Westerland, am 19. August.

Gestern, in meinem Friesrock und meinem Filzhut, die beide vor einem Jahre um diese Zeit den Sturm und Regen der Westheide von Irland und den Salzschaum des Atlantischen Ozeans versucht haben, ging ich in die Dämmerung der Insel hinaus. Es hatte lange geregnet und das Moos und Riedgras war noch schwer und feucht. Auch der Himmel war noch grau und dumpf, aber gegen Westen schien er sich zu öffnen und ein matter Abschiedsglanz kam von daher und fiel für einige Augenblicke schräg über die Dünenabhänge und das ferne Heideland. Ich blieb hinter den Dünen- und sah das Meer nicht; aber ich hörte, wie es an- und abrollte, und der Wind blies mir entgegen, schwellend, sinkend; bald, als brause er aus dem ziehenden Gewölk — dem sich der westliche Schimmer leise mitzuteilen schien — bald, als verliere er sich im Gestrüpp unter meinen Füßen. Wie ein Gesang, zu dem ich die Worte suchte; wie eine Musik aus anderen Sphären. Schwebend, schwebend . . . o, wer auch so leicht wäre! Und wer singt diese wundersamen Lieder, die unser Herz mit namenloser Sehnsucht füllen? Sind es die, Geister der Geschiedenen, die uns grüßen, die uns rufen? Wenn wir nach unserem Einschlafen Luftgeister würden — welch ein Gedanke! Wenn wir so über die Fläche schwebten, über Land, über Meer, wie einst der Geist Gottes — durch alle Welten, höher, immer höher, in ewiger Wanderwonne. Wir sehnen uns nach der Ferne; aber wir erreichen sie nicht. Wir ersteigen den Hügel, und um einen Horizont weiter ist sie uns gerückt. Wir machen eine neue Reise nach der Gegend hin, wo der Himmel die Erde berührte; aber sie liegt noch vor uns. Wir kommen zuletzt ans Meer und stehen dem Sonnenuntergang gegenüber; aber die Ferne ist noch da, weiter, endloser als je. Wir fahren über das Meer und gewinnen das jenseitige Land; aber die Ferne ist aufs Neue da, und sie führt uns immer, immer, von Tag zu Tag, bis wir vielleicht, am Abend unsres Lebens, an dem Punkte wieder angelangt sind, von dem wir ausgingen. Hier, in der Hütte, die uns geboren, unter dem Hügel, welcher unsere ersten Träume, unser erstes Glück, unsere erste Liebe gesehen, schlafen wir ein. Wir erwachen nicht mehr; aber wir sind in die Luft zurückgekehrt, in unsere ewige Heimat, in das wahre Element unseres Lebens. Nun empfinden wir, dass unser Erdenwallen Nichts war, als eine Sehnsucht nach dem Unendlichen, dem wir nachgingen, ohne es erreichen zu können; und dessen wir nun, gelöst von der Schwere des Körpers, vollauf genießen, atmend, schwebend, stürmend, jauchzend! Wir selber oft, in wehmütigem Rückerinnern, flüstern durch die Blumen, die auf unserem Grabe stehen.

Auf einmal stand ich vor einem Mauerviereck aus schwarzen Steinen, an welchen ein Schimmer des Abendlichts hing. Es war so einsam und so still ringsum; es war kein Mensch zu sehen. Über der schwarzen Türe war eine schwarze Tafel mit Goldbuchstaben:


      Heimat statte für Heimatlose.
      Offenbarung Johannis 14, 13.

Ich öffnete die Türe und trat ein. Unter der westlichen Mauer waren neun Gräber, ohne Kreuz, ohne Gedenkschrift — kein Name, keine Jahreszahl. Neun Hügel, stumm, dunkel, mit etwas Moos bekleidet. Ich stand eine Weile; dann ging ich und schloss die schwarze Türe hinter mir, wie ich sie gefunden hatte. Noch immer kein Mensch; ich erstieg die nächste Düne. Je höher ich kam, je offener schien der Himmel zu werden, je breiter der Glanz um mich. Nun war ich oben, und ein goldschillerndes Meer lag vor mir und flammendes Purpurgewölk, so weit der Blick reichte, und schwimmend darin die sterbende Sonne. An dem gelben, breiten Strande gingen noch ein paar Menschen; und auf der Dünenkuppe zu meiner Rechten stand ein Mädchen, und in der Glorie, die sie umgab, flatterten ihre dunklen Röcke.

