Westerland, am 25. August.

In der Frühe dieses Tages brach ich auf, um das wilde, von Menschen nicht mehr bewohnte Westende der Insel, die Dünen von Hörnum, zu besuchen. Ich hatte einen kleinen Wagen mit zwei Pferden und einem jungen Burschen, der sie führte. Die Luft war frisch und klar, die Sonne schien über Land und Meer. Zur Linken lag das Watt, so blau, so lautlos still, und am Rande des Horizontes erschien der „feste Wall" mit den sanften Umrissen seiner Dorfschaften und Kirchentürme; zur Rechten standen die Dünen und ihr dunkelblauer Schatten zeichnete große, schöne Formen in den Sonnenschein der Heide. In Rantum machten wir Station; der Junge hielt an dem langen Hause, wo ich vorgestern den Zimmermann gesprochen. Gegenüber auf dem Hügel das Haus des toten Strandvogts war wieder verschlossen, und Merret von Amrum war früh am Morgen über das Wasser heimgekehrt. Des Zimmermanns Mutter ist eine ganz alte Frau. Sie saß in der sonnigen Stube auf einem hölzernen Lehnstuhl. Zahllose Fliegen summten an der Decke und den Fenstern. Hand und Stimme, da sie mich willkommen hieß, zitterten ein wenig vor Alter, aber ihr ehrwürdig Gesicht unter der breiten Haube war heiter, wie die Herbstsonne, an der sie sich wärmte. Diese Frau, wie sie nun dasitzt, am Ende ihrer Tage, in dem verfallenen Dorfe, in dem Hause ihrer Heimgegangenen Väter, hat eine schöne und reiche Lebensgeschichte. Am Anfange unseres Jahrhunderts, da sie ein junges, frisches Inselkind war, zu der Zeit, wo England und Dänemark im Kriege lagen, landete ein Kaperschiff unfern dieses Strandes. Da war ein Matrose, aus Norwegen gebürtig, hieß Lassen und verliebte sich in diese schöne Merret Peter Claassen von Rantum. Das waren noch Zeiten für Seeräuber und verwegene Liebschaften; aber auch für Treue und Zuverlässigkeit. Und als der Krieg ein Ende hatte, da kam Lassen nach Rantum und heirattete die schöne Merret Peter Claassen und zeugte mit ihr 21 Kinder, von denen die Söhne als Schiffskapitäne das Meer befahren und die Töchter sich gut und glücklich nach Westerland verheiratet haben, bis auf Eine, die nicht von der Mutter wollte, und heute noch bei ihr ist. Einer von ihren Söhnen, der Kapitän Lassen, der sich in Westerland zur Ruhe gesetzt hat, ist mein guter Freund und manch ein Glas Grog haben wir zusammen bei Meister Steffens getrunken. Alt Merrets Mann und fünf ihrer Söhne sind gestorben, zur See die Einen, in fernen Landen die Anderen; aber die Bilder Aller, in kunstlosen Zeichnungen und halbverlöschten Daguerreotypen bedecken die südliche Wand ihres Zimmers. Die Mutter sitzt unter ihnen, und die Sonne, welche hereinscheint, umgibt sie Alle.

Dieses sind die letzten Häuser und die letzten Menschen; von hier bis ans Ende des Landes, wo die weite See beginnt, die ununterbrochen zwischen dem Sand von Hörnum und den Kalkfelsen von Kent rollt, ist Alles totenstill, nur die Stimmen der Natur und das Brüten der Einsamkeit sind zu vernehmen. Strandläufer stehen im flachen Wasser des Watts und mit ihren langen zierlichen Füßen verlieren sie sich pfeilschnell weit hinaus, sobald sie unsere Räder hören, die sich im schimmernden Sande knisternd umdrehen. Im harten Riedgras der Dünen weiden die Schafe, und ihre zarten Fußtapfen, die sich im feuchten Sande abgedrückt haben, reichen bis ans Wasser. Eine Möwe fliegt vom Westen heran, und das Weiß ihrer Flügel schimmert wie Silber im durchsichtigen Blau des Äthers. Eine zweite folgt ihrem Fluge, und kurze, traurige Töne stößt sie aus, als klage sie, dass die andere ihr entfliehe. Ob es so Etwas wie Untreue auch im Reich der Lüfte und in der unbegrenzten Region zwischen Himmel und Wasser gibt? . . . Nun verlieren sich auch die Schafe und das letzte, spärliche Grün verschwindet. Weißer Sand zur Linken verdeckt uns den ferneren Anblick des sanften, blauen Wassers; und weißer Sand zur Rechten, hoch aufgetürmt und in strahlende Sonne getaucht, dämpft das Rauschen des Meeres. Weißer Sand liegt vor uns, brennend in der Sonne, blendendes Licht und dumpfe Hitze ausstrahlend. Immer schwerer wälzen sich die Räder in der weichenden Masse, über Hügel, durch Täler, durch eine einsame, untergehende Welt, welche uns blendet und berauscht. Ein wirres, unheimliches Getöse empfängt uns, je näher wir dem Herzen der Einsamkeit kommen, als wäre es der ängstliche Pulsschlag desselben. Was ist es? Es kann das Rauschen des Meeres nicht sein. Es klingt so traurig, wie ein tiefer, schwerer Seufzer. Ist es der Wind, der klagend durch die Dünen zieht? Nein, es sind die Möwen, die hier im Sande nisten, und die — von unserem Wagen aufgejagt — besorgt für ihre Nester und ihre Jungen, jammernd um die Dünen rundfliegen. Es ist der unbeschreiblich herzerschütternde Ton, welcher Anlass gegeben hat zur Entstehung der Sage vom Stademwüffke, welches die Stätte bewacht, „wo fromme, freie Menschen gewohnt."


