St. Petersburg - 2. Ankunft und erster Verkehr in St. Petersburg

Aus: Russische Denkmäler. In den Jahren 1828 und 1835 gesammelt von
Autor: Meyer, Friedrich Johann Lorenz (1760-1844) deutscher Jurist, Hamburger Domherr, Übersetzer und Reiseschriftsteller, Erscheinungsjahr: 1837
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, St. Petersburg, Reisebeschreibung, Städtereise, Stadtgeschichte, Sittengeschichte, Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Sitten und Gebräuche, Seereise,
Ob ungünstig oder günstig, tritt im Irdischen dem Menschen überall der Dinge Wechsel, bald schroff, bald mild entgegen. So geschah es auch uns vielfältig diesesmal bei der Ankunft in St. Petersburg, und späterhin. — Die lichte Dämmerung der romantischen russischen Hellnächte, geleitete uns einst recht poetisch über den finnischen Golf zu der Mündung der stolzen Newa, und zu der wunderschönen, leichtverschleierten Erscheinung ihrer Pallastufer und großartigen Denkmäler: ein dichter Nebel dagegen, senkte sich diesesmal schon am Frühmorgen alle Gegenstände der letzten schönen Fahrt verdunkelnd herab, und ging über zum Platzregen, als der svelt und leichter gebaute Pyroskaph „Olga“, zur Zwischenfahrt von Kronstadt nach St. Petersburg uns aufgenommen. Der reiche Palastkay war kaum sichtbar, und Regengüsse verfolgten uns bis zur Landung vor dem Hotel der Dampfschifffahrts-Kommission, wo ein dem Zollamt eingeräumter Kolonnensaal des Gebäudes das Gepäck der Reisenden zur Untersuchung seines Inhaltes aufnahm. — Milder und loyal-nachsichtiger, als diese in den meisten Ländern sonst schreckende und roh gehandhabte Operation hier geschah, ist uns in der christlichen Welt keine begegnet. Ein höflicher Oberbeamter des Zollwesens leitete die Unteroffizianten in der Untersuchung des Gepäckes. Kaum dass die der Reihe nach geöffneten Koffer etc. auf der Oberfläche und an den inneren Seiten mit leichter Hand berührt waren, wurden sie sorgsam schon wieder verschlossen. Zwar fielen dem Aufseher einige verbotene Gegenstände befremdend auf: unter andern das uns von der Hamburgischen patriotischen Gesellschaft überreichte Weihegeschenk eines silbernen Jubelpokals. Mit bedenklicher Miene hob er das Gefäß, als einen der Konfiskation unterworfenen Gegenstand hervor, gab ihn aber sofort wieder zurück, nachdem ihm die Bestimmung desselben, durch Übersetzung der freundlichen Inschrift erklärt war. Nur ein ungewöhnlich großer Ballen, den die übergroße Güte einer uns befreundeten Dame in Hamburg gegen eine Halbbekannte, uns zur Mitnahme übertragen, und dabei seinen ihr selbst unbekannten Inhalt fremd gelassen hatte, ließ der Oberbeamte nicht frei vorüber gehen. Stückweise ward sein Inhalt, aus verbotenen neuen Damenkleidern, Putz u. dgl. bestehend, gemustert, der von unserm Gepäck hierauf abgesonderte Ballen mit jenem zweideutigen Putzkram sorgsam wieder gefüllt, und dem Zolldirektor von Bibikoff zur freien Disposition und Entscheidung seines Schicksals, mit dem Schreiben eines edlen, uns nahe verwandten Freundes,*) der, bei dem Vorgang gegenwärtig, ihm die von uns nicht verschuldeten Verhältnisse der Sache erklärte, und sie seiner nachsichtigen Beurteilung empfahl, zugesandt. — Eine höfliche Erwiderung dieses Briefes erfolgte von Seiten des wohlwollenden Mannes einige Tage darauf, worin er den von uns schon verloren gegebenen lästigen Ballen zurück und zu unserer freien Disposition stellte.

