In dieser Nacht gab es viel Unruhe in Warnemünde

Peter Jungmann kam in die Tür. Sein altes, zerfurchtes Gesicht war blaß und sorgenvoll.
„Nu sünd’s all in Rostock, Mieken!“
„De Franzosen, Großvadder?“
„Jo, Diern. Swarz is eben taurüggkamen, hei hedd all weck in de Kröplinerstrat drapen, und bi Witt is en Paster ut Gadebusch west, de hett vertellt, dar wieren’s all acht Dag.“
„Denn kamen’s ok na Warmünn, Großvadder.“
„Dat don’s sacht, min Diern. Denn liggt de Franzos binnen un de Ingelschmän buten.“
Er setzte sich an den Tisch, nahm den Suppenteller, den die Enkelin ihm anbot, löffelte langsam und bedächtig und fragte nach einer Weile: „Wat makt de Seewulf?“
„Oh, der Jung ist gut zuweg, Großvater. Dem fehlt nichts. Der brüllt und ißt und trinkt, und heut mittag ist er schon allein durch die Stube gelaufen.“

„Mieken, willst nich mit’n Jung na Rostock gahn? Wo keen kann weiten, wo dat hier kümmt.“
„Nach Rostock? Ich mit dem Jung? Und das Haus leerstehen lassen? Und wenn Mack kommt? Nee, Großvater, das tu’ ich nicht.“
„Jo jo, - - wenn Mack kümmt.“ Seine Worte unterstrichen das „wenn“. „Ach, Großvater, laß doch das alte Unken. Mack kommt. Glaubst du denn, das wüßt ich nicht, wenn ihm was zugestoßen wär’? Der ist heil und gesund, da ist mir gar nicht bange davor.“
„Jo, jo. Aber du bist hier so allein, und die Franzosen, dat sünd Kierls.“
„Laß sie nur kommen. Ich werd’ mich schon wehren. Vielleicht ist es aber besser, Dorte führt morgen nach Rostock zurück. Kannst sie nicht runterbringen, Großvadder?“
„Jo, jo. Dat kann ick.“
Dorte sah erstaunt auf die Schwester. „Was soll mir denn geschehen, wenn hier wirklich Franzosen einrücken? Vater hat doch früher so oft in Paris gelebt, er sagt, die Franzosen sind gegen die Frauen so ritterlich, sind die vornehmste Nation, die er kennt, ich möchte ganz gern Franzosen kennenlernen.“
„Du harmloses Küken. Na, dann bleib hier. Aber besser tätest du, du gingest zu Vater.“
„Laß mich nur. Ich spreche doch auch Französisch, und wenn wirklich welche kommen, kann ich vielleicht Dolmetscher spielen.“


Der Seewolf begann zu murren in seiner Wiege, Micken ging zu ihm, Peter Jungmann wanderte heim, und Dorte räumte die Teller ab.

„Wo nur Liese bleibt!“ kam Mieken wieder aus der Kammex. „Seit ‘ner Stunde ist sie weg. Wasch nicht die Schüsseln ab, Dorte, sie soll ihre Arbeit machen.“

Die Tür klang, ein Fischschen sah in das Zimmer. Fischer Susemihls Älteste, die bei Mieken Magd war. Um ein Gesicht mit blütenzarten Farben legten sich dicke, glatte, rostrote Scheitel. Die Veilchenaugen hatten einen sanften Blick, und die Züge, so unregelmäßig sie waren, hatten nichts von der Lebhaftigkeit, die den Rothaarigen eigen ist. Leise ging das Mädchen durch die Stube zur Küche, trug das Geschirr hinans und reinigte es. Als Mieken ihr folgte, sagte sie halblaut: „In Dietrichshagen sind all Franzosen. Ein Leutnant und zwanzig Mann. Sie haben bei meinem Onkel Susemihl Hühner totgestochen, und Tante mußt sie braten. Und denn haben sie Wein haben wollen und Bier, und Onkel - wo soll der bei Wein und Bier kommen? Tante hat Buttermilch gebracht, die haben sie ins Zimmer gegossen. Der Knecht war eben hier bei Vater, das war ‘ne böse Zucht, sagt er.“

In dieser Nacht gab es viel Unruhe in Warnemünde. Die paar Leute, die einen silbernen Löffel oder harte Taler besaßen, vergruben sie auf dem Hofe oder versteckten ihre Schätze unter dem Mist, und in frühester Morgenstunde schon flammten die Feuer auf dem Herd, und die Bengels trabten den Weg nach Dietrichshagen hin und sahen nach dem Feinde aus. Sie sehnten ihn herbei, denn dafür waren sie Jungen.

