Zur Struktur und Semantik der wolgadeutschen Hochzeitseinladungen

Besonders interessant in verschiedenen Hinsichten sind die gereimten Hochzeitseinladungen, die im Manuskript angeführt werden.

Über ihre Herkunft ist nicht viel bekannt. Es ist aber die Tatsache nicht zu bestreiten, dass sie aus der alten Heimat stammen und sich in der ursprünglichen Form über mehr als 150 Jahre also bis zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erhalten haben. H. Dettmer betont, dass es zu Alter und Entstehung der gereimten Hochzeitseinladungen keine genauen Angaben gibt. Die Tradierung der Sprüche erfolgte weitgehend auf mündlichem Wege; frühzeitige schriftliche Fixierungen oder gar Veröffentlichungen unterblieben. Manches spricht für ein Entstehen gereimter Einladungssprüche im 17. und 18. Jahrhundert. Im Zeitalter des Barocks erlebte die Mode, anlässlich von Hochzeiten Gedichte zu verfertigen, ihren Höhepunkt [Dettmer 1976].


Er vermutet weiter die ursprünglich in Latein abgefassten „Carmina“ als Grundlage. Aus dem Jahr 1725 gibt es einen Beleg plattdeutscher, scherzhaft gehaltener Einladungsverse eines Adeligen aus Pommern/Nordostdeutschland. Weiter erwähnt Dettmer einen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Norddeutschland verbreiteten Spruch mit einheitlichem Typus. Er vermutet, dass sich der Prozess der Ausbreitung und Angleichung nur in einer längeren Zeitspanne vor 1800 vollzogen haben kann.

F. Lorenz und J. Gulgowski erwähnen die Sitte, zur Hochzeit durch gereimte Hochzeitssprüche einzuladen, die im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts üblich waren. Hut und Stock des Hochzeitsbitters oder des „Alten“ waren mit bunten Bändern geschmückt, er ritt auf einem Pferd oder fuhr mit einem Fahrrad zu den Einzuladenden, trat mit der Bitte an der anstehenden Hochzeit teilzunehmen an deren Tür. Diese Bitte wurde in Form eines Gedichtes oder Spruches vorgetragen. Die Bitter tragen einen schwarzen Anzug und einen Zylinder. Die Fahrräder werden bunt geschmückt (z.B. mit bunten Papierbändern). Es ist üblich, wenn man von Hochzeitsbittern geladen wird, denen als Zeichen der Freude ein buntes Band an den Hut oder den Stock zu binden. Weil solch ein Bitter ja so lange fahren musste, bis er zu ihnen gekommen ist. Dann folgte der Spruch etwa in dieser Form:

„Gelobt sei Jesus Christus! Ich bin ausgesandt zu euch, Herrschaften, nicht von mir selbst, sondern von den beiden jungen Herrschaften, damit ihr euch keinen Weg macht weder nach Lauenburg noch nach Bütow, denn darüber tut der Kopf weh nicht mir allein, sondern auch den beiden jungen Herrschaften, damit ihr euch am Montag um die achte Stunde im Hochzeitshause einstellt. Dort wird getrunken werden, dort werden sein Flaschen voll Wein und wird sein Bier und Gebäcke Brot. Danach nach dem Essen aus dem Hochzeitshause zur Kirche Gottes, aus der Kirche Gottes zum Hochzeitshause. Dort sind zwei gehörnte Ochsen, einer in der Kammer und einer auf dem Hofe, zwei verschnittene Eber, ein Mandel Gänse, fette Schäfchen für die Frauen, fette Hammel für die Männer, fette Böcke für die Herrinnen, fette Lämmer für die Mädchen. Es wird dort sein ein Mandel Sperlinge, Truthähne, und damit jeder gesund sei, werden dort sein zwei Hasen an der Wand, vielleicht bekommen wir auch von denen. Wir werden feiern Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, am Freitag werden wir fragen, ob das das Ende ist oder der Anfang. Wer sich bis zum Freitag unterhalten will, der darf den Beutel mit Geld nicht zu Hause lassen. Ich bin ein reisender Mensch und bitte, daß mein Beutel nicht leer bleibt, ich habe ein braunes Pferdchen und bitte um Hafer für dasselbe.“ [Mitteilungen…]

Danach bot man ihm selbstverständlich auch einen Schluck Wein oder Bier an und gab ihm ein wenig Geld. Der Brauch, zur Hochzeit mit Hilfe eines Hochzeitsbitters einzuladen hat sich bis heute erhalten, aber die gereimten Sprüche oder Gedichte sind allmählich durch kurze formalisierte Texte auf Postkarten verdrängt.

