Einsamkeit macht stark, Blumen blühten nicht viel in ihren Gärten, Friedrich Franz von der Mauer stieg aus seiner Jolle

Einsamkeit macht stark, und sie wurden stark dabei, festwurzelnd in sich selber.

Blumen blühten nicht viel in ihren Gärten; nur die Stranddistel und der Ginster standen zwischen den Dünen und, wo sich ein bißchen fester Boden gebildet, auch Glockenblumen und kleine Stiefmütterchen.


Friedrich Franz von der Mauer stieg aus seiner Jolle, ein bißchen steif vom langen Sitzen auf der harten Ruderbank, und ging dem Strande zu. Da stand sie auf der Düne. Seine Stranddistel.

Es war aber keine Distel, es war ein junges Weib, schlank, feingliedrig, mit sehnsüchtigen Grauaugen hinter langen Wimpern, einem feinen bräunlichen Gesicht und dunklen Haaren.

Die grobe Tracht des Fischerdorfes konnte den schlanken Wuchs nicht verbergen, und wie sie sich jetzt wandte und ihre Augen ruhig und musternd, aber ohne Zudringlichkeit über den Fremden hingehen ließ, zog der unwillkürlich den Hut.

Ob es da nicht Disteln gäbe? Nicht die gewöhnlichen, sondern die großen, die nur vereinzelt einmal im Sande aufwachsen?

„Disteln?“ Was für ein wunderlicher Mann, der dem Unkraut nachfragte. Aber die da in der Stadt waren ja alle ein bißchen komisch im Kopf Warum sollte sie ihn nicht hinführen, wo die einsamen Blüten standen!

Dabei redeten sie zusammen, doch die Frau gab nur kurze Antworten, und es war, als schäme sie sich vor dem feinen Herrn ihres heimatlichen Platts, obgleich er, als Rostocker Kind daran gewöhnt, selber kein hochdeutsches Wort brauchte.

Er erfuhr aber doch, daß sie keine Warnemünderin von Geburt sei, sondern eine Bauerntochter aus Elmenhorst, eine Stunde landein, daß ihr Mann Steuermann gewesen und vor drei Jahren im Kanal bei Nebel und Sturm mit dem Schiff untergegangen sei. Und seitdem lebe sie bei den Schwiegereltern, beim alten Peter Jungmann.

Ach was, das wäre der Schwiegervater? Mit dem sei er ja eben den Strom hinabgekommen.

Von der Mauer sammelte ein halbes Dutzend Disteln und band sie zusammen zum Bündel, dann nahm er Abschied, dabei sagte er: "Na, ick kam bald eins wedder her na Warmünn.“
"Dat don Sei man“, antwortete die junge Frau und ging ihres Weges zum Ort zurück, während er sich in Dietrichshagen Gelegenheit zum Heimfahren suchte.

Von der Stunde an war ihm ein Funke in das Blut gefallen.

Er hatte in Paris und London, in Wien und Neapel gelebt. Er kannte die Liebesaffären in den großen Städten so gut wie in den einsamen Herbergen an selten befahrener Straße, und doch dachte er nicht einen Augenblick daran, dies hübsche Geschöpf zu seiner Haushälterin zu machen.

So etwas gab es nicht in Warnemünde.
Aus der winzigen Scholle, in den engen Häusern lebte jeder sein Leben unter den beobachtenden Augen der Nebenmenschen, und Sittenlosigkeit war unerhört.

Was die Männer draußen tun mochten in den fremden Häfen auf ihren oft jahrelangen Fahrten, das war ihre Sache, das erfuhr man nicht. Solange sie daheim waren, hatten sie streng nach Sitte und Ordnung zu leben. Einer paßte auf den andern.

Die Bräute trugen ausnahmslos die goldene Flitterkrone, das Zeichen ihrer Mädchenschaft, und nur eine dunkle Sage aus alten Zeiten, von Generation zu Generation überliefert, wußte davon zu berichten, wie ein Mädchen, das sich vergessen, vor der ganzen Gemeinde vom Pastor in der Kirche gescholten war und fortan auf dem Sünderbänkchen in der Ecke hatte sitzen müssen. "Und nie hat sie einer zur Frau genommen.“

Nein, als Haushälterin konnte von der Mauer Dürten Jungmann nicht zu sich nehmen, sie wäre nie gekommen. Und als - - - da schüttelte er den Kopf.

Zwischen ihnen gähnte eine Kluft, über die half alle Lieblichkeit und Schönheit nicht hinweg. Er, der Aristokrat, wenn auch sein Name nicht wirklichen Adel bedeutete, so doch seiner Erziehung, seinem Fühlen und Denken nach, und die Bauerntochter, die Schifferwitwe - - - ausgeschlossen.

