Westerland, am 20. August.

Das Westende von Sylt zieht sich lang und öde in die Einsamkeit des Meeres hinaus; links liegt das unbewegte, flache Watt, bei Ebbezeit einer Sandebene mit Wasserstreifen ähnlicher, als einem Meer, und von rechts heran stürmt die wilde Nordsee, welche diesen Teil der Insel nahezu schon zerstört hat. Er ist so dünn, so lang; man fürchtet, die Strömung könne eines Tages durchbrechen und Alles, was noch übrig ist, begraben. Die Insel soll in 190 Jahren bereits gegen zwei Fünftel ihres Areals verloren haben; an der Westseite aber, und ihrem langgestreckten Ende ist diese Abnahme am Bemerkbarsten. Man sieht hier Jahr für Jahr ein Stück nach dem andern hingehen; der Name eines Dorfes, welches vor Zeiten hier gelegen, Alt-Eidum, findet sich auf der Karte, weit ab von dem äußersten Küstenrande, mitten in der tiefen See, wo sie schon seit mehr als einem Jahrhundert frei an- und abläuft. — Die traurigste Geschichte aber, weil sie sich zum Teil noch vor unseren eigenen Augen zuträgt, hat das Dorf, welches am Eingang zu dieser, der Zerstörung verfallenen Welt, halb verschüttet im Sande, halb versunken in der See liegt. Das Dorf heißt Rantum, und es ist die letzte menschliche Wohnstätte, bevor man sich in die Wüstenei der Dünen und des Meeres zu beiden Seiten verliert. Die Sylter sprechen mit Wehmut von diesem Dorfe; sie sehen in ihm das Schicksal ihrer ganzen Insel. Sie nennen es das „ehemalige" Dorf und erzählen von den alten Häusern, in denen sie manche fröhliche Stunde verlebt, und den alten Leuten, die einst darin gewohnt, und deren Gräber jetzt weit hinaus in der Nordsee liegen. Vor etwa 100 Jahren stand noch die alte Kirche. Darauf aber, nachdem das Dorf von dem westlichsten Teil der daneben gelegenen Ackerländereien bis auf den östlichsten Teil derselben verlegt worden war, musste endlich auch die Kirche versetzt werden. Vor 80 Jahren standen noch gegen 40 Häuser um diese neue Kirche herum und jetzt ist keine Spur mehr vorhanden, weder von dem Dorfe, noch von der Kirche. Um letztere nicht vom Flugsand verschütten zu lassen, hat man sie (im Jahre 1801) abgebrochen. „Sowohl die Stelle", heißt es in Booysens „Beschreibung der Insel Sylt" aus dem Jahre 1828*), „wo die Kirche stand, als wo die Häuser standen, ist schon unter den Wellen der Nordsee verschwunden; bloß dreizehn, zum Teil sehr elende, von den Einwohnern des vorigen Rantum erbaute Hütten, ein wenig süd-ostwärts vom ehemaligen Rantum, dienen noch als Beweis, dass in der Gegend ehedem ein Dorf dieses Namens gewesen ist und führen noch diesen Namen; diese werden von sechzig Einwohnern bewohnt." So vor dreißig Jahren. Heut hat Rantum nur noch fünf von Sand und See bedrängte Hütten mit 36 Einwohnern, die — von aller Steuer frei — seit Anfang dieses Jahrhunderts, wo ihre Ländereien ins Wasser gingen, von ihren Schafen, ihren Fischen und dem kümmerlichen Erlös des Dünengrases, aus dem sie Stricke drehen, leben.

*) Sie erschien in Schleswig; der Verfasser war, wie er im Vorwort sagt, ein „ehemaliger Seemann."