Es wurde aber zehn Uhr, ehe das Heranstürmen klappernder Pantoffel verkündete, „es wird Ernste. Zehn Minuten später rückte ein Offizier mit fünfzehn Mann in den Ort, begab sich auf die Vogtei, verlangte für sich und seine Leute Quartier und Essen und „du vin, beaucoup du vin“.

Wein! Wer hatte in dem elenden Dörfchen Wein im Hause? Der Pfarrer hatte den Altarwein, einen sauren Mosel, mehr erlaubten die kirchlichen Einnahmen nicht, Mieken hatte vier Flaschen von ihrem Hochzeitswein im Keller, der sollte warten, bis Mack glücklich heimkam, und sonst gab es nur Schnaps. Nun, die Herren Franzosen waren nachsichtig, sie tranken auch Schnaps. Als sie genug davon hatten, wurden sie laut und lustig, zogen durch die Straßen, sangen, drangen in die Häuser, faßten die Frauen um die Taille, lachten über die wütenden Blicke und drohenden Fäuste der Männer und kamen auch vor Mack Düvels Tür.

Micken hatte das Hans verschlossen. Sie saß oben im Giebel und sah mit einem Fernrohr über die See. Draußen, noch matt und unsicher in den Umrissen, stand ein großer Dreimastschoner am Horizont. Der Nordwind lag in seinen Segeln und trieb ihn der Küste entgegen, geraden Kurs auf Warnemünde. Wer kam jetzt im Dezember noch hafenbinnen?

Miekens Herz stieß gegen die Rippen, ihre Wangen glühten. Und wie eine Minute nach der andern verstrich und die Masten immer deutlicher herauswuchsen und der Bug immer schärfer herübersah über die sich hebenden und senkenden Wogen, da wurde es zur seligen Gewißheit: Draußen auf der See lag die „Luise Bollerjan“, trug den Wimpel keck am Vormast, fuhr so sicher und schnell, wie ein Schiff fährt, das heil und hoffnungsfroh heimkehrt, und sie stieß einen Jauchzer aus, der hallte über den Boden und durch das ganze kleine Haus.

Das Lotsenboot ging aus. Sechs Mann saßen an den Riemen, der siebente am Steuer, sie sahen hinüber nach ihrem Hause. Da riß sie das Dachfensterchen auf und ließ die Schürze flattern: „Nehmt ihm meinen Gruß mit.“

Mit Gewehrkolben knallte man unten gegen die Tür. Liefes Stimme kam angstvoll vom Fuß der Treppe her: „Frau, Frau, sie schlagen die Tür ein!“

Mieken rannte hinab. In ihrem Herzen war solch jubelndes Singen, daß der grobe Gruß draußen nichts dagegen vermochte.

Sie sah nur in die Vorstube, wo Dorte, den kleinen Mack Wolf auf dem Schoße, mit verstörtem Gesicht dem Lärm lauschte, und lachte sie an: „Da hast du deine ritterlichen Franzosen, Kind.“

Dann stieß sie den Riegel zurück und stand - blond, frisch, stolz - im Türrahmen: „Que voulez vous, messieurs?“

Ein Stutzen, man hatte bisher niemand getroffen, der die eigene Sprache verstand. Ein großer Mensch, anscheinend ein Sergeant, trat vor. „Ouartier machen. Es kommen noch ein Hauptmann und hundert Mann, die wollen Quartier haben.“

Mieken ging von der Tür zurück. „Entrez, monsieur,“ dann mit einer Bewegung gegen die zwei Soldaten, deren Gesichter deutlich den übermäßigen Schnapsgenuß verrieten. „Sehen Sie sich das Haus an, die Leute bleiben draußen.“