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Die Klageworte des „frommen Äneas“: Erinnerung! „du weckst der alten Wunden unnennbar schmerzliches Gefühl!“ — im Sinn, und ähnliche Erfahrungen der peinlichsten Widerwärtigkeiten befürchtend, als die bei unserm ersten hiesigen Aufenthalt waren, **) betraten wir diesesmal am ersten Tag, den damals so oft vergeblich gemachten weiten Weg zur Regulierung des Reisepasses bei der Fremdenpolizei; entschlossen, jene herben Geduldsproben gleichmütiger wie damals, zu ertragen. — Vergeblich war jetzt Furcht und Sorge! Sei es nun, dass ein höherer Befehl die vormals unbefangenen Ankömmlingen von den Unterbeamten widerfahrenen Unbilden zeitgemäß entfernt hatte, oder dass persönliche Rücksichten dabei obwalteten: angenehm überraschend war jedenfalls die diesmalige, entgegenkommende, diskrete, loyale Behandlung von Seiten dieser Beamten und ihres würdigen Chefs des Staatsrats von Lenz. Was früher zahllose Formalitäten, vervielfältigte Wege und den herbesten Zeitverlust kostete, ward jetzt aufs pünktlich schnellste, heute durch Übergabe des Passes, dann morgen durch den Rückempfang des geregelten Papiers bewirkt, und späterhin die Ausfertigung der Aufenthaltskarte von der Spezialpolizei des Wohnungsquartiers besorgt. — Mit nicht größeren Schwierigkeiten wie diese, war bei unsrer Abreise die Ausfertigung des Rückpasses verbunden.

*) General-Major Baron Seddeler, jetzigem General-Inspektor der cantonierenden Bataillone Russlands, — Schwiegersohn des Verfassers.
**) S. „Darstellungen“ etc. S. 30 u. f.


Der ankommende Fremde folge in St. Petersburg unserm Vorgang bei der vorigen Ankunft, am ersten Tag in einer offenen Kalesche die Stadt zu durchfahren, um, ehe er zur Besichtigung ihrer Einzelheiten geht, einen allgemeinen Überblick derselben zu gewinnen. — Gleich mythischen Traumgebilden werden dem staunenden Blick dann jene wunderbar großartigen Herrlichkeiten vorüber schweben, wie sie in diesem Umfang und imponierenden Guss, in dieser Maße, Mannigfaltigkeit und Reichtum, keine andre europäische Stadt darbietet. — Jene Denkmäler sind es, jene Paläste und pallastähnliche Häuserreihen der Gassen, Kays und öffentlichen Plätze; jene Kirchen, Staatsgebäude, Akademien, und Hotels des Handels und der Gewerbe; jene prachtvollen kaiserlichen Institute, der Erziehung, der Heilung, der Wohltätigkeit gewidmet; jene in schöner Architektur glänzenden Kauf- und Zollhäuser, Magazine und Fabriken: dann die im Frühlingsblütenglanz prangenden schattenreichen Garteninseln mit ihren architektonisch heitern Landhäusern, umstoßen von der kristallenen Newa und ihren sich schlängelnden Armen; dann noch, die donnernden Schiffsbrücken dieses königlichen Stroms, und die asiatisch kolossal geformten Kanalübergänge; — endlich, die vom Kauf- und Verkaufgewühl gedrängt-vollen Märkte und die ungeheuren Räume der Marsfelder. — Dieser Inbegriff alles Großen und Glänzenden ist es, in der neuesten Imperialstadt Europas, — ein Riesenwerk, mit Riesenkraft ausgeführt, die Geburt des ein Jahrhundert kaum überschreitenden Zeitraums, — angerechnet von der Ära des großen Schöpfers dieser Palmyra des Nordens, Peter des Ersten, bis zu der Ära seines erhabenen Abstammens, Nikolaus des Ersten.