Dieses versunkene Dorf habe ich heut Nachmittag besucht. Über eine breite, grüne, von zahlreichen Meeresrillen durchrissene Niederung am blauen Watt wanderte ich stundenlang dahin. Kein Mensch begegnete mir mehr, als ich die Häuser von Westerland hinter mir hatte; und die Sonnabendnachmittagsstille, so frisch, so kühl vom Anhauch beider Meere, von denen ich das eine sah und das andere hörte, ward durch Nichts unterbrochen. Die fünf Häuser von Rantum lagen von Anfang an vor mir; erst wie schwache Zeichnungen auf dem Dufte des Hintergrundes, dann bestimmter und lange klar mit ihren Giebeln und Umrissen, ehe ich sie erreichte. Nun war ich unter ihnen. Sie stehen, jedes einzelne, auf einem Hügel für sich; dicht über dem Watt, und den Dünenschluchten zugekehrt, die sich westwärts ziehen, ihr letzter Damm gegen die Nordsee, deren Brausen hier stark widerhallt. Auch ein kleines Schulhaus ist auf einem dieser Hügel zu sehen. Aber es gibt keine Kinder in Rantum, die es besuchen könnten; die der letzten Generation sind schon über die Zeit hinaus, und von der jetzigen sind noch keine so weit. So steht die Schule von Rantum auf ihrem Hügel, verschlossen seit manchem Tag. Das erste Haus, an das ich ging, war eines Zimmermanns. Ein Mann und ein Junge waren darin; ich fragte sie nach dem Wirtshaus, und sie zeigten mir das andere Haus gegenüber. Ich erstieg den Hügel, auf welchem es liegt. Es war verschlossen, und durch die Fenster sah ich in leere Stuben. Auf dem Hofe davor lag ein zerschelltes Boot mit englischen Porterflaschen darin, die das Meer angetrieben haben mochte; mit zerbrochenen Segelstangen, mit Kasten, in denen Schiffszwieback gewesen, und an dessen Brettern noch die Firma der Londoner Fabrik zu lesen war, mit Namenbrettern, deren Inschriften meistens englische waren, mit mehreren Schiffsfiguren. Während ich noch so zwischen diesen Trümmern zur See verunglückter Schiffe weilte, kam eine Frau, die mich wahrgenommen hatte, aus den Dünenschluchten und aus weiterer Entfernung folgte ihr ein Mädchen. Die Frau begrüßte mich und schloss das Haus auf, in welches wir demnächst eintraten. Sie sagte, es sei das Haus des alten Strandvogtes von Hörnum, welcher jüngsthin verstorben, und ihr Mann habe es angekauft. Sie wollten es aber erst zum Winter beziehen, und jetzt stehe es leer. Hierauf machte sie ein Feuer und stellte Wasser zum Kaffee daran. Indem trat auch das Mädchen herein. Es war bildhübsch und trug sich reizend, anders als ich bis jetzt auf dieser Insel wahrgenommen. Sie hatte einen kurzen, bunten Rock, mit einem Brustlatz vom schwarzem Sammet, daran silberne Glöckchen zierlich geordnet hingen; eine mit Gold und Silber reich gestickte Haube und lange seidene Bänder daran. Sie war schlank gebaut und ihre Glieder hatten eine ebenmäßige Fülle; ihr Auge war blau, ihr Gesicht ernst aber freundlich. Sie sagte mir, sie sei von der Insel Amrum auf Besuch hierhergekommen und wolle am andern Montag wiederdahin zurück. Dort trügen sich die Mädchen und Frauen alle so. Sie hieß Merret — das ist unser Marie — und sprach das Hochdeutsche mit Mühe; wir konnten uns nicht gut verstehen, und die Frau war unsere Dolmetscherin. Als der Kaffee fertig war, setzten wir uns in des alten Strandvogtes Stube, an den langen, roten Tisch, und tranken ihn zusammen aus. Die Frau hatte etwas Kuchen im Schranke stehen, und holte ihn herbei, während Merret ruhig neben mir saß. Was sollte ich mit einem so fremden, so jungen und so hübschen Mädchen sprechen? Ich fragte, ob sie auch schon einen Schatz habe? Da sah sie mich lächelnd an und schüttelte den Kopf, denn sie verstand es nicht. Als ich aber das Wort auf „Halfjunkengänger" brachte, was hier für Schatz gesetzt wird, da errötete sie mit Einem Mal und schlug das Auge nieder. Denn das verstand sie.

Als wir mit unserem bescheidenen Freundschaftsmale zu Ende waren, erhob ich mich zur Heimkehr. Es fing schon an dunkel zu werden. Beide Frauenzimmer gingen ein Stück Weges mit mir, und als wir uns verabschiedet hatten, blieben sie noch eine Weile stehen, und wenn ich mich umkehrte, sah ich lange noch in der Dämmerung ihre Tücher wehen, mit denen sie mir Lebewohl winkten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stillleben auf Sylt