Ihr Französisch war mangelhaft, sie hatte den Unterricht von Monsieur Lebrun nicht sehr geschätzt. Der Sergeant lachte über die Schnitzer, die sie machte, befahl aber doch seinen Leuten zu warten. Dann ging er in die Vorstube, warf Dorte einen scharfen Blick zu, fand aber die junge Hausfrau anziehender und stieg über den Flur in die Kammer und Küche, auch auf den Boden, untersuchte die Speisekammer, steckte eine dicke Wurst ein: „Fourage, Madame!“ und landete in der Vorstube.

An der Wand neben dem grünen Kachelofen hing Mack Düvels Pfeife, ein schönes Erbstück aus schwarzem Ebenholz mit geschnitztem Meerschaumkopf. Der Franzose schien Kenner, denn als sein Blick auf das seltene Stück siel, stieß er ein bewunderndes „Ha!“ aus, nahm es von der Wand, besah es von allen Seiten, und mit schnellem Entschluß griff er nach dem Tabakkasten auf dem Eckbördchen, stopfte die Pfeife, hielt einen Span in den Ofen und entzündete sie.
„Ce n’est pas de fourage, monsieur“, schalt Mieten, streckte die Hand aus und wollte ihm das Beutestück fortnehmen.

Der Mann lachte, faßte sie um die Taille mit der freien Hand und drückte seinen Schnurrbart auf die blühende Wange. Im gleichen Augenblick klatschte ihm eine Ohrfeige in das Gesicht, so scharf und fest hineingesetzt, daß er seine weibliche Beute erschrocken fahren ließ. „Du infamer Lump!“ schrie Mieken.
Der Franzose wich zurück, sah sie zornig an, war aber anständig genug, von weiteren Zudringlichkeiten abzustehen. Doch die Pfeife nahm er mit.

„Na laß ihn“, sagte Mieken. „Mack selber kommt ein, da mag die Pfeife vom Düvel zum Deubel gehen. Dorte schließ hinter mir zu, ich renn’ aufs Spill.“ Hinaus war sie, ohne Tuch und Jacke, sauste bis an die letzte Ecke der Vorderreihe, wo die See sich mit dem Strom einte, ließ den scharfen Blasius um ihre Stirn pfeifen und strahlte dem einkommenden Schiff entgegen. Der Großvater hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz seiner Dreiundsiebzig noch selber mit hinauszugehen, den Enkel hafenbinnen zu führen. Nun stand der alte Mann am Steuer und leitete das Schiff. Mack aber, in diesem Augenblick ohne Bedeutung, denn wenn der Lotse das Kommando hat, muß der Kapitän schweigen, sah aus nach seinem jungen Glück, riß die Mütze vom Kopf und schwenkte sie Mieken entgegen.

Doch während sie, vom Kopf bis zu den Zehen bebend vor Freude, an nichts dachte als an die endliche Heimkehr des geliebten Mannes, war sein Gesicht dunkel, seine Lippen preßten sich zusammen, Mieken sah, der Großvater hatte berichtet von Heimatdorf und Heimatland, und es waren böse Berichte.

Zehn Minuten später hielt er sie in den Armen, und wie er sie an sich preßte, sagte er mit heiserer Stimme: „Sie haben mich gejagt, Mieken, wie sie euch hier jetzt jagen, aber mich haben sie nicht gekriegt, und - - es kommt auch mal wieder anders.“
Eh sie in das Haus traten, fragte er: „Sind da welche drin?“
„Nein, Mack. Aber sie waren da, frech und diebisch.“
„Frech? Gegen dich?“
„Ich kann mich wehren du. Der kommt mir nicht zum zweitenmal.“

Die „Luise Bollerjan“ hatte nicht langen Aufenthalt in Warnemünde. Zwei Stunden später, mit einsetzender Flut, glitt sie nach Rostock hinunter und legte bei der Koßfelderbrücke an. Da lag sie den Winter über und war für Wochen das Ziel der Rostocker Schiffer und der Rostocker Jungen. Vier Wochen hatte sie sich auf der Ostsee herumgetrieben, immer gejagt von dänischen Kapern, die mit den Franzosen gemeinsame Sache machten und alle deutschen Handelsschiffe aufbrachten, deren sie habhaft werden konnten. Zuletzt hatte sie Kurs auf Danzig genommen und war im dortigen Hafen vor Anker gegangen, bis die Luft rein war.

