Er sprach, ohne zu überlegen

"Siehst du die süße Gottesmutter, mein Kind? Wie sie das Köpfchen beugt? Wie sie auf das Jesusknäblein niedersieht? Sieh nur die Hand, die die Rose hält, diese schmale Hand mit den schlanken Fingern. Solche Hand hatte deine liebe Mutter, solche Hand haben die Frauen, die reine Seelen haben. Der alte Meister, der das Bildchen schuf, wußte, warum er der Gottesmutter diese zarte Hand gab. Und siehst du die Schatten unter den Augen? Die sehen aus, als hätten die Augen heimlich geweint. Aber damals kannte die Mutter Maria nur Freudentränen, und Freudentränen lassen keine Schatten zurück. Wenn sie doch da sind, sollen sie hindeuten auf die Tränen, die einmal fließen werden, erst in Jahren, aber dann so bitter, wie Muttertränen nur sein können. Es war ein kluger Mann, der das Bildchen malte. Sein Name ist unbekannt, man sagt, er müsse ein Zeitgenosse Raffaels gewesen sein - ja, was sagt mir das? Und wenn da ein Name stände, was gäbe uns der Name? In dem Bilde lebt seine Seele, Name ist leerer Schall.“

Er sprach, ohne zu überlegen, ob das Kind seinen Worten folgen könnte, er redete eigentlich zu sich selber, aber Dorothea war bei solchen Reden ähnlich zu Sinn wie in der Kirche, wenn die Orgel sang und die Menschen leise durch die Gänge schritten.


Je älter sie wurde, je mehr verfiel ihr Seelchen dem Einfluß des Vaters. Als sie eingesegnet werden sollte, war er ein Mann von über sechzig, noch groß und aufrecht, mit einem feinen Gesicht und gütig-klugen Augen, aber doch ein alter Mann.

Bis dahin hatte der Einfluß der lebhafteren älteren Schwester sie davon abgehalten, zu sehr in einer abgewandten Welt zu leben, doch in jenem Jahr kam Mack Düvel in das Haus und holte sich die blonde Maria.

Mack Düvel war ein Warnemünder Kind, sein Vater hatte als Vogt in dem alten Vogteigebäude gesessen, das schon im Dreißigjährigen Krieg, als die Wallensteiner an der Warnow lagen, seinen hohen Seitengiebel gegen den Seesturm stemmte. Er war mit Salzwasser getauft, und der Sturm hatte ihm die Knochen durchweht, die Flut hatte ihn geschaukelt, der fliegende Salzschaum sein Gesicht genetzt und die brennende Sonne es dann rotbraun gebeizt.

Mit zehn Jahren tat ihn der Vater auf die alte Rostocker Stadtschule. Da lernte er fünf Jahre lang, was ihm gefiel; ihm gefiel aber nicht sehr viel, und dann rannte er aus der Schule und auf einen Engländer, der gerade nach Malta in See stach. Er kam aus einer gnädigen Schule in eine bitterböse, denn er war auf einen richtigen Seelenverkäufer geraten, und ehe sie durch den Kanal kreuzten, war sein ganzer Rücken braun und blau vom Tauende. Ja, na, das mußte durchgemacht werden. Schlimmer als die lateinische Grammatik war das Tauende schließlich auch nicht.

Drei Jahre trieb er sich in allen Meeren der Erde umher, ehe er als Leichtmatrose wieder heimkehrte. Dann kamen die zwei Jahre auf der Steuermannsschule, und als er wieder hinausging, fuhr er auf einem großen Rostocker Dreimaster als Zweiter Steuermann nach Valparaiso.

Seitdem war er Schritt für Schritt vorwärtsgekommen, denn er war die geborene Wasserratte, mußte Schiffsplanken unter den Füßen und Seewind um die Nase haben, und da er nicht trank, wenigstens nicht mehr, als einem ordentlichen Seemann zukommt, und sich nicht raufte, wenigstens nicht ohne Not, und die Weiber in den Häfen nicht Herr über sich werden ließ, wenn er auch einem netten Kinde nicht gerade aus dem Wege ging, so brachte er es mit siebenundzwanzig Jahren zum Kapitän und fuhr jetzt die ,,Luise Bollerjan“ von Rostock nach Malmö und Trondhjem und ähnlichen schönen Gegenden.

