Zur Geschichte der ethnografischen und linguistischen Forschungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Die kurze Zeit der Existenz der Wolgadeutschen Autonomie wird von den Wissenschaftlern unterschiedlich eingeschätzt. In der Regel wird betont, dass gerade in dieser Zeit die Wolgadeutschen das erste Mal in ihrer Geschichte in Russland ihre Staatlichkeit hatten, sie konnten hervorragende Erfolge bei der Pflege ihrer Sprache und Kultur erzielen. Aber gerade in dieser Zeit machte sich ein Rückgang der Volkskomponente ihrer Kultur bemerkbar, der auf die Verstärkung des atheistischen Kampfes und die damit verbundene Schließung ihrer Kirchen und Vernichtung der Geistlichen zurückzuführen ist. Die Religion, der Glaube, die schon immer bei der christlichen Erziehung der Menschen eine hervorragende Rolle gespielt haben, mussten in den Hintergrund treten.

Die Geschichte der wolgadeutschen Dialektforschung und der ethnografischen Studien war schon immer eng mit der politischen Situation in Russland bzw. UdSSR verbunden. So hat der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Verabschiedung der antideutschen Gesetze vom 2. Februar und 13. Dezember 1915 den jungen talentierten Sprachforscher Georg Dinges daran gehindert, seine erfolgreichen Dialektforschungen fortzusetzen, die er in seiner Studienzeit an der Moskauer Universität begonnen hatte. Wie bekannt wurde am 10. Juni 1916 von der Zarenregierung eine Vorschrift angenommen und ein Komitee zur Bekämpfung des deutschen Einflusses gegründet. Am 12. Juli desselben Jahres hat der Ministerrat den muttersprachlichen Deutschunterricht und den Unterricht in deutscher Sprache in allen Lehranstalten, darunter auch in den evangelischen Schulen, verboten. Eine Ausnahme war nur der Religionsunterricht [Poslowizej i pogoworki…2001: 6].


Das weitere Schicksal der wolgadeutschen Forscher war auch an Repressalien reich. Man vergleiche nur die Schicksale der hervorragenden Wissenschaftler wie August Lonsinger, Peter Sinner, Paul Rau, Georg und Emma Dinges, Andreas Dulson und v.a. [ebenda: 8]. Repressalien wurden auch solche Germanisten und Literaturwissenschaftler wie Viktor Schirmunski und Franz Schiller ausgesetzt.

Eine intensive Dialektforschung konnte erst nach der Oktoberrevolution und der Gründung der Arbeitskommune des Gebiets der Wolgadeutschen begonnen werden. 1919 übernahm Georg Dinges, der zunächst Lektor, dann Professor der Saratower Universität war, die wissenschaftliche Betreuung der wolgadeutschen Mundartenforschung. Am 1. Oktober 1925 nahm, geleitet von Professor Georg Dinges, in Saratow die Zentralstelle für wolgadeutsche Mundartenforschung ihre Arbeit auf. Sie war das erste wissenschaftliche Forschungsinstitut, dessen Gründung die wolgadeutsche Regierung veranlasste. Die Aufgabe dieser Einrichtung bestand darin, aus allen wolgadeutschen Siedlungen nach bestimmten Gesichtspunkten mundartliches Material zusammenzutragen und wissenschaftlich zu bearbeiten. Ein Wörterbuch wolgadeutscher Dialekte, ein linguistischer Atlas, eine Sammlung wolgadeutscher Sprichwörter und eine vollständige Bibliographie von Arbeiten über wolgadeutsche Mundarten sollten hier erarbeitet werden.

In dieser Einrichtung waren Studenten und Wissenschaftler wie A. Lonsinger, A. Dulson, seine Frau Victoria Dulson, E. Kufeld, H. Grasmick, G. Schmieder und andere vereint [ebenda : 7]. Sie hatten die Ergebnisse der von A. Lonsinger im Auftrag des Deutschen Sprachatlasses in Marburg 1913 durchgeführten Befragung der Lehrer nach den Wenkerschen Sätzen systematisiert und die zugeschickten Fragebögen als Kartei angelegt. Sie setzten die Sammelarbeit auf dem Gebiet der deutschen Folklore und der Dialektlexik fort.

