Westerland, am 21. August.

Heute ist Sonntag. Das Glöcklein der kleinen Kirche von Westerland läutet aus der Ferne, und der Morgen ist so rein, so klar und so still, dass ich es hier vernehme, in meinem kleinen Hause, dicht unter den Dünen. Die Sonne füllt mein Gemach; in der Küche, am beschatteten. Fenster, sitzt Brigitte Marlo, und neben ihr auf dem Tische sitzt die Katze. Sie sehen der Kuh zu, die auf dem Rasenfleck weidet.

Ich verlasse das stille Haus an der Düne und wandere landein, dem Klange des Glöckleins nach. Über die sonnige Heide sehe ich hier und dort Menschen wandeln. Der Horizont ist weit und frei, und zu meiner Linken, in der Entfernung des sommerlichen Duftes steht die Kirche von Keitum. Sie steht einsam auf einer Erhebung des Bodens, zwischen dem Grün der Heide und dem Blau des Himmels, und ihr Lauten mischt sich zuweilen, wenn der Wind es trägt, mit dem des Westerland-Kirchleins. Dieses ist so klein; das Dach von Schilf und Rohr, das Türmlein von Holz. Sie steht an dieser Stelle nun etwas über zweihundert Jahre, aber die Bausteine ihrer Mauern und ihre Gerätschaften sind viele hundert Jahre älter. Darin stimmen alle Chronisten und Alles, was ich von den Leuten habe sagen hören, überein, dass diese Kirche aus den Überresten der alten Eidumkirche sei errichtet worden. Seit dem Jahre 1436 begann der Untergang der Ortschaften längs der Westküste. Heidnische und christliche Erinnerungen vereinen sich in den Sagen von ihrem Untergange. Da war nämlich der Meermann Ekke — der Aign oder Aegir der nordischen Mythe — der sich in eine Sylter Jungfrau verliebte. Der Umgang mit dem finsteren Gotte des stürmenden Elementes ward aber dem Menschenkinde, welchem er unter einer fremden Gestalt erschienen war, unheimlich und es bat um seine Freiheit. Aber wir kennen ja das wehmütige Band, welches die Überirdischen, die sich nach Liebe sehnen, an die Sterblichen fesselt; jenen düsteren Zug, zu genießen und zu verderben, der schon die heitere Mythe des Griechenhimmels trübt. Ekke gab sein Opfer nicht frei; aber sie solle frei sein, sagte er, wenn sie ihm seinen vollen Namen zu sagenwisse. Lange wanderte sie nun allein am Meer hin und durch die Dünen, bis sie in einer Nacht, die sie geängstet durchschritt, einen Gesang vernahm, der aus der Tiefe eines Sandhügels zu kommen schien und mit dem Winde westwärts zum Wasser wanderte:


      Heute will ich brauen,
      Morgen will ich backen,
      Übermorgen will ich Hochzeit machen.
      Ich heiße Ekke Nekkepenn;
      Meine Braut ist Inge von Rantum,
      Und das weiß Niemand als ich allein.

Das Mädchen war erlöst, und als der Meermann wieder kam, da sagte sie: „Du heißest Ekke Nekkepenn, und ich bleibe Inge von Rantum." Da kehrte der Meergott zu Ran, seiner Gemahlin, der er lange ungetreu gewesen, zurück, und sie — die Mutter der Wellen und Stürme, der Überschwemmungen und Schiffbrüche — rächte sich an Sylt, und zerstörte Rantum und Eidum, und nagt an den Dünen von Hörnum in jeder stürmischen Frühlingsnacht, bis Alles dahin sein wird.

