Westerland, am 08. September.

Zum letzten Male sitze ich im Morgensonnenschein auf dem Rasen und sehe mir das Häuschen mit seiner grünen Bogentür, seinen vier Fensterchen, seinem Strohdach an, unter welchem ich so viel Tage der Einsamkeit, des Friedens und der Rückkehr zu mir selber gefeiert habe. Dort an den Dünen weiden ein paar Schafe, dort über die Heide — das weiße Tuch fest um den Kopf geschlungen, eine hohe starke Figur, eine wahre Lady Macbeth-Gestalt — geht Jungfrau Brigitte Marlo. Dankbar und gerührt nehm' ich Abschied von dem Einen und dem Anderen; von dem Meer, von den Hügeln, von der Heide, von den Menschen, welche ihre stillen und ernsten Bewohner sind. Ich habe viel von ihnen gelernt; aus ihrem Leben, das ohne Leidenschaft und Verbrechen, aber voll großer Sorgen und immerwährender Gefahr, aus ihrer Geschichte, die ohne Bedeutung ist für die heutige Welt, aber ihr ein Muster sein könnte in der Sündhaftigkeit ihrer Kämpfe, nehme ich einen Schatz der Erinnerung mit mir.

Gestern zum Abschied hat Wulff Manne Dekker in der Dünenhalle einen Ball der Westerländer veranstaltet, der all' meine Freunde und Freundinnen noch einmal um mich versammelte. Grete Hahn erschien dabei im alten Nationalkostüm der Sylterinnen, welches seit Anfang dieses Jahrhunderts abgekommen, aber noch in einzelnen Exemplaren von mehreren Familien zum Andenken aufbewahrt wird. Es ist das Kostüm, von welchem ums Jahr 1650 der Bürgermeister von Husum schrieb: „Die Einwohner dieser Insul haben auch noch ihren besonderen Habit oder Tracht an Kleidung, insonderheit tragen die Weiber kurze Röcke, so nicht viel über die Knie herunter reichen, wie vormals die spartanischen Weiber auch sollen getragen haben, denen sie an Muth und Hertze sich auch vergleichen." — Meine kleine braunäugige Spartanerin sah reizend in diesem kurzen weißen Rocke aus. Sie trug dazu hohe, rote Strümpfe, ein weißes Tuch, das ihren Kopf vestalisch verhüllte, und den berühmten Smak — das altfriesische Hemd mit unzähligen Falten, „wozu einige dreißig Ellen Leinen gingen", und das, wie Clement behauptet von den Streifzügen der Friesen und Dänen her sich in Irland lange erhalten hat. Gewiss ist, dass das Hemd in England — freilich um ein Beträchtliches gegen sein friesisches Original verkleinert — noch „smock" heißt; sowie auch, dass dieser Smak ganz gewiss keine „dreißig Ellen Leinen" maß. Denn da man kein passendes Exemplar aufzutreiben wusste, nahm man eins von — meinen Hemden; und es stand dem Mädchen vortrefflich und sie gewann darin einen Reiz, den ich bisher nicht an ihr gekannt hatte. — Gretes Partner in Alt-Sylter Tracht war Kruse, der Tanzdeputierte im Bratenrock. Früher war dieser Mann Schiffskoch, und jetzt ist er Vergnügungscommissär von Westerland. Sein eigentliches Geschäft zwar ist das Fuhrwesen; allein damit will es nicht recht vorwärts, sintemal sein eines Pferd tot ist und sein anderes am Rande des Grabes geht. Das Musikchor, welches sich eine Weile in Misstönen der schreiendsten Natur erging, bestand aus vier Personen. Muck, der Schiffszimmermann, spielte die erste Violine, und Boysen, der Handelsmann, die zweite; die Klarinette blies Nickels, der Tausendkünstler, der sonst auch Daguerreotypen verfertigt, und den Bass strich der lahme Jens, der an Krücken geht. Aber nicht lange, so kam eine andere Musik aufs Tapet. Es schnarrte, dröhnte, gellte und pfiff, dass ich glaubte, es sei wohl ein halb Dutzend neuer Musikanten angekommen. Dem war aber nicht so; es hatte sich ein Junge vom Land herübergemacht mit einem wunderseltsamen Instrumente, das er zur Lust und Freude der Tanzenden, die noch einmal so rasch durch den Saal flogen, im reichlichen Schweiße seines Angesichtes bearbeitete. Der Körper dieses Instrumentes war eine Handharmonika, die er aber mit den Knien spielte, und während seine Rechte über das Tastwerk hin- und herfingerte, schlug er mit der Linken ein ans Bein geschnalltes Becken und stieß mit dem Mund in eine am Instrument befestigte Trompete, außer bei den zarteren Stellen, zu welchen er pfiff, so dass dieser Mensch mit jedem Glied, dass er rühren konnte, Musik machte, und zwar so lange, bis er von allem Arbeiten, Pfeifen, Blasen und Beckenschlagen schweißgebadet und halb lahm war. Dann bekam er eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, und auch die Übrigen setzten sich zu diesem Lieblingsmahl der Sylter nieder, bis der neugekräftigte Orpheus zu neuen Freuden rief.


Doch sieh, was ist das? Dort über das Grün kommt Grete, und vor sich breit im Sonnenschein trägt sie den „Smak", der, nach diesem nächtlichen Streifzug in die Mythe des Frauenreichs, als gewöhnliches Hemd in das Alltagsleben zurückkehren muss!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stillleben auf Sylt
032 Vornehmer Mann, Bauer, Ostfriesland, 16. Jahrhundert

032 Vornehmer Mann, Bauer, Ostfriesland, 16. Jahrhundert

033 Vornehme Leute, Ostfriesland, 16. Jahrhundert

033 Vornehme Leute, Ostfriesland, 16. Jahrhundert

034 Bäuerin, Vornehme Frau, Ostfriesland, 16. Jahrhundert

034 Bäuerin, Vornehme Frau, Ostfriesland, 16. Jahrhundert

038 Braut, Brautjungfer, Sylt, 17. und 18. Jahrhundert

038 Braut, Brautjungfer, Sylt, 17. und 18. Jahrhundert

039 Frau, Braut, Sylt, 17. und 18. Jahrhundert

039 Frau, Braut, Sylt, 17. und 18. Jahrhundert

alle Kapitel sehen