Eine kanonische Form konnten die gereimten Hochzeitseinladungen erst mit der Zeit erreichen, und ihre endgültige Fassung, die wir im Manuskript von Dulson finden, könnten sie erst Ende des Jahres 1800 bekommen haben. Texte dieser Gattung wurden von den deutschen Kolonisten in ihre neue Heimat mitgebracht, wo sie erhebliche Änderungen erlebt haben mussten, vor allem betrifft das den Wortschatz.

Also schauen wir uns diese gereimten Hochzeitseinladungen, die im Hochzeitsbrauch der Wolgadeutschen Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts üblich waren, genauer an.

Nach dem Umfang waren die Einladungen relativ groß. Sie zählen bis 45 Zeilen (Krassnojar, Kana, Schwed, Obermonjour, Dönhof, Jost, Kautz, Holstein, Tscherbakowka, Neu-Laub, Frankreich, Mühlberg). Jedoch sei hier bemerkt, dass es auch ganz kurze Texte gibt (Ährenfeld, Dietel, Hockerberg, Neu-Norka). Die Gründe für den unterschiedlichen Umfang dieser Texte können wahrscheinlich nicht mehr mit Sicherheit festgestellt werden. In einigen Fällen waren sicher die nicht sorgfältig ausgewählten Informanten (die Gewährsleute) schuld, die die Sprüche nicht mehr gut kannten. In anderen Fällen war es wahrscheinlich mit dem beginnenden Schwund des Brauches aus verschiedenen Gründen verbunden. Jedenfalls muss das noch erforscht werden. Auf den unterschiedlichen Umfang der Hochzeitseinladungen wies auch schon V. Schirmunski hin, indem er betonte, dass sich die Einladungen der Wolgadeutschen in einer älteren und volleren Form, nämlich in der klassischen Form erhalten haben [Schirmunski 1992: 99-100]. Die wolgadeutschen Texte sind durch einen reicheren Wortschatz und Stilmittel gekennzeichnet. Die Hochzeitseinladungen der ukrainischen Deutschen sind kürzer und mehr formalisiert. Sie enthalten nicht so viele stilistische Mittel wie Vergleiche, Epitheta, Metaphern und andere expressive Sprachmittel.

Im Großen und Ganzen weisen die Einladungen in der Regel folgende Komponenten auf: zunächst werden der Hausvater und die Hausmutter begrüßt und angesprochen, dann wird der Grund ihres Besuches erklärt, auf die Attribute der Hochzeitsbitter hingewiesen, dann wurde die Bitte geäußert, an den Stock ein Band oder ein Taschentuch zu binden, wenn man die Einladung angenommen hat. Sehr oft wurden auch die Trachten der Jungvermählten beschrieben. Die nächste Komponente der Hochzeitssprüche ist die möglichst bildhafte Darstellung des Hochzeitsverlaufs: zunächst wurden die Hochzeitsgäste aufgefordert, zusammen mit dem jungen Paar in die Kirche oder ins Padersche (ins Haus des Pfarrers) zu gehen.

Dann wurden die Musikanten erwähnt und die Musikinstrumente aufgezählt, sowie Lieder und Tänze genannt, die beim Hochzeitsschmaus angeboten werden. In jedem Text wird den Speisen und Getränken besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wird sehr stark übertrieben und dem Vergleich und der Ironie im engeren Sinne freier Raum gegeben: „alle Kübel sind voll vom Branntewein, ein Kalb von sieben Wochen hat dreißig Pud fast ohne Knochen, im Keller liegt ein starkes Bier, glaubt nur, mir graut es selbst dafür u.v.m“. Aus diesen Texten kann man viel über die Speisen erfahren, die am Hochzeitstisch angeboten werden: Fleisch, Salat, Kwass, Kuchen, Kesselkuchen u.a. Besonders deutlich wird darauf hingewiesen, dass der Hochzeitsvater viel Branntwein und Bier hat, in vielen Fällen wird unterstrichen, dass das Bier aus Saratow kommt. Das konnte sich sicher nicht jeder Bauer leisten, und das war ein Mittel, die Eingeladenen zum Besuch der Hochzeit zu bewegen.

