Westerland, am 01. September.

Der Sturm ist losgebrochen. In wahren Fieberträumen habe ich die Nacht verbracht. Das Haus schien zu zittern, der Regen schlug unaufhörlich rasselnd gegen die Fenster und die See brauste, als wolle sie die Dünen noch in dieser Stunde durchbrechen. Ich stand früh auf. Das Heideland, mit seinen düstern, zerstreuten Hütten lag unter schwerem Regen vor mir. Alles sah grau und finster aus, und der Horizont war trübe, trostlos und eng. Das erste menschliche Wesen, das ich sah, war der Strandvogt, der vorüberging. Er trug einen Friesrock, bis über die Ohren gezogen, einen Teerhut, hohe Stiefeln und einen mächtigen Stock. So ging er dahin, um an der Küste zu sehen, ob ein Unglück geschehen, ob ein Schiff in Gefahr. Ich hielt es nicht lange mehr im traurigen Stübchen aus; auch ich nahm Filz und Friesrock und folgte ihm. Über die Heide hin, den Dünen zu ging es, bis an die Knöchel im Wasser. Der Sturm sauste mir voll entgegen und hemmte zuweilen Atem und Schritt. Dann weiter bis an den nassen Sand; dann auf zu den Dünen, dann nieder und nun die See im rasenden Sturme vor mir. Die Luft war voll Salzschaum, der Strand bis dicht unter die Hügel voll vom Donner der Brandung. Die Möwen, die sonst ruhig dem Meere zuschweben, waren alle zurückgejagt; und im ängstlichen Fluge, mit Wehgeschrei umflatterten sie die Sandberge. Und Regen und Wogen und Aufruhr erfüllten den Westen, und Himmel und Wasser brauten in unheilvollem Durcheinander. Woge auf Woge — die eine wälzte sich heran, weit und langsam, nun, am Lande, hob sie sich und brach und stürzte mit schaurigem Gepolter, weißzischend, über die Fläche. Die andere, dicht dahinter, fing das rückkehrende Wasser auf, und jagte es mit erneuter Wut gegen den zitternden Strand. Und eine neue Woge kam — hier, und dort und überall, so weit das Auge reichte, und die Seele bebte, von der Urgewalt der Zerstörungsmusik berauscht. Und ewig, aus ihrem Untergange neu geboren, kehrte Welle auf Welle wieder, und es war, als ob dies grausige Getümmel, meilenweit, aus den Fesseln des Abgrundes losgelassen, nicht eher wieder ruhen werde, bis das Meer Alles verzehrt und verschlungen, den Sand, die Dünen, uns selber.