So ungefähr berichtet mein Freund C. P. Hansen, der Schullehrer von Keitum, in seinen „Friesischen Sagen und Erzählungen"; und Hans Kielholt, der alte Chronist, der den Untergang jener Ortschaften mit angesehen, da sein Vater Pastor in denselben gewesen, schildert ihn also: „Die schöne Kirche, die mein sel. Vater hatte, steht nun täglich zwei Fuß mit Wasser an den Mauern. Die Bauern sagen, dass die fremden Schiffsleute das Dach, auch das Blei und drei schöne Glocken davon abgenommen haben. Ach und auch Wehe! und jämmerlich zu beklagen, dass das Allerbeste von diesem Land so sehr ist vernichtet, verwüstet und ins Wasser versunken." Das war um 1436, bei der großen Sturmflut. Die Eidumer wanderten aus- und gründeten Westerland, aber die Kirche blieb, wie sie war, noch zweihundert Jahre stehen. Erst im Jahre 1634 brach man sie ab, und baute aus ihren Materialien die kleine Kirche auf, vor der ich jetzt stehe. Viele der geweihten Gefäße und Utensilien stammen aus jener Zeit und sind uralt; namentlich das Altarblatt, an das sich auch eine sagenhafte Überlieferung knüpft. Sie beginnt — wie alle Geschichten auf Sylt — mit einer großen Überschwemmung. Alle Dörfer der Nordwestspitze List, die seitdem durch die Dänen in Besitz genommen ist, gingen darin unter, und nur ein Mann mit seiner Frau, Jens Lüngg, blieb übrig. Da nahm er den Altar der Kirche und floh vor den Dänen in die Wildnis von Hörnum und hielt daselbst seinen Gottesdienst. In jener Sturmflut waren nun aber auch alle Geistlichen auf Sylt ertrunken und große Gottlosigkeit nahm überhand, so dass in den Kirchen getanzt und aus den Weihgefäßen Bier getrunken ward. Da vernahm der Papst von diesem erbärmlichen Zustand und Hans Kielholt vermerkt: „dass der Papst durch seine Bevollmächtigten gewesen ist bei der Königlichen Majestät (von Dänemark) mit freundlicher Bitte, dass er das geistliche Regiment über alle Kirchen möchte in eine rechte Ordnung bringen und die Kirchen einweihen lassen, welche Bitte ist dem Papste beurlaubt worden." Darauf kamen andere Prediger nach Sylt, die Kirchen wurden aufs Neue geweiht und Jens Lüngg schenkte seinen Altar der von Eidum. Als er nun eines Sonntags dahin kam, um Teil an Gebet und Predigt zu nehmen, da erkannte er seinen Altar nicht wieder. Neben der Mutter Gottes, die ihm traurig, wie aus alter Zeit, entgegenlächelte, sah er zwei grobe dänische Heilige gemalt, vor denen die Gemeinde niederkniete. Er aber wollte seine Knie nicht vor gemalten Götzen beugen, wie er sagte; und als man ihn zwingen wollte, da zog er sein Messer, und fiel vor ihnen nieder, wie es die Anderen wollten, — aber tot! „Da ist ein alter Mann", sagt unser Predigersohn aus dem 15. Jahrhundert, Hans Kielholt, „der ist ein Heide gewesen, der hat in der Kirche gestanden und zugesehen, da hat er sein eigen Messer genommen und sich selber die Kehle ausgestochen, darum dass er sich nicht wollte mit dem neuen Glauben beladen." —

Das Altarblatt ist noch heut da mit den beiden Dänenheiligen, welche vor vier Jahren frisch vergoldet worden, und nach einem derselben ist die Kirche St. Niels genannt, bis auf diesen Tag.

In diese Kirche trete ich ein, nachdem ich lange draußen unter den eingesunkenen Grabsteinen verweilt habe. Der Gottesdienst ist hochdeutsch- und ein Sylter Mann, der neben mir sitzt, lässt mich in sein Gebetbuch einsehen. Rings an den Wänden des kleinen, dürftigen Innenraums hängen die Bildnisse der alten Pastore von Westerland; mit Allongeperrücken die ersten aus dem siebzehnten Jahrhundert, und so weiter, bis auf diese Zeit, viele treuherzige, starke, verwitterte Gesichter. Darunter sitzt in den Betstühlen die kleine Gemeinde von Westerland und Rantum. Auch Merret seh ich, das schöne Mädchen von Amrum in ihrem Samtmieder mit den Silberglöckchen daran. Aber sie sieht nicht auf von ihrem Gesangbuch und ihre Lippen rühren sich leise. Eine Orgel haben wir nicht; der Küster gibt mit seiner andächtigen, aber unmelodischen Stimme den Ton an, und die Anderen folgen. Dann besteigt der Pfarrer, ein ernster, vielgeprüfter Mann, die niedrige Kanzel, und am Ende seiner Predigt, mit fester Stimme, spricht er, der lang Verfolgte und schwer Gedrückte, das Gebet für Seine Majestät Friedrich VII., König von Dänemark, und Herzog zu Schleswig, Holstein und Lauenburg . . .

Dann geht die Kirche aus und unter den Heimkehrenden seh ich Merret noch einmal. An ihrer Seite, über die sonnige Heide, geht der Sohn der Wirtin von Wenningstedt, ein schmucker Frieslandsohn, der eben von einer Reise nach Java zurückgekommen ist. Diesmal sieht sie mich; aber sie errötet und mein Gruß bringt sie in Verlegenheit. Sie erinnert sich gewiss an das, was ich gestern mit ihr von den „Halfjunkengängern" gesprochen habe. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stillleben auf Sylt