Vorwort

Die nachstehenden Denkwürdigkeiten geben geschichtliche Rückblicke auf die Ereignisse, welche Europa in den Jahren 1852 — 1864 bewegt haben. Der Verfasser war während dieser Zeit zuerst am kaiserlich russischen, seit 1853 am königlich großbritannischen Hofe mit der Leitung der königlich sächsischen Gesandtschaft betraut.

Seine amtlichen Berichte in französischer Sprache sind in den sächsischen Staatsarchiven deponiert und konnten für die gegenwärtige Arbeit nicht benutzt werden; denn nach Abberufung des Gesandten von London im Jahre 1864 mussten auch die Konzepte seiner Berichte mit sämtlichen Gesandtschafts-Akten dem Ministerium übergeben werden.


In London stellte sich bald die Notwendigkeit heraus, die amtliche Korrespondenz durch vertrauliche Berichte und Privatbriefe zu ergänzen und zu erläutern. Diese Aufzeichnungen weder für die Kanzlei noch für die Akten bestimmt — wurden zumeist ohne Konzept flüchtig auf das Papier geworfen und sollten, nachdem der Minister davon Kenntnis genommen, verbrannt werden. Dieselben hatten den Zweck, dem Minister persönlich von den Stimmungen und Urteilen der leitenden britischen Staatsmänner im engsten Vertrauen Kenntnis zu geben. Es wurden darin vorwiegend zeitweilige Geheimnisse behandelt, welche schon aus Rücksicht auf die Quellen in den amtlichen Depeschen keinen Platz finden durften.

Der königlich sächsische Staatsminister des Auswärtigen, Freiherr von Friesen, ließ im Spätherbste 1866 einen Teil dieser vertraulichen Schriftstücke dem Verfasser im Originale zurückstellen; von anderen fanden sich Abschriften oder Auszüge in dessen Privatakten.

Wenn wir daraus eine Auswahl veröffentlichen, so geschieht dies in der Überzeugung, dass für uns Deutsche Alles, was vor dem Jahre 1866 liegt, der Geschichte angehört. Die Veröffentlichungen der Herren von Poschinger und Busch, die Biographie des Prinzen Albert (Prince Consort) von Sir Theodore Martin, die Memoiren Stockmars, Charles Grevilles, Lord Malmesburys und anderer beweisen, dass diese Auffassung in Deutschland wie in England geteilt wird.

Man wird uns daher die Veröffentlichung dieser Denkwürdigkeiten nicht verargen. Wir erfüllen damit die Pflicht, die einem jeden obliegt, welcher während welterschütternder Krisen in einem der großen Mittelpunkte des europäischen Lebens Menschen und Dinge zu beobachten Gelegenheit gehabt, die Pflicht, ein Scherflein zur Steuer der Wahrheit beizutragen und den Geschichtsschreibern der Zukunft Materialien zu liefern zu einer objektiven Auffassung unserer Epoche.

Die Jahre von 1852 — 1864 brachten die orientalischen Wirren und den Krimkrieg, die Phasen der westmächtlichen Allianz und den Pariser Kongress, den indischen Aufstand und den Krieg mit China, den italienischen Feldzug von 1859 und die Bildung des Königreichs Italien, die polnischen Unruhen, den amerikanischen Bürgerkrieg und das mexikanische Abenteuer, die deutschen Reformbestrebungen und den deutsch dänischen Krieg.

Alle diese Ereignisse, über welche im Zusammenhange amtlich berichtet werden musste, wurden in der Privat-Korrespondenz als bekannt vorausgesetzt. Dieselbe ist daher selbstverständlich lückenhaft. Um diese Lücken einigermaßen auszufüllen, fügen wir den an den Freiherrn von Beust (königlich sächsischer Staatsminister des Auswärtigen in den Jahren 1849 bis 1866) gerichteten vertraulichen Meldungen mehrere Schreiben des Verfassers an andere Personen chronologisch bei. Auch einige eigenhändige Briefe bekannter Persönlichkeiten sind mitaufgenommen worden.

Wir betrachten und behandeln diese Aufzeichnungen unter Weglassung des auf das Dienstverhältnis Bezüglichen nur als Tagebuchblätter, welche Beiträge zur Charakteristik der leitenden Persönlichkeiten: des Kaisers Nikolaus, des Kaisers Napoleon III., des Königs Victor Emanuel, des Prinzen Albert, Lord Derbys, Mr. Disraelis, Lord Palmerstons, Lord Ciarendoms, Lord Russells, Mr. Gladstones, der Grafen Walewski und Persigny, des Grafen Cavour, Garibaldis und anderer liefern, sowie oft die eigenen Worte wiedergeben, mit welchen dieselben in vertraulichen Unterredungen die Ereignisse beurteilten.

Ein Gesamtbild der Erlebnisse eines jeden Jahres würde aus diesen unter dem momentanen Eindrucke niedergeschriebenen Blättern kaum zu gewinnen sein , auch lagen aus den Jahren 1852 und 1853 mitteilungswerte Privatbriefe nicht vor. Wir stellen daher für jedes Jahr eine Übersicht voran, um dem Leser das Verständnis der photographischen Augenblicksbilder zu erleichtern.

Auf Vollständigkeit machen diese Randglossen zur Zeitgeschichte keinen Anspruch, da nur Selbstbeobachtetes und Selbsterlebtes darin aufgenommen wurde. Der Moment, die Geschichte unserer Zeit zu schreiben, ist noch nicht gekommen.
Baden-Baden, im August 1886.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches St. Petersburg 1852-1853