Wenn die Hochzeitsbitter Grund hatten, anzunehmen, dass unter den Geladenen wilde Burschen sind, fügten sie wohl eine kleine Unterweisung über anständiges Benehmen hinzu: „… denn es ist doch kein’ Manier, dass man die Hochzeit mit Streit zier’“. Dann folgte die eigentliche Einladung. Jedoch, bevor der Hochzeitsbitter den Tag der Trauung nannte, bat er um ein Gläschen Wein oder Kleingeld, sonst drohte er, den Hochzeitstermin nicht zu nennen. Abschließend folgte die Forderung, dass die Gäste Löffel, Gabeln und Messer nicht vergessen, sonst müssen sie mit den Fingern essen.
Unter dem Einfluss der Kontaktsprache sind in diese Texte russische Wörter aufgenommen worden. Die meisten Entlehnungen bezeichnen Dinge, die in den Alltag der Kolonisten durch die Kontakte mit Russen aufgenommen und von den Wolgadeutschen als unentbehrliche Lexik verstanden wurden, weil sie dafür keine deutschen Benennungen kannten. Diese entlehnten Wörter sind noch nicht zahlreich und betreffen nur Realien, die im Deutschen fehlen. So werden häufig folgende Wörter gebraucht: Kopn, Gopne (Heuhaufen), Birne und die an der Wolga verbreitete Sorte "dulja" Dulen, sowie der Salawalnik (der Weinschenker), Pud (16 Kilo), Kwass (ein russisches sauer-süßes Getränk). Aber die typischen deutschen Speisen wurden in entsprechender Mundart genannt: Kuchen, Bier, Fleisch, Honig, Schampagner, Brandwein, Bratwurst, Kesselkuchen, Spannferkel, merbe Kuchen, die Kuchen werden gekneckt (geheckelt) und in der Pfanne aufgezweckt und geschmiert mit Bienendreck (Honig), Hirsenbrei, Galra, fauler Käse, Tee, Kaffee etc.

In den Einladungen werden auch Haustiere genannt, die zur Hochzeit geschlachtet wurden: Hinkel, Hahn, Ochs, Kuh, Federvieh, Ferkel, Kalb, Schwein u.a. Außerdem werden die Musikinstrumente genannt, die unter den Kolonisten populär waren: Dudelsack, Hackbrett, Geige, Pfeife, Trompeten, Schermäten, Flöte.

Humorvolle und lustige Färbung verleihen den Einladungen die zahlreichen Übertreibungen und Vergleiche, manchmal grenzen diese an Grotesk: Kesselkuchen in einer Reih, die sitzen da wie Kopn Heu; die (Spannferkel) sind gefüttert und so fett, wie ein ausgetert Wagenbrett; tanzen wollen wir, dass die Schuhriemen platzen; die Kuche, die sind so merb gebacken, man muss sie mit der Axt verhacken; ein Hahn, der ist so fett, wie ein gedörrtes Wagenbret; eine Kuh, die ist so hoch, dass kaum ein Vogel darüber flog, glaubt, diese ist gewiss nicht klein, hat hundert Pud an jedem Bein; ein Kalb von sieben Wochen hat dreißig Pud fast ohne Knochen; die Kuchen sind dick und rund, ein mancher hat wohl zwanzig Pfund; im Keller liegt ein starkes Bier, es graut mir gar selbst dafür; und das Schaf das war so groß, hat 18 Pud auch ohne Kop; und das Schwein, das war jetzt fein, hat 50 Pud wohl ohne Bein; und der Hahn, der war so dick, hat 3 Pud ja wohl ohne das Knick; an den leeren Eierschalen haben dreißig Mann zu tragen; für jeden Gast wird ein Becher hingestellt, der ein Viertel Eimer hält u.a.