„Hätt’ ich nur Geschütze an Bord gehabte sagte Düvel. „Aber nichts wie die Signalkanone, das ist zu wenig. Zum zweitenmal spiel ich den Hasen nicht. Wenn ich im Frühling wieder rausgeh’, muß die ’Luise Bollerjan‘ ein wehrhaftes Frauenzimmer sein.“

Warnemünde lag den Winter über voll Franzosen, und in Mack Düvels Hause verlangte der zärtliche Sergeant das Vorzimmer für sich. Kurz entschlossen zogen die Eheleute mit dem Seewolf hinauf nach Rostock, überließen das Häuschen dem Feinde, wohnten im Winter beim Vater und begannen, sobald der Boden frostfrei war, mit dem Bau eines größeren Hauses.
„Daß man doch in seinen eigenen vier Wänden vor der Bande sicher ist.“

Das Haus, ganz vorn an der Schanze gelegen, mitten im scharf anwehenden Winde, bekam tiefe Steinmauern, daß die brüllende Sturmflut sie nicht unterwaschen kannte, und wurde als Doppelhaus gebaut, mit Zimmern rechts und links vom Flur, dazu einem langen Gang hinter dem Vorderhause, am Hof entlang, mit Kammern an dem Gang und einem dreizimmerigen Hinterhäuschen, das sich von der Mauer ausbedungen hatte, für den Fall, daß er einmal längeren Aufenthalt bei den Kindern nehmen wollte. Man hatte außer der Vogtei und dem Pfarrhause solch großes Haus nicht im Ort.

Erst im Herbst des nächsten Jahres war es fertig, als die "Luise Bollerjan“ statt in Warnemünde in Reval vor Anker ging und ihr Führer auf langen, mühseligen Landreisen heimkehren mußte, denn die schlanke Luise hatte englische Waren geladen, und die Kontinentalsperre erlaubte keine Einfahrt in einen deutschen Hafen.

In Warnemünde lagen nach wie vor französische Truppen, auch einmal holländische oder badische, aber im Beutemachen, wenn es sich um einlaufende Schiffe handelte, waren sie alle gleich.

Im Mai 1808 lebte die Schiffahrt ein bißchen wieder auf, und während draußen die Engländer lagen und jedes Schiff zu kapern suchten, das auslief, und drinnen die Franzosen warteten auf die, die einkamen, ging mehr als ein Rostocker Seebär bei Nacht und Nebel aus der Warnow und trieb sein Handwerk auf den salzigen Wogen.

Es wurde harte Zeit. So groß war den Winter über die Not im Fischerdorf, daß die Leute verhungert und verfroren auf den umliegenden Dörfern ihr bißchen Lebensbedarf zusammenbetteln mußten.

In ihren Stuben und Küchen saßen die Feinde, riefen nach Essen, schlugen Lärm, wenn es nicht war, wie sie es verlangten, und als bei Schiffer Hagedorn die Frau in ihrem gerechten Zorn den einen anschrie: „Ihr Höllenhunde, euch hat der Deubel geschaffen!“ lachten sie nur, gingen lachend in ihre Kammer, schleppten die Betten auf die Straße und rissen sie lachend mit den Säbeln auseinander. Die Federn flogen wie ein Schneegestöber, die Fxau jammerte, die Soldaten freuten sich, und Fischer Kruse, der vorüberkam und das sah, schlug dem einen eine gehörige Backpfeife. Da fielen sie über ihn her, prügelten ihn, bis ihm das Blut übers Gesicht lief, und wollten ihn noch auf die Wache schleppen. Er konnte sich aber kurz vorher losreißen und in der einsetzenden Dunkelheit davonmachen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stranddistel. Roman
Auf der Warnemünder Mole

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