Im Mai 1803 lag er mit seiner Brigg in Rostock, saß aber meist, da das Schiff aufkalfatert werden mußte, in Warnemünde in der Vogtei.

Sein eigenes Segelboot lag im Strom, und die alten Lotsen hatten ihren Spaß an dem ,,verfluchten Bengel“, wenn das kleine Ding, viel zierlicher als ihre schweren Fischerjollen, bei allem Wind und Wetter hinausflitzte in die See.

Es war damals viel Leben unten im Fischerdörfchen. Die Rostocker kamen zu Schiff, zu Fuß, zu Wagen herunter, denn auf der Reede lag die engelländische Flotte, und auf ihrem Linienschiff, dem „St. George“, saß kein Geringerer als der große Nelson selber, der Sieger von Abukir. Wer hatte je in der Ostsee solche Ungeheuer gesehen? Wenn sie ihre Kanonen, deren Mündungen aus den Stückpforten schauten, gegen das Örtchen am Strande gerichtet und einmal ausgespien hätten, so wäre von den Fischerhäuschen kein Stein auf dem andern geblieben.

Mack Düvel konnte ganze Tage draußen liegen, ein scharfes Fernrohr bei sich im Boot, und die Seelöwen von allen Seiten umfahren. Er war mehr als einmal an Bord des einen oder andern Schiffes, immer freundlich anfgenommen, denn der englische Leu, der eben die Dänen empfindlich auf die Hühneraugen getreten, als er sich die Durchfahrt durch den Sund mit Gewalt erzwungen, zeigte den deutschen Küsten ein liebenswürdiges Gesicht. Mack Düvel sprach Englisch wie seine Muttersprache, er schwatzte mit den Matrosen und guckte in alle Sachen hinein. Er trank mit ihnen aus der Brandyflasche und schrie mit ihnen „Hepp, hepp, hurra!“, wenn sie ihren König leben ließen. Daß er alles Englische haßte wie die Pest, seit ihm die englischen Tauenden den Rücken gezeichnet, das erzählt er ihnen nicht. So saß er eines Vormittags am Strom und sah über Land und See. Da kam ein Boot die Warnow herunter, und als die Warnemünder Fischerfrauen, die ihre Schollen und Schellfische zur Stadt auf den Markt gebracht hatten, herausgeklettert waren, turnte hinter ihnen ein junges Mädchen an Land, das Mack veranlaßte, seine Blicke mehr auf die Nähe zu beschränken.

Eine Jungfer zum anbeißen Adrett und nett, im rosa Kleidchen und weißen Schutenhut. Mack spielte den Galanten und bot ihr die Hand bei ihrer Kletterpartie an der Brücke. Der Strom stand tief, und sie mußte springen, um hinauszugelangen.

Hinter ihr stieg noch ein Kind aus dem Boot, ein schlankes, aber schmales und etwas blasses Ding, das Mack weiter nicht beachtete.

"Danke, der Herr“, sagte die Blonde. Ihr Blick ging musternd über ihn hin, dann ein leichtes Lachen: "Ach, der Mack Düvel!“
"Kennt die Jungfer mich?“
Ein paar lustige Augen strahlten ihn an. "Es war mal ein Bube, der bekam von seinem Vater eine Backpfeife, weil er einem kleinen Mädchen eine gegeben, weil das kleine Mädchen ihn mit einem toten Fisch geworfen.“
"Tot! Faul war er, stinken tat er!“ Dann, die Hand der Blonden noch einmal fassend: "Na, denn wollen wir mal zu Peter Jungmann gehen.“

"Wir wollen mit Großvater hinaus und die Engländer besehen.“
"Sie treffen ihn nicht, nur die Großmutter ist zu Hause. Peter Jungmann hat Lotsendienst und bringt grad ’ne dänische Jacht rein.“