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Um sehenswerte Städte mit ihren individuell charakteristischen Eigenheiten ganz kennen zu lernen, und ihre einzelnen entgegentretenden Ansichten gemächlich zu genießen, muss man sie zu Fuß durchwandern. Das ist die durch Erfahrung längst bestätigte Regel verständiger Reisenden. In Städten solchen Umfangs wie Wien, Paris, London, und vor allen wie St. Petersburg hingegen, ist die Ausnahme von dieser Regel ein fast notwendiges Bedürfnis. — Die Dimensionen sind hier zu ungeheuer, die Weiten von einem Stadtteil zu dem entfernten zu groß und nur mit dem Opfer vielen Zeitverlustes zu messen. Zu beengt sind die, wenn gleich breiten und ebnen Fußbahnen längs den Gassen, durch die Masse von Gehenden, um auf diesen ohne langen Aufenthalt durchzukommen. Körperliche Anstrengung und Ermüdung sind natürliche Folgen solcher peinlichen Tagewerke, und um so mehr im Sommer, der die südlichen Fremden am meisten hier herlockt, wo die Hitze gar oft bis zu 24 Grad und wohl noch höher steigt. Nur unvollkommen und mühsam wird jedenfalls durch solche peinliche Mittel der beabsichtigte Zweck belehrender Unterhaltung beim Anschauen neuer und hoch merkwürdiger Gegenstande erreicht, wenn er dem durch körperliche Ermüdungen abgestumpften Geist des Wanderers nicht vielmehr ganz verlohren geht. — Zwar findet man auch in St. Petersburg, wie in allen Hauptstädten, überall auf Märkten, Kreuzwegen und Gassenecken der inneren Stadt, angeschirrte Fuhrwerke aller Formen in Masse haltend, bereit zur Aufnahme ermüdeter oder vor dem Regen flüchtender Fußgänger; doch ist diese Nothilfe wiederum, besonders für Ausländer, mit mancher Unbequemlichkeit verknüpft, und der Sprachunkundige dabei noch allen Prellereien und Missverständnissen der russischen Kutscher bloßgestellt. — Durch solche und ähnliche missliche Erfahrungen während unsers ersten Hierseins belehrt, wählten wir diesmal das eben so bequeme als behagliche, wenn gleich etwas kostspielige Mittel der Mietung einer leichten, offenen Kalesche zu den Tagesfahrten, die dann vom Frühmorgen bis zum Spätabend, eine Mittagsstunde ausgenommen, zu Gebote stehen. Die weite Entfernung unsrer Familienwohnung auf der Inselgrenze des botanischen Gartens, bis zum Mittelpunkt der Stadt, der Alexander Säule, anderthalb Stunden zu Fuß messend, machte diese Maßregel notwendig, deren Kosten monatlich dreihundert Rubel, nebst einem willkürlich geringen Trinkgeld an den Kutscher betrugen. — Nichts ist gemächlicher, als sich in einem solchen, leicht dahin fliegenden Fuhrwerk, von einer Ferne der Stadt schnell bis zu der andern zu bewegen; dann froh und wohlgemut bei sehenswerten Gegenständen und Ansichten, oder vom Fahren etwa ermüdet auszusteigen und sich die Kalesche folgen zu lassen; dann ausruhend sich wieder hineinzuwerfen, um im scharfen Trab den Weg zur Tagesordnung fortzusetzen. — Doch da sich jeder guten Sache im Leben, mehr oder weniger eine Schattenseite entgegenstellt, so geschieht es auch bei dieser. Es ist dies die Unkenntnis der Sprache. Vergebens sucht man in Petersburg einen deutschen Kutscher, und der Behelf mit einem russischen hat große Schwierigkeiten, um sich mit ihm durch die Zeichensprache über Ort und Zeit, über Absicht und Zweck der Tagesfahrt zu verständigen; — denn einige aufgefangene russische Worte zum Zuruf, als: „stoy, — na prava, — na leva, — brama, — paschol etc.“ — (Halt! — links, — rechts, — gerade aus, — vorwärts!) — reichen dazu lange nicht hin. — Man mache daher seine Tags- oder Stundenordnung vor der Abfahrt, und lasse solche am Hause dem Kutscher russisch bedeuten. Das eiserne Gedächtnis dieser gar gutmütigen, freundlichen und gefälligen Menschen, verbürgt die eintreffende Sicherheit der ihm aufgegebenen Richtungen: oder trifft man unter Weges eine andre Ordnung, so hält er auf den ersten: „stoy!“ die Pferde an, entdeckt dann schon an der Physiognomie und Haltung, einen Deutschen oder Franzosen, gleichviel ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, unter den zur Zurechtweisung immer äußerst willfährigen Fußgängern, um durch diese Mittelsperson sich den Willen seines Herrn russisch bedeuten zu lassen. — Die Fahrt auch außer den Barrieren der Stadt bis auf fünfzehn Werste, ist in dem Monatspreis des Fuhrwerks einbedungen, und man zahlt bei noch entfernteren Fahrten nur ein Geringes mehr, zur Vergütung der Fourage für Kutscher und Pferde, wobei jener sich dann recht glücklich fühlt, in Gegenden von Lustschlössern, oder bei besuchten Festen, oder bei Einladungen seines Herrn, einige Raststunden zu feiern, und nebenher ein kleines Trinkgeld zu gewinnen. Im Fall der Einladungen, harrt er und sein Gespann dann mit nicht zu ermüdender Geduld bis in die tiefe Nacht viele Stunden lang vor dem Hause des Gastfreundes.