Aber der Funke im Blut, der heiße, immer tiefer sich einbrennende Funke! Immer stand das bräunliche Köpfchen vor ihm, die reinen, herben Linien, die sehnsüchtigen Grauaugen; kein Madonnenbild in Italiens Galerien hatte süßere Züge getragen. Mußte die Seele, die aus diesen Augen sah, nicht wie in einem Gefängnis zwischen den derben Fischern leben? Mußte es nicht wie Schöpferwonne sein, sie zu wecken, ihr alle Größe und Schönheit der Welt zu offenbaren, sie aus einer Dienerin zur Königin umzuwandeln? Wie alle Männer bildete er sich ein, ein Weib von sechsundzwanzig Jahren noch nach seinem Willen ummodeln zu können.

Er vermied es, wieder hinabzufahren nach Warnemünde, er wollte vergessen, was ihn in wenigen Viertelstunden aus seinem gleichmäßigen Fühlen und Denken gerissen. Doch die Sehnsucht war die beste Verbündete des Brennens im Blut, und eines Tages sagte er sich: "So oder so, ein Ende muß gemacht werden. Aber als reifer Mann kann ich nicht handeln wie ein unbesonnener Jüngling. Ich will Land und Zeit zwischen uns legen. Wenn ich heute in einem Jahre noch denke wie jetzt, dann soll es mir ein Fingerzeig sein, daß eine höhere Macht uns füreinander bestimmt hat.“

Dann packte er seine Koffer und fuhr nach Griechenland.

Die verfallenen Marmortempel leuchteten unter einer ewig jungen Sonne, schöne Frauen und liebliche Kinder schritten über einen schimmernden Strand, die rippelnden Meereswellen klangen gegen das Ufer wie silberne Töne aus Sapphos lange verstummter Leier - er sah, ohne zu sehen, und hörte, ohne zu hören. Immer vor ihm stand die einsame Düne, der auslaufende Strom mit seinen gelblichen Wellen, die hochwallende See und unter einem sonnenstrahlenden oder wolkenüberjagten Himmel mitten im wehenden Sturm und im stiebenden Sand hoch und schlank die Stranddistel.

Als das Jahr herum war, fuhr er wieder nach Warnemünde, aber dieses Mal im Wagen mit zwei Braunen davor, im braunen Rock mit den Goldknöpfen, und auf dem gepuderten Haar trug er den eleganten Dreispitz. Neben ihm saß sein Freund, der acht Jahre jüngere Advokat Herr Thomas Lembke.

Am Krug ließen sie halten, und während von der Mauer in die Gaststube trat und sich ein Glas Grog geben ließ, schritt der Advokat durch die Hintergasse in die Vorderreihe und betrat Peter Jungmanns Haus.

Der saß nach einer Viertelstunde und hatte den Kopf in beide Fäuste gestützt, als würde er ihn sonst verlieren. Was der Advokat da ihm gesagt, ging nicht hinein in seinen dicken Schädel. Erst hatte er geglaubt, der feine Herr wolle ihn foppen, dann mußte er einsehen, daß doch etwas hinter der Sache war, und endlich kamen sie überein, Herr Friedrich Franz von der Mauer möge selber kommen und die Worte seines Freiwerbers bestätigen.

Das war bald geschehen.

Zwei Monate später war der Weltenbummler ein seßhafter Ehemann geworden.

Zwar Dürten Jungmann hatte gar nicht gleich mit beiden Händen zugegriffen, die Schwiegereltern mußten erst energisch zureden. Aber dann - solche Partie schlug man doch nicht aus.

Das schöne Geld!
Das große Haus am Schilde!
Die feine Familie!
Und zwei Dienstmädchen sollte sie sich halten.
Angst hatte sie davor? Narrheit, das gab sich.
Konnte doch kein Hochdeutsch reden? Das lernte sich.
Alt wäre der Mann? Da wurde Peter Jungmann wütend. Was der Mann damit zu tun hätte? Der sei ganz gut, wie er sei, und wenn er hundert Jahre alt wäre und mit dem Kopfe wackelte und keine Haare mehr hätte und keine Zähne, der konnte noch überall anfragen.

Dürten, auf den Wunsch des Verlobten hieß sie von jetzt an Dorothea, war nie eine von den Redseligen gewesen, also schwieg sie auch jetzt und fügte sich. Es war da auch noch ein Umstand, den der Alte ins Treffen führte. Aus erster Ehe war ein Mädchen da, ein lustiges, blondes Ding, Mieken, und von der Mauer, der doch erst ein bißchen gestutzt, als er von dieser Zugabe erfahren, hatte sich bereiterklärt, das Kind zu halten wie sein eigenes, es auch einmal zu versorgen, wenn es ins heiratsfähige Alter käme.

Das gab dann bei der jungen Mutter den Ausschlag. Ja, Mieken, die die lustigen Augen vom Vater hatte und seine hellen Locken und sein übermütiges Lachen, die sollte es gut haben. Und wenn das Glück doch einmal vorbei war, konnte man ja auch den warmen Ofenplatz annehmen.