Natürlich konnten diese Texte, als eine besondere Form der Folklore in den Jahren der Deportation und der Verbannung, als die Wolgadeutschen zerstreut leben mussten, keine weitere Entfaltung erleben können. Die wichtigsten Gründe für ihr Absterben waren aber auch die Zunahme der Mischehen, der Verlust der Muttersprache und das Fehlen der Kontinuität bei der Pflege der eigenen Folklore. Diese Texte konnten nur unter den Bedingungen einer geballten Ansiedlung eines Volks erhalten bleiben. Aber den Aussagen von Augenzeugen zufolge sowie in literarischen Werken der russlanddeutschen Autoren wurden diese Texte in Ballungsgebieten der Sibirien- bzw. Altaideutschen noch in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet. Dabei ist andererseits zu erwähnen, dass Dulson schon damals in den 30er Jahren bemerkt hat, dass die gereimten Hochzeitssprüche allmählich durch schriftliche Einladungen verdrängt werden, die an die Gäste per Post geschickt wurden.

In jedem Fall sind diese Texte nicht nur als unschätzbare Zeugen von dem Stand der kulturellen Entwicklung einer Volksgruppe, sondern auch als wichtige Dokumentation ihres Sprachzustandes unter den Bedingungen einer Sprachinsel auszuwerten. Diese Materialien gewähren die Möglichkeit, einen Vergleich mit ähnlichen Erscheinungen in anderen Sprachen, z.B. im Russischen anzustellen.

Den größten Text einer Hochzeitseinladung bringt E. Saib, ein Pastor aus der Kolonie Warenburg, die 7 Kilometer von Preuß entfernt lag. Dieser Text ist vor dem 1. Weltkrieg aufgezeichnet, etwa 20 Jahre früher, als das die Gewährsleute von A. Dulson gemacht hatten. Im Vergleich zu den Texten von Dulson ist diese Einladung viel umfang- und inhaltsreicher. Das könnte davon zeugen, dass in der Zeit der Revolution, des Bürgerkriegs und des Hungers in den 20er Jahren, als für die Pflege des kulturellen Erbes das Notwendigste fehlte, viele Texte der Folklore verloren gegangen sind. Dieses Schicksal traf auch die Hochzeitseinladungen, in denen in Folge der genannten Ereignisse ganze Teile und Zeilen vergessen wurden. Zum Vergleich und als Beispiel für eine Hochzeitseinladung in klassischer kanonischer Form wird hier der Text der von E. Seib vollständig angeführt [Seib 1967/68: 164-165]:

Wir kommen zu euch hereingeschritten
und woll’n euch auf die Hochzeit bitten.
So grüßen wir euch, ihr lieben Leut,
und bringen euch ’ne Hochzeitsfreud!
Braut und Bräutigam haben uns gesandt,
das seht ihr hier an Stock und Band.
Sie lassen bitten insgemein:
ihr sollt die Hochzeitsgäste sein,
mit ihnen in die Kirche gehen,
um ihre Freud’ mit anzusehen.
Der Pastor kommt geschwind herbei
und macht den Bund: kopuliert die Zwei.
Geblasen wird ein großes Horn
bis vor die Kirch und vor den Dorn.
Und wenn die Trauung ist vorbei,
dann macht die Musik ihr Geschrei.
Dann geht es nach dem Hochzeitshaus,
dort ist vorhanden ein fetter Schmaus.
Allerlei Vieh ward angeschafft
und zu der Hochzeit abgeschlacht’t.
Ochsen, Kühe, Kälber, Schwein’
werden dort in Menge sein.
Dazu auch noch viel Federvieh,
das kam geflogen in aller Früh.
Dies alles ist so fett gemäst’t,
es wird euch schmecken, liebe Gäst’!
Ja, wollt ihr wissen, was ich mein’,
was das für Küh und Ochsen sein?
Der Ochs ist hundert Pud an einem Bein,
das ist doch gewiss nicht klein!
Ei, da hat man lange zu kochen
Feuer, Fleisch und Ochsenknochen.
Ja, noch länger muss man essen,
bis man solchen Ochs’ gegessen.
Und eine Kuh aus Engelland –
auszusagen eine Schand’!
Die war so schrecklich hoch,
dass kaum ein Vogel drüber flog.
O da hat man große Müh’,
abzuschlachten solches Vieh.
Und ein Kalb von sieben Wochen
hat dreißig Pud fast ohne Knochen,
und dieses ist so fett gemäst’t,
dass man zunächst das Fett auspresst.
Ja, da gibt’s wirklich gute Braten
für alle Gäste, die wir laden,
und obendrauf drei fette Schwein’!
Das soll das Allerbeste sein.
Man hat davon schon Wurst gemacht.
Die hat uns heut schon angelacht.
Die ist so dick wie eine Kuhl (gefüllter Mehlsack),
hat Schnuttel wie ’n Lehnenstuhl.
Fünf fette Gäns’ mit weißen Federn
sitzen dort schon auf den Treppen
und warten mit off’nen Augen,
bis man ihnen tut die Köpf’ abhauen.
Die Gänse sind zwar nicht so klein,
wie sie uns zu sehen sein,
wenn sie fertig sind gebraten,
haben sie noch zwei-drei Faden.
Der Welschgickel sitzet schon im Kroppen,
den tun die alten Weibsleut’ kochen.
Seine Größe auszusagen,
möcht’ ich mündlich gar nicht wagen.
Ich möcht’ dabei im Reinen bleiben
und ihn auf Papier beschreiben,
da braucht man zu so einem Tier
wohl 12 bis 13 Bogen Papier.
Auch Kuchen sind schon in dem Ofen.
die sind von Suvel eingeschoben,
Kuchen von fünf Ellen hoch,
und Butterklöß’, wie ’n Kopf so groß!
Die Kesselkuchen all in einer Reih’,
die sitzen da, wie Kopna’ (Haufen) stehn.
Dies hab’ ich euch nun kundgetan.
Mein Stock, der möcht’ ein Bändchen han.
Bekommt mein Stock ein schönes Band,
so mach’ ich euch noch mehr bekannt.
(bekommt ein Band).
Potz Tausend! Was fällt mir da noch ein?
Ich schweig ganz still vom Brautewein!
Und ’s sind doch alle Fässer voll;
das weiß der Hochzeitsvater wohl.
Im Keller liegt ein starkes Bier,
Glaubt nur, es graut mir selbst dafür!
Wer davon wird zu voll sich saufen,
kann nicht mehr gut nach Hause laufen.
Dulen (Birnen) sind dort auch vorhanden,
zu vergleichen – eine Schande!
Kurz: ein deutscher Bauernwagen
hat an einer Dul’ zu tragen.
Rosinen, Zwetschgen sind dort viel,
die Hutzeln haben noch den Stiel.
Der Koch, der sitzet in der Küchenecken
und tut die Hutzelstiel’ ablecken.
Fünf Weiber, sauber, schön und zart,
die richten ’s zu nach bester Art;
Sie woll’n noch merbe (mürbe) Kuchen backen
und auch das Fleisch recht klein zerhacken.
Auch Musikanten sind schon da.
Die spielen: hopsa! Tra-la-la!
Sie sitzen nicht mehr drauß’,
sie spielen schon im Hochzeitshaus.
Mit Geigen, Hackbrett, Dudelsack,
da kann man tanzen nach dem Takt.
Die schönsten Mädchen noch dazu…
Oi! Da geht’s: Hopp! Hopp! Juchhu!
Zuletzt hab’ ich ’ne kleine Bitt’:
Teilt mir ein Gläschen Branntwein mit.
Und habt ihr keinen Schnaps zu Haus,
so gebt mir ’n paar Kopeken raus.

Eines will ich euch noch sagen,
dass ihr euch nicht tut schlagen.
Wenn ihr seid voll Brautwein schier.
denn es ist doch kein’ Manier,
dass man mit Streit die Hochzeit zier’.
Es ist ja auch kein Kerbfesthaus,
dass man schlägt die Fenster naus.
Mein Verschen wär’ noch lang nicht aus,
doch muss ich fort ins Nachbarhaus.