Die Blonde machte eine Schnute.
„Aber wenn die Jungfer sich mir anvertrauen will?“
Es blinkerte in ihren Agen. Sie hatte schon von den tollen Fahrten des jungen Kapitäns gehört, und das Verlangen danach zitterte in ihren Adern. Aber die kleine Schwester? Vaters Verzug und Kleinod?
Dorte spürte das zögern der Älteren. „Ach, Mieten, laß uns doch mit dem Kapitän fahren, der bringt uns sicher wieder herein.“
„Und wenn du seekrank wirst?“
„Ich werde nicht seekrank.“
„Es ist ja Landwind,“ sekundierte Düvel, dem plötzlich viel an diesex Fahrt lag, während er sich sonst nie herbeiließ, Rostocker in sein Boot aufzunehmen, „und wenn die kleine Schwester elend wird, da wenden wir.“

Dann ging er, als sei das nun selbstverständlich, voran und führte sie zu seinem Eigentum, und das Kleidchen von rosa Glanzkattun mit den eingestreuten weißen Röschen und das helle Mullfähnchen mit kirschroter Schärpe pendelten ebenfalls am Strome hin, an Peter Jungmanns Häuschen vorüber, und alle drei Gestalten kletterten in das zierliche Boot, dessen Planken in schwarzen Buchstaben den Namen „Seejungfer“ trugen.

„Das Boot ist hübsche sagte Dorte und sah um sich. Sie hatte den Blick für das Ebenmaß und die elegante Form des kleinen Dinges. Ihre Augen waren früh aufgetan für Schönheit. „Aber warum heißt ee. ,Seejungfer’?“
„Na, das mußt du doch sehen. Jst’s nicht ein Jungferchen? Die Jollen da, das sind die dicken Madams, aber dies hier - was? Und weil ich doch eine Wasserratte bin, muß ich schon ein Seejüngferchen haben znm Lieben, kannst du’s verstehen?“

Dorte lächelte nur. Die große Schwester schüttelte sich. „Brr, solch kaltes nasses Frauenzimmer mit einem Fischschwanz. Unser Vater hat ein Bild von einem Seeweiblein, das sie einmal bei Hamburg aus der Elbe gezogen. Das sieht lamentabel aus, hat dürre Arme und fast kein Haar auf dem Scheitel. Und als man es an Land gebracht, ist es unter großem Geseufze allsogleich verschieden. Der Herr Kapitän muß einen modesten Geschmack haben, sich damit zufriedenzugeben.“

Düvel hatte das Boot vom Steg freigemacht, die Segel gestellt, das Steuer in die eine Hand genommen, während die andere die Segelschot hielt, und nun trieben sie den Strom hin, schnell fortgeschoben von dem sanften Südwind, der sie hinausleitete in die offene See.

Wie sie zwischen den Steinkisten hindurch aus dem Strome glitten und die Wogen in sanften, gleichmäßigen Schwellungen unter ihnen dahinzogen, sah er seinen Besuch nachdenklich an.

„Wenn ich die ,Seejungfer’ umtaufen sollte, möchte ich erst die Permission der Jungfer Mieten dazu einholen. Darf ich das Boot künftig ,Jungfer von der Mauer’ nennen?“
„Warum nicht? Wird meinem Schwesterchen eine Ehre sein.“
„Dem Schwesterchen?“
„Ich heiße Maria Jungmann.“
„Aber wo doch der Herr von der Mauer jetzt Vater der Jungfer ist -?“
„Freilich wohl, er ist mein Vater geworden, und ein guter Vater, aber den Namen trage ich nach einem, der sonst vergessen wäre.“
In den scharfen Seemannsaugen blitzte es auf. „Die Jungfer tut recht, daß einer, der im Meere ruht, auch auf dem Lande noch lebt.“ Er spannte das Segel schärfer, das leichte Boot legte sich zur Seite und schoß wie ein Stoßvogel über die Flut.
Dorte stieß einen leisen Angstton aus.

