer noch da im Herzen, und als der Vetter mittags die Treppe herauskam, um auf Einladung des Oheims mit ihnen zu speisen, spürte Dorte helle Freude.

Von da an bis zu Ostern des nächsten Jahres war Hagedorn häufiger Gast im Haus am Schilde. Aber Dorte beachtete er wenig.

Es gab auch in diesen Monaten Unruhe genug in der sonst so stillen Wohnung.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stranddistel. Roman