Weiter ging ich. Der Schaum der Brandung spritzte gegen meine Kleider. Fern, in der stürmischen Dämmerung des Regens, des Sturmes und des nahen Meeres kämpfte der Strandvogt. Kein Schiff war zu sehen, kein Segel. Ich dankte Gott, dass er den Kurs der an diesen Küsten irrenden Fahrzeuge nicht hierher in den vernichtenden Strudel gelenkt. Die Badekarren waren hoch in die Dünen hinaufgeschoben; Paulsen, der Bademeister, saß in einer derselben, und Mommsen, sein Gehilfe, saß in einem Boote, das er gleichfalls vor dem Wasser hinaufgeflüchtet. Sonst war Niemand in der Einöde des Strandes. Paulsen saß stille da und sein Auge ging aufs Meer und seine Seele folgte dem Sturm und den Wellen. Ich setzte mich zu ihm. Lange saßen wir stumm neben einander; dann begann er zu reden, und ich lauschte — beim Donner des Elementes — seinen Worten. Solch ein Wetter sei es gewesen, sagte er, das ihm vor Jahren und um diese Herbstzeit sein ganzes Glück und den sauren Erwerb eines Lebens zerschmettert habe. Er könnte jetzt ein reicher Mann sein, sagte er, und das schönste Haus auf Sylt haben, oder auch in einem eigenen Schiffe zur See fahren, anstatt hier auf den Badekarren zu sitzen und den Leuten die Badetücher zu trocknen. Ach, ach — er habe das schon lange verwunden: aber wenn er solch ein Wetter sehe, dann komme es wieder über ihn und er könne sich tagelang nicht vom Aufruhr des Meeres trennen. Damals, nach zwanzigjähriger Abwesenheit von der Insel, habe ihn zuletzt doch die Sehnsucht ergriffen und er habe auf Einmal Hab und Gut und Eigentum, welches er in Sacramento-Stadt besessen, verkauft. Warum habe er es auch getan? Tausendmal stehe er jetzt hier, am Rande des Meeres, und blicke hinüber gen Westen und frage sich, warum er das getan habe? Er könnte jetzt einen Palast in Sacramento-Stadt oder auch in San Francisco haben. Er habe so viel Gold gehabt; er wisse gar nicht, wie viel und wolle es auch gar nicht wissen, drei, vier Säcke voll. Mommsen, sein Gehilfe, habe auch einen Beutel voll gehabt. „Ist es wahr oder nicht, Mommsen?" fragte Paulsen. Mommsen richtete sich in seinem Boot auf, und mit einer täppischen Miene, zwischen Lachen und Weinen, sagte er: Ja, es sei wahr. „Wir bestiegen in Monterey einen Dampfer und fuhren mit fünfhundert Passagieren und einer starken Ladung Gold Mitte August ab. Die Fahrt bis an die irische Küste ging gut, und wir sahen schon die „zwölf Nadeln" über Galway. Da aber ging unser Unglück an. Gottes Fluch auf die irische Küste! Der Wind sprang nach Südost um, dann kam der Sturm und dann, noch ehe die Nacht da war, der Orkan. Wir konnten den Kurs nicht mehr halten, und statt gegen die Südküste, liefen wir gegen die Nordwestküste von Irland. Wir ließen Raketen steigen, um einen Lotsen zu bekommen. Aber, die Raketen verpufften im Sturm und kein Lotse kam. Das Schiff lief mit Gewalt gegen die Küste und uns Allen ward ängstlich zu Mut; der Kapitän ließ zwei Anker fallen, um es zum Stehen zu zwingen. Aber die Ankerketten rissen wie Garn, und die Maschine arbeitete aus allen Kräften gegen den Sturm, aber umsonst. Ich dachte, aus so vielen Stürmen bist Du nun glücklich herausgekommen, da Du noch Nichts zu verlieren hattest, als höchstens das Leben, und hier sollst Du verderben, mit Deinen Säcken voll Gold, die Du Dir mühsam erworben? Da setzte ich mich in meine Koy und meine Säcke um mich her und sagte: mit diesen oder gar nicht! Hab' ich das gesagt, Mommsen?" Ja, sagte Mommsen, das hat er gesagt; und er habe dasselbe gesagt, und seinen Beutel gleichfalls vor sich aufs Knie genommen. „So saßen wir zusammen in unsrer Koy und das Heulen des Sturmes war schrecklich, und die Maschine keuchte, wie wenn ihr der Atem wollte ausgehen, und das Schiff zitterte in allen Rippen. Mit diesen oder gar nicht, Mommsen! sagte ich, und wir waren fest zum Äußersten entschlossen. Aber Du lieber, grundgütiger Gott, was wird aus dem Menschen, wenn's nun wirklich ans Leben geht? Als ich gegen Mitternacht dicht neben unserer Koy einen Kapitän, der, kurz vorher erst selbst sein Schiff verloren hatte, sagen hörte: „Macht schnell, wir sind alle verloren!" da merkte ich, dass die Gefahr groß sein musste; aber ich suchte meinem Gehilfen Mommsen die Furcht auszureden und befahl ihm, bei den Säcken zu bleiben, ich wollte einmal oben nachsehen. Was sah ich da? Die Masten waren schon über Bord gegangen, und das Land — so viel man erkennen konnte — mit einem Tau zu erreichen. Ein Mann mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Arm, schrie: „wir wollen zusammen sterben!" Ein Matrose mit einem Ankertau stürzte sich ins Meer, um ans Land zu schwimmen; aber weg war er, ehe sich noch eine Hand um ihn bekümmern konnte. Und krach, krach ging es — das waren die ersten Stöße, und wir fühlten nun wohl, dass wir uns in Felsengrund befanden. Alles drängte sich in der großen Kajüte zusammen, totenbleich und frostzitternd, weinend und schreiend; und ein Geistlicher fing an zu beten und beim Jammern der Frauen und Kinder beteten Einige mit ihm. Die Stöße aber wurden gegen Morgen immer furchtbarer, und gegen drei Uhr Morgens war's zu Ende. Der Orkan warf das Schiff auf die Felsen der Küste. Da lag es in vier Faden Wasser, wenn's viel war, auf Leeseite und jede Welle gab uns einen neuen Stoß, so dass unser letzter Mut verschwand. Länger hatte es Mommsen auch nicht im Raume ausgehalten, und in der grauen Sturmdämmerung stand er auf einmal mit seinem Beutel vor mir. Wo hast Du meine Säcke, Unglückskind? fragte ich. Er sagte, sie stünden noch im Raume. Darauf lief ich mit ihm hinunter, um sie heraufzuschleppen. Ich hatte eben wieder das Verdeck erreicht und hielt mich knapp im Gleichgewicht, als plötzlich eine brausend daherkommende Welle die Breitseite fasste. Mit diesen oder gar nicht! rief ich Mommsen zu — da kam ein heftiger Schlag, der das Schiff an den Felsen drückte, es drehte sich noch einmal halb um sich selbst, dann kam ein dumpfes Getöse, zu meinen Füßen teilte sich der Boden und das Erste, was ich sinken sah, waren meine Säcke mit Gold. In dem Wahnsinn meines Schmerzes sprang ich ihnen nach — ich sah und hörte Nichts von dem Untergang der Anderen, wie im Augenblick alle Räume unter Wasser waren, und Alles, was nicht sank, von den zusammenbrechenden Trümmern des Vorderteils erschlagen ward. Mein Wahnsinn rettete mein Leben. Oft schon habe ich gewünscht, ich wäre da geblieben, wo die Anderen liegen. Ich schwamm nicht, denn ich hätte auch gegen die Wellen nicht schwimmen können; ich hielt mich nur eben, halb bewusstlos, über Wasser, und mehrere Male an den Strand und mehrere Male zurückgeworfen, blieb ich zuletzt halb tot auf dem Sande liegen. Wären hier Klippen gewesen, so hätte dieser letzte Stoß meinem Leben ein Ende gemacht. Als ich aus meinem Taumel erwachte, war es breiter Tag geworden; auf dem Wasser trieben die letzten Planken des Schiffes, und über die Felsen kam das irische Gesindel aus dem nächsten Küstendorf, um Strandgut zu bergen. Dafür hatte aber der Sturm gesorgt, dass sie Nichts fanden, als mich und noch etwa vierzig, die von der ganzen Schiffsmannschaft allein übrig geblieben, und Bettler waren, wie ich. Zuletzt fand sich auch Mommsen ein, der über seinen Beutel mit Gold heulte, und sich nicht einmal beruhigen wollte, als ich ihm sagte, ich hätte meine vier Säcke auch verloren. — So kamen wir denn, nach vierzehn Tagen, ärmer als wir gegangen, auf dieser Insel an, und sitzen allhier auf dem Sande von Westerland und denken an unser Gold, welches an der irischen Küste versunken und begraben liegt."