Haben nun die Hochzeitsbitter ein Band an den Stock bekommen, ihr Schnäpschen getrunken oder das Taschengeld eingesteckt, so verließen sie das Haus, um weiter zu gehen und zu laden. Man kann sich vorstellen, in welchem Zustand sie am Ende ihrer Mission waren. Deshalb konnten sie bei den letzten Hochzeitsgästen nicht einmal die Hälfte ihres Hochzeitsspruchs und reimten „Frau und Sau“. Ist über die Braut schon ein Gerede im Dorf, so fügen sie wohl noch hinzu:

Eines hab’ ich noch zu sagen:
Tut euch nicht zu den Trollern schlagen,
die Trollgäst’ haben kein’ Verstand,
sie reiben ihre Weisheit von der Wand.

Außer den Hochzeitseinladungen, deren Texte ziemlich vollständig angeführt werden, sind im Manuskript auch andere Gattungen der Folklore angeführt: Lieder, Zaubersprüche, Brauchsprüche, die unter Wolgadeutschen verbreitet waren.

Im Manuskript ist der volle Text der Szene, die sich beim Abholen der Braut abspielt, angeführt. Auch Texte der Hochzeitslieder kann man darin finden, leider nicht in vollem Umfang. Dies ist nicht die Schuld der Informanten, denn dieses Ziel wurde ihnen nicht gestellt. Außerdem fehlt im Manuskript das Gedicht, das die Braut beim Abschied von ihrem Haus aufsagt. Um das nachzuholen, wird hier der Wortlaut eines solchen Gedichts aus der bereits erwähnten Arbeit von E. Seib angeführt [Seib 1967/68: 169-170].

Das Gedicht muss eigentlich die Braut aufsagen, da es ihr aber schwer fällt, selbst zu sprechen, beauftragt sie eine Freundin oder einen Paten für sie das zu tun. Dem Gedicht werden folgende Worte vorangeschickt: „Liebe Gäste, da ihr alle, sämtlichen Freunde und alle gegenwärtigen Hochzeitsgäste, hier beisammen seid, so lasst uns mit anhören den Abschiedsdank unserer Braut“. Ferner folgte das Gedicht, das entweder vorgelesen oder vorgetragen wird:

Nun so lang bewohntes Haus,
ich zieh’ im Gottes Namen aus.
Ich nehme nun von euch Ade
und trete in die heil’ge Eh’.
Ade, ihr lieben Eltern mein,
ich dank’ für alles Gute fein.
Gott gebe euch dafür den Lohn
und zier’ euch mit der Himmelskron’!
Wie manchen schweren, sauren Gang
Tat’t ihr um mich mein Leben lang,
wie manche schlafenlose Nacht
hab’ ich euch öfters doch gemacht!
Ade, o liebes Mutterherz,
dem ich gekostet manchen Schmerz;
Auch, da ich ward zur Welt geboren,
habt ihr viel Trän’n um mich verloren.
Ihr habt viel Müh’ mit mir gehabt,
bis ihr mich habt so weit gebracht,
sofern es Gottes Wille sei,
zu treten in die Ehefreud’,
habt Dank vielmal um dessentwegen!
Ich wünsche euch viel Gottessegen,
da nun der Umstand dieser Zeit
uns heute voneinander scheid’t.
So kann ich nichts mehr tun allhier,
als herzlich danken für und für.
Nun, werte, liebste Eltern mein,
mein Bleiben hier wird nicht mehr sein.
Ich möchte aber bitten noch:
Was ich versehn, vergebt mir ’s doch!
Gott, der ja über alles wacht,
der nehme euch hier selbst in Acht.
In euren alten, schweren Tagen
Woll’ er euch auf den Händen tragen.
Ja, bittet selbst nach seinem Rat,
wie er es doch verheißen hat.
Kann ich euch jetzt, in meinem Stand,
mit Flehen gehen Hand in Hand.
So ist es meine Zuversicht,
dass er uns wird verlassen nicht.
Nun Eltern, wenn ich scheiden soll,
so lebt in Jesu recht und wohl,
bis wir gelangen droben an,
wo Scheiden nicht mehr g’schehen kann.
Zuletzt, mein Gott, so bitt’ ich noch,
hab Acht auf sie und führ sie dort
nach aller überstand’ner Not
zu dir, mein lieber Herr und Gott.
Nun sag ich auch noch besten Dank
euch, meinen Paten, insgesamt.
Für eure Müh’ belohn euch Gott
und helfe euch aus aller Not.
Euch aber, ihr Geschwister mein,
befehl’ ich Gott, dem Herrn allein.
Er gebe euch viel Glück und Segen
auf allen euren Wegen.