Denn einst hatte Hörnum auch seine lustige Zeit, in den guten, alten Tagen, wo Pidder Lüng, der Enkel jenes Mannes, der sich vor dem Altar der Eidum-Kirche den Tod gegeben, hier lebte und kämpfte. Er kämpfte gegen das Meer und gegen die Dänen für Friesland und die Friesen, und sein Lied, einer der wenigen Reste aus der Zeit, wo Friesland noch sang, war:

      Frei ist der Fischfang,
      Frei ist die Jagd,
      Frei ist der Strandgang,
      Frei ist die Nacht.
      Frei ist die See, frei von Lande zu Land,
      Frei ist die See und der Hörnumer Sand!

      Hurrah für den Büh! (Jungen, das engl. boy)
      Hat er kein Land,
      Hat er tagelang Müh
      Beim Fischen am Strand:
      Hat er die See doch von Lande zu Land,
      Hat er die See und den Hörnumer Sand!

      Priester sind störrig —
      Doch wir, nicht faul,
      Wenn sie zu kurrig,
      Schlagen sie aufs Maul,
      Uns bleibt die See ja, von Lande zu Land,
      Uns bleibt die See und der Hörnumer Sand!

Und so lebten sie, frech und froh, und liebten und küssten, und lachten und sangen, bis eines Tages Pidder Lüng am Galgen über der Höhe von Munkmarsch baumelte. Seitdem liegt Hörnum öd' und verlassen, und Sturm, Sonne, Möwen und Hasen sind seine Bewohner. Das Küssethal und das Kressen-Jakobsthal, in welchem ihre „Festung" stand, hört nur noch den Angstruf der aufgejagten Vögel und das Branden der fernen See.

Hier verließ ich meinen Wagen und wanderte allein weiter durch den heißen, tiefen Sand. Zerbrochene Eierschalen und die flüchtigen Fußspuren eines Hasen waren die einzigen Zeichen des Lebens. Sonst war Nichts da als weißer, wüster Sand, der totenstumm unter der Sonne lag, und in der ungeheuren Monotonie schien der Wandel der Zeit seine Merkmale, die Ausdehnung des Raumes ihre Grenzen zu verlieren. Ein großer Sandhügel lag vor mir, mit einer schwarzen Baake, welche — wie ein riesiges Knochengerippe — aus dem weißen Boden in die sonnezitternde Mittagsluft ragte. Ich wanderte und wanderte, aber die Entfernung wollte nicht enden, und wie eine wunderliche Kette lief, wenn ich zurücksah, die Reihe meiner Fußtritte über die weite Sandebene. Endlich, müde genug, stand ich am Fuße des Hügels; endlich war ich oben. Mein Auge, vom ewigen Weiß verwirrt, ward nun von Blau umgeben, so weit es sah — vom Blau des Meeres unten, vom Blau des Himmels oben, und meine heiße Stirne fühlte die frische, weiche Kühle des Windes. Eine kleine, schwarze Bretterhütte, von Innen und Außen geteert, liegt hier im Schutze eines Vorhügels. Sie ist für Schiffbrüchige, die an diese ungastliche Küste geworfen werden. Es ist eine Art von Koje darin und Stroh zum Lager; in einem eingemauerten Fasse Trinkwasser, in einem Blechkasten Schiffszwieback, in einer Blechbüchse Schwefelhölzer. Eine schwüle Luft, von den Ausdünstungen des Teers genährt, füllte den engen, dunklen Raum, welcher wohl schon das Dankgebet manch eines den Schrecken des stürmenden Meeres Entronnenen gehört haben mag. — Als ich wieder ins Freie hinaustrat, hatte ich das allerschönste Panorama. Hinter mir die Grabesstille der Sandwelt, ihre Berge, ihre Schluchten — ein wehmütig fesselndes Bild; vor mir die weite, blaue, träumende Fläche der sommerlichen Nordsee und des Watts, die sich hier an der Hörnumodde vereinen. Zur Linken, aus dem feinen Dufte, den Sonne und Wasser webten, dämmerte Amrum, an dessen Nordküste Merret um diese Zeit wohl gelandet sein mochte. Aber ich fühlte kein Verlangen dahin; mein Auge war gen Westen gewandt, und meine Seele wünschte sich Flügel, um — gleich den Möwen — hinüber zu fliegen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stillleben auf Sylt
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