„Bist bange?“ fragte die Schwester. „Bist ein Hase und bleibst ein Hase. Ist doch was Feines, so drüber hinzufliegen. Wie das rankommt, so groß und stark und so frisch und feucht.“ Sie jauchzte auf. Die Wellen draußen in der offenen See gingen in langen Schwingungen, hoben die ,,Seejungfer“ auf den Rücken und ließen sie wie eine Möwe wieder niedergleiten in sanfte, grüne Tiefen. „Ach, wenn es doch einmal so recht ordentlich wettern und stürmen möchte, so daß man immer glaubt, nun reißt es einen hinunter, und nun - und nun -, und immer wieder müssen die Wellen sich ducken, und man steigt über sie hinaus und fliegt über sie hin, und ist doch Herr, doch Herr.“

Sie nahm den Hut vom Kopf und ließ den Wind in dem Blondhaar wühlen.
„Soll ich euch einmal mit hinausnehmen auf See, wenn der Nordwest über das Wasser fegt? Wenn es richtig dröhnt und donnert?“
„Ach ja, ach ja! Aber das tut Ihr ja nicht.“
„Tu’ ich nicht? Warum nicht?“
„Großvater Jungmann sagt, Weiber an Bord bringen Unglück bei Sturm.“
„Laß ihn krächzen. Ich wollt’ es schon drauf wagen.“
Da sagte Dörte, die ein bißchen blaß um die Nase herum wurde, aber sich mühte, nichts merken zu lassen: „Der Vater würd’ es nicht gern sehen und der Herr Magister auch nicht.“
„Was geht mich der Magister an? Soll er sich begraben lassen, wenn ihm das nicht paßt.“
Die Kleine duckte sich hei den derben Worten der Schwester. Mack Düvel lachte hellauf. Er ahnte einen Konflikt, in den einzugreifen ihn reizte.

Vor ihm wuchsen die englischen Schlachtschiffe empor, riesige Berge mit himmelhohen Masten und gewaltigen Ausbauten. Wie flinke Delphine um den Walfisch tummelten sich die Warnemünder Jollen dazwischen, und auf den niederhängenden Strickleitern turnten Männlein und Weiblein unter Geschrei und Gelächter hinauf und hinab. Auch Mack Düvel legte an, ließ sich von einem Matrosen ein Tau zuwerfen, das Boot zu befestigen, und klomm mit seinen Damen empor.

Das Deck wimmelte von Besuchern, von Soldaten, Offizieren, Matrosen. Sie waren aus der ,,Stadt London“, der Behausung des Vizeadmirals Graefe, und Düvel, der schon zweimal an Bord gewesen war, drückte dem begleitenden Matrosen einen Schilling in die Hand, ihn damit von sich schiebend. Dann ging er mit den Mädchen treppauf, treppab, sah in alle Kojen, untersuchte die Geschütze, spürte zwischen Lunten und Pulversäcken, und wenn er von einem Offizier scharf angerufen wurde, grinste er: „Well, all right. Ji verflixten Beeffreter, ji künnt mi alltausam den Puckel rünnerrutschen.“
„Seid Ihr verrückt? Sie werfen uns über Bord.“
„Nimm di nix vör, denn sleiht di nix fehl, dat ‘s en oll gaud Würd, Jungfer Jungmann. De Kirls verstahn mi nich, und wenn’s wat hüren, dann denken’s: Dat ‘s en Dutschman (Holländer), und de Sprak kennen’s nich, dor geben’s sick gor kein Mäuh.“
Dorte wurde ängstlich, Maria lachte. „Das sind nicht Eure Freunde?“
„Min Frünn? Nee. De hebben ehr Poten in jeden Pot, de will’n allens allein upfreten.“ Er nickte und kletterte von Bord. „Dschüs ok, oll Fründ. Künn ick man so, as ick mücht -“
Sie saßen schon wieder im Book und glitten welleauf, welleab, da fragte Maria: „Und was möchtet Ihr?“



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stranddistel. Roman