Ade, o liebes Vaterherz,
ade, o liebes Mutterherz,
ade, o ihr Geschwister mein,
ade, all ihr im Hause sein.
Hat Gott es so beschlossen,
so will ich unverdrossen
in meinen Eh’stand gehen.
Kein Unfall unter allen
wird mir zu harte fallen.
Ade! Ade! Ade!

Nach dieser rührenden, tränenreichen Abschiedsszene beruhigen sich alle allmählich und begeben sich in das Hochzeitshaus in folgender Ordnung: voran gehen die beiden Hochzeitsbitter mit ihren bebänderten Stöcken, nach ihnen kommen die Musikanten, dann die Braut, ihr zu beiden Seiten die „Brautführer“, das heißt die Brautburschen, denen zur Seite die Brautmädchen. Hinter der Braut geht der Bräutigam, geführt von zweien seiner Petter, dann folgen die Gäste, hinter ihnen die Eltern und zuletzt die Schießer, die ab und zu einen Schuss abfeuern. Im Hochzeitshaus werden alle aufs freundlichste aufgenommen und wieder mit Schnaps und Kuchen bewirtet.

Hochzeitseinladungen sind auch als Dokumentation der deutschen Sprache in den 20-30er Jahren des 20. Jahrhunderts einzuschätzen. Die aufgezeichneten Texte geben vor allem Aufschluss über den Zustand der deutschen Sprache in den wolgadeutschen Kolonien, da es in jener Zeit gerade um die Sprache sehr kompliziert bestellt war.

Einerseits wurde in allen Dokumenten der Sowjetregierung sowie in der wolgadeutschen Verfassung von 1926 das uneingeschränkte Recht für den Gebrauch der deutschen Sprache festgeschrieben. Der gleichberechtigte Gebrauch der deutschen Sprache in allen Bereichen des politischen und geistig-kulturellen Lebens wurde durch eine ausdrückliche Weisung des Exekutivkomitees der ASSRdWD vom 19. Mai 1924 weiter ausgestaltet. Amtliche Verordnungen wurden seither im Regierungsorgan „Nachrichten“ in Deutsch abgedruckt. In Gebieten mit gemischter Bevölkerung galt unbeschadet dessen laut Verfassung für die Amtssprache das Mehrheitsprinzip. Ausgehend von diesen generellen Regelungen verfügte das Volkskommissariat für Bildung die Einrichtung deutschsprachiger Schulen in Siedlungen mit ausschließlich deutscher Bevölkerung.

Andererseits war die Anwendung der „richtigen“ Sprache am „richtigen“ Ort schwer durchzusetzen – Geschäftsführung und Gespräche in den Sowjetbehörden erfolgten meist in russischer Sprache. Die immer wieder betonte „Nationalisierung“ oder „Verdeutschung“ (russ. korenisazia) der Behörden erwies sich als besonders sensible Aufgabe. Die Folgen der zaristischen Russifizierungspolitik waren nicht von heute auf morgen zu überwinden. Zu diesem Sprachdilemma gehörte, dass Wolgadeutsche mit einem bestimmten, an russischen Schulen erworbenen Bildungsniveau russisch besser sprachen als deutsch.

Die mangelhaften Deutschkenntnisse lassen sich an den Texten der Hochzeitseinladungen merken. Das sind sehr oft falsche Pluralbildungen, wie *Pferden, *Löffeln u.ä.

Durch Krieg, Revolution und Hungerjahre war das gesamte Schulsystem zu Beginn der zwanziger Jahre in arge Mitleidenschaft gezogen worden. In den meisten Kolonien gab es keinen Unterricht mehr. Erst die Gründung der Wolgarepublik bewirkte die Herstellung geordneter Schulverhältnisse für alle Kinder.

Abschließend soll betont werden, dass in dieser Publikation der Stil und die Schreibweise des Autors beibehalten werden, wie sie im Manuskript, das im Staatsarchiv der Geschichte der Wolgadeutschen in Engels aufbewahrt wird [OGU GIANP. F-1821. Op.1. D. 55. L. 1-27].
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sprach- und Kulturerbe der Wolgadeutschen