Paulsen schwieg und Mommsen, sein Gehilfe, desgleichen; und noch lange, nachdem ich schon gegangen, blieben sie sitzen, wie ich sie gefunden, Mommsen in seinem Boot, und Paulsen in seiner Karre, das Auge aufs Meer gerichtet und die Seele folgend dem Sturm und den Wellen.

Nach dem Frühstück, als der Tag vorgeschritten war und der Himmel sich ein wenig geklärt hatte, begab ich mich in die Wohnung des Strandvogtes. Er war nicht lange von seiner Wanderung zurückgekommen. Sein Gesicht war noch ganz gerötet vom scharfen Strich des Windes und des Salzwassers, seine Kleider hingen zum Trocknen am Feuer, und er saß vor einem Journal, um Aufzeichnungen über Richtung und Stärke des Windes zu machen, und ging darauf ans Fenster, um nach einem Instrument zu sehen „für einen gewissen Professor in Berlin, Namens Dove", wie er sagte. Hierauf führte er mich durch sein geräumiges Haus, zeigte mir Stuben und Verschlage, Viehstall, Heuschober — Alles unter einem Dach und dicht gegen das Wetter gemacht. Zuletzt kamen wir in die Scheune, in welcher das Strandgut bis zur Reklamation, oder wo diese nicht erfolgt, bis zur Versteigerung geborgen wird. Da lagen Haufen von Stangen und Gebälk aller Art, zersplittert und vom Salzwasser, in welchem es lange getrieben, ganz schwarz und zerfressen. Da lagen Schiffseimer und Porterkrüge und kleine Fässer und sonstiges Gerät. Da lag ein Namensbrett von einem Schooner, mit Namen: Magnet, der mit Mann und Maus an der Küste von Norwegen gesunken ist, und die Kajütentür einer Brigg, von der man weder Namen noch Schicksal bis jetzt erfahren hat. Jene Tür trieb im Frühjahr an und liegt nun in des Strandvogts Scheuer. Sie ist noch gut erhalten, die Farben sind noch erkennbar und folgender Spruch in englischer Sprache steht mit klaren Lettern darauf geschrieben:

      Winds may raise and seas may roar,
      We on his love our spirits stay,
      Him with quiet joy adore,
      Whom winds and seas obey.

Das heißt zu deutsch:

      Mag auch stürmen Wind und Meer,
      Still in Seiner Lieb' wir sind,
      Freudig geben mir Ihm die Ehr',
      Dem Meer gehorcht und Wind!

Als ich dem Strandvogt diesen Vers übersetzt hatte, da nickte er traurig mit dem Kopfe und sagte: Amen!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Stillleben auf Sylt