So wurde Dorothea in der kleinen Warnemünder Kirche getraut und zog in das alte Giebelhaus mit den breiten Treppen, den großen Zimmern und hallenden Böden.

Von der Mauer hielt seine reichen Sammlungen in schweren Schränken und Truhen, er hielt seine schöne Frau ungefähr ebenso wie eine kostbare Schale oder einen seltenen Stein. Das Haus war ihre wohlgepolsterte Truhe, und wenn sie sich nicht wohlfühlte darin, so traf den Mann keine Schuld.

Er liebte sie nicht nur, er vergötterte sie. Das höchste, das kostbarste Stück von allem, was er zusammengetragen.
Aber sie wurde nicht heimisch. Still und freundlich ging sie durch die Räume, sprach fast nur mit dem Kinde, und auch mit dem nur, wenn sie sich mit ihm allein wußte. Die fremde Sprache, denn so sah sie das Hochdeutsch an, war ihr unheimlich, und doch, trotz allem Zureden des Mannes, konnte sie sich nicht entschließen, im gewohnten Dialekt mit ihm und den Dienstboten zu verkehren. Sie begriff gut genug den ungeheuren Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber sie hatte nicht Mut und Kraft, sich ihm anzupassen.

Was tut die Stranddistel im Erdreich eines gepflegten Gartens? Sie kann nicht leben, sie geht ein.
Nach einem Jahre gab Dorothea von der Mauer einem zweiten Töchterchen das Leben und starb nach vierzehn Tagen. Die Ärzte sagten, es sei eine innere Entzündung gewesen, aber der Mann wußte, sie war gestorben, weil er sie in fremden Boden verpflanzt hatte, nur darum.

Dies Gefühl quälte ihn wie eine Schuld, und all seine Liebe übertrug sich fortan auf die Kinder. Micken, sie nannten sie den Traditionen des reichen Hauses gemäß Maria, ging schon zu Jungfer Susemihl in die Strickschule, als sie auch die Mutter verlor, aber sie kam ziemlich schnell darüber fort. Der Vater war gut, das Leben legte ihr nichts in den Weg, und die Tante Frida, die, eine Base des Vaters, in das Haus kam, war eine Seele. Zuviel Seele für das wilde Ding, aber von der Mauer hatte niemand mehr in seiner Verwandtschaft, den er um solchen Liebesdienst bitten konnte.

Das Leben in dem großen Haus ging einen Tag wie den andern seinen geregelten Gang. Draußen in der Welt waren Lärm und Revolution. Die Österreicherin und ihr Gemahl waren auf dem Schafott verblutet, die Flammen griffen über den Rhein herüber in das deutsche Land, es gab viel Krieg und Kriegsgeschrei in Süddeutschland, doch bis an die Küste der Ostsee reichten die Stürme nicht.

Die kleine Dorothea, sie hatten sie nach der Mutter genannt, wuchs heran wie die andern Kinder der Stadt, ging zur rechten Zeit ebenfalls zu Jungfer Susemihl in die Strickschule, zu Mamsell Ohnesorge in die Fibelstunde und, als sie dreizehn Jahre alt geworden, zu Monsieur Lebrun in den Anstands- und Tanzunterricht. Monsieur gab ihr außerdem Unterricht im Französischen, das sie parlierte wie ein gewandter Papagei, denn der Vater war bereits ihr erster Lehrmeister gewesen.

Jede freie Stunde verbrachte von der Mauer mit seinen Sammlungen oder seinen Kindern, und oft mit beiden zugleich. Aber während Mieken ihre eigenen Gedanken hatte und auch gern ihre eigenen Wege ging, wurde die kleine Dorothea mehr und mehr zu seinem zweiten Ich.

In dem jungen Köpfchen, dessen goldbraune Haare sich krausten wie ein Pudelfell, gab es bald wohlgeordnete Schubfächer, in denen alle Weisheiten der Welt, die der Vater in langen Jahren gesammelt, sorgfältig geborgen wurden. Das Kind wuchs auf zwischen tausend Dingen, die den andern Kindern der Stadt nie zu Gesicht kamen, und immer, wenn der Vater einen Schrank, eine Truhe öffnete und einen Gegenstand heraushob, geschah das mit einer an Andacht grenzenden Feierlichkeit.

"Pass’ auf, Dorte, hier habe ich“ - ein Tuch wurde gelöst, ein Licht gerückt oder ein Laden geschlossen, wie es der Augenblick verlangte -, und dann begann die Erklärung. Nicht trocken und pedantisch, sondern voll Wärme und Liebe, voll Begeisterung für das Stückchen Schönheit von Griechenlands Boden oder aus Pariser Geschäften.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stranddistel. Roman