Da ich nach Haus gekommen war, in der vollständigen Dunkelheit des Abends, schlug ich die Bibel auf und las, beim einsamen Schimmer meiner Kerze, Offenbarung Johannis 14, 13:

„Und ich hörete eine Stimme vom Himmel zu mir sagen:
Schreibe: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben,
von nun an . . .
„Und ich sahe, und siehe, eine weiße Wolke . . ."

Heute morgen nun war der Himmel blau, und heiter in seiner Höhe stand die östliche Sonne. Das Meer war frisch und bewegt, und eine Lust war es, darin zu baden. Nach dem Bade trat ich meine Wanderung an, den Sand hinunter, dicht am Meere; die wenigen Badekarren und die paar Menschen darin oder daneben blieben weit zurück, und lange war ich allein. Ich traf zuletzt auf einen Mann, welcher Tuul grub. Dieser Mann hatte ein Gesicht, von Wind und Wetter ganz rot geworden; klare, blaue Augen und langes, gelbes Haar. Er mochte wohl einige vierzig Jahr alt sein, und wie ich ihn so dastehen sah, in der vollen Helligkeit der Sonne, dem offenen, einsamen Meer gegenüber, über seinen Spaten gebeugt, trat ich zu ihm. Nach Mancherlei, was wir zuerst sprachen, fragte ich ihn über den kleinen Kirchhof mit der schwarzen Mauer, welchen ich gestern Abend unter der Düne gesehen.

„Auf diesen Kirchhof", sagte der Mann, „bringen wir Diejenigen, welche von der See hier ans Land gewaschen werden."

„Schiffbrüchige?" fragte ich.

„Schiffbrüchige und Andere. Nicht selten fällt ein Matros, wenn er in der Takelage einen Fehltritt tut, ins Wasser und ist, wenn Wind und Strömung scharf gehen, im nächsten Augenblick weg."

„Und nicht mehr als neun Gräber in dieser langen Zeit?"

„Der Kirchhof ist noch nicht alt. Früher wurden die Leichen, die wir auf unserem Sande fanden, in den Dünen verscharrt. Es war eine alte Sage, dass man diejenigen, welche das Meer von sich wirft, auch nicht ehrlich, wie andere Christen, begraben dürfe. Da machte man denn ein Loch unter der Düne und legte den fremden Toten hinein, ohne Sarg, wie man ihn gefunden. Der nächste Wind türmte häuserhohen Flugsand über dem Grab und manch ein vergessen Christenkind liegt dort in den Dünen. In neuerer Zeit hat man sich nun viele Mühe gegeben, diesen unmenschlichen Gebrauch abzustellen; aber die Alten wollten lange nichts davon hören, und erst seit dem Tode des letzten Strandvogtes, vor ein paar Jahren, ist es anders geworden. Da ward der Kirchhof, den Ihr gestern gesehen habt, angelegt; und wenn nun eine Leiche auf dem Sande gefunden wird, so kommt sie zuerst in die Strandvogts-Scheuer, wird gewaschen und eine genaue Beschreibung derselben, unter dem Datum, an welchem sie gefunden worden, in das Tagebuch gesetzt. Wenn später nun vielleicht ein Freund und Angehöriger nach dem Grabe fragen sollte, so kann man es nach der Beschreibung finden. Denn wir wissen ja nicht, wen wir begraben, — wes Namens und aus welchem Lande er ist. Wir geben ihm einen schwarzen Sarg, eine geschützte Stelle, wo er nicht vom Sande verschüttet wird, und einen Rasenfleck über dem Hügel. Wir tragen ihn hinaus, wie wir unsere eigenen Leute hinaustragen, wir singen ein Lied an seinem Grabe und unser Pfarrer spricht den Segen darüber. Das ist unser Brauch."

„Und ist der jetzige Strandvogt der neuen Einrichtung zugetan?"

„Ja, ja . . . o, ja . . ." erwiderte der Mann mit dem roten Gesicht, das um diese Zeit noch etwas röter geworden, und mit den klaren, blauen Augen, die mich verlegen ansahen.

„Eigentlich, um die Wahrheit zu sagen, hat er sie erst durchgesetzt, und nach vielem Verdruss mit Gemeinde und Obrigkeit jenen Kirchhof zu Stande gebracht."

„Und wie heißt er?"

„Dekker."

„Ich möchte ihn kennen lernen. Wo treff' ich ihn?"

Ein wenig stotternd sagte der Mann, indem er sich an seinem Spaten aufrichtete: „Hier."

Da gab ich ihm, dem Strandvogt Dekker von Westerland, der die Toten des Meeres begräbt, meine Hand und schloss Freundschaft mit ihm; und zurück über die Düne, um sie noch einmal zu besuchen, gingen wir mit einander zu der „Heimatstätte für Heimatlose".
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stillleben auf Sylt