Noch einen und nicht unwichtigen Vorteil, erreichten wir durch den Akkord unsers behaglichen Fuhrwerks und dem braven Gregor auf dem Bock. Es war die so ökonomisch als persönlich angenehme Ersparung eines kostspieligen Lohndieners, dieser fasst überall meistens überlästigen, eigennützigen, geschwätzigen, unwissenden, trägen, trügerisch unzuverlässigen und nebenher des geheimen Polizeisoldes verdächtigen Fersentreter. Man entbehrt leicht, bei einiger eignen Ort- und Sachkenntnis, diese zweideutig schlauen Lohnknechte, durch die Gewandtheit des gutmütig ehrlichen und zuvorkommend dienstfertigen, bärtigen Burschen, der nicht weniger geschickt die Stelle des Pferdebändigers auf dem Bock, als wie die eines dienenden Nachtreters auf der Gasse spielt. — Zwar bleibt bei allem diesen die Sprachunkenntnis immer sehr unbequem, und führt oft genug zu komischen Missverständnissen und irrigen Wortverwechslungen, bei der Unsicherheit im Ausdruck und dem Gleichlaut vieler russischen Worte mit ebenmäßigen Namen. Doch mag es wohl höchst selten geschehen, dass die Missdeutung solcher Worte oder Namen, zu so gefährlichen Folgen führt, als dergleichen für einen Feldjäger des Kaisers Paul I. hätte haben können. Dieser, wegen seines Eifers und wegen seiner Zuverlässigkeit im Dienste des Ministeriums von dem Zar ausgezeichnete, übrigens etwas rohe Mensch, hieß zu seinem Unglück, — Stoss, ein Name, der im Russischen zugleich so viel sagt, als: „ich verstehe nicht!“ — „Braver Kerl“, redete ihn einst der Kaiser an, „wie heißest Du?“ — Stoss! — Ungeduldig rasch wie immer, und schon verdrießlich darüber, etwas zweimal zu sagen, fragt der Kaiser noch einmal: „Ich frage, wie ist Dein Name!“ — Stoss! — Ei zum Teufel, bist Du taub, Kerl? ich frage, wie Du heißest?“ — Stoss! Stoss! —
„Man sperre“, rief Paul, „den Hund auf die Festung, bis er hören lernt.“ — Es geschah. Nach einiger Zeit erfuhr der Kaiser die Namen- und Wortverwechslung, ließ den Gefangenen zu sich rufen, beschenkte ihn ansehnlich, und der nicht taube, sondern wohl verstehende „Stoss“ blieb fortan des Kaisers liebster und treuester Feldjäger.

Meyer, Friedrich Johann Lorenz (1760-1844) deutscher Jurist, Hamburger Domherr, Übersetzer und Reiseschriftsteller (2)

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