Anfang der 20er Jahre begann unter der Leitung von Georg Dinges die Arbeit am Atlas der wolgadeutschen Dialekte. Die Mundart von Preiß erforschte Andreas Dulson. Außer dem Dialektmaterial befasste sich Dulson auch mit der Folklore und der Sachkunde seines Heimatdorfes. In der Zeitschrift „Literaturbuch“ erschien dann seine Arbeit über die Sprichwörter, Rätsel und Reime.

Das interessante Material über die religiösen Feste Karfreitag und Ostern konnte damals nicht erscheinen und blieb im Archiv liegen. Es hat erst 2001das Licht der Welt erblickt [Obejschan powolschkich nemzew 2001]. Das gleiche Schicksal mussten auch die Manuskripte anderer Wissenschaftler von der Wolga erleiden. Vor allem sind es die Arbeiten von Georg Dinges, Emma Dinges, August Lonsinger, Peter Sinner, Jakob Dietz und viele andere.

Es sei bemerkt, dass man mit der Sammelarbeit auf dem Gebiet der Folklore und der Ethnografie schon viel eher begonnen hatte. Den Anfang könnte man mit dem Jahr 1914 datieren, als man das 150. Jubiläum der Ansiedlung der ersten Deutschen an der Wolga gefeiert hatte. Das Jubiläum hatte einen Aufschwung der Forschungsarbeit unter den gebildeten Kolonisten – Pastoren, Lehrern, Wissenschaftlern – hervorgerufen.

Zum 150. Gründungstag von Dobrinka (29. Juni 1764), der ersten deutschen Kolonie an der Wolga, sind in Saratow die ersten erwähnungswerten literarischen Werke der deutschen Autoren wie G. Göbel, A. Beratz, A. Lonsinger, D. Kufeld, F. Wahlberg u. a. erschienen. Außerdem besinnt man sich auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Ansiedlung und der Entwicklung der deutschen Kolonien an der Wolga.

Hier seien die Werke von G. Bauer [Bauer 1908], G. Beratz [Beratz 1915] erwähnt. In der gleichen Reihe stehen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Folklore und der Volkskunde der Wolgadeutschen. Darunter sollte der Sammelband von J. Erbes und P. Sinner „Volkslieder und Kinderreime aus den Wolgakolonien“ genannt werden. In künstlerischer Form besinnt sich David Kufeld auf die Geschichte seiner Vorfahren und dichtet einen längeren Vers über das Leben des Küsters Deis, der auch interessante Proben der in den Kolonien gesprochenen Mundarten enthält [Minor 2004], sowie Erzählungen und Schwänke von A. Lonsinger „Nor net lopper g`gewa“ (Saratow, 1911) und „Hüben und drüben“ (Saratow, 1914).

Zu diesem Jubiläum vollendete Jakob Dietz seine Forschungsarbeit zur Geschichte der wolgadeutschen Kolonisten in russischer Sprache. Jedoch störten der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dann der frühe Tod seines Autors die Veröffentlichung dieses aufschlussreichen Buches, und das Manuskript konnte erst 1997 erscheinen [Dietz 1997].

In diesem Buch beschreibt Jakob Dietz nicht nur den historischen Aspekt der Ansiedlung der Deutschen an der Wolga, sondern schildert auch eine ganze Reihe des kolonistischen Aberglaubens, der sehr häufig das Leben der Bauern prägte. So hat Jakob Dietz einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der geistig-mentalen Welt der Kolonisten geleistet. Viele Informationen von Dietz ergänzen die ethnografischen Forschungen von A. Dulson [Dietz 1997:396 – 403].

Anfang der 20er Jahre hatte Professor B.M. Sokolow seine Arbeit an der Aufstellung der ersten Bibliographie zur Geschichte und Volkskunde der Wolgadeutschen abgeschlossen. Der bekannte Arzt P.K. Galler aus Saratow beendete seine Erinnerungen an den Alltag, Sitte und Brauch der Kolonisten aus Eckheim. G. Dinges konnte dieses Buch erst 1927 herausgeben, die zweite Auflage erlebten seine Erinnerungen erst im Jahre 1994 [Galler 1994]. 1925 beendet A. Lonsinger eine umfangreiche Forschungsarbeit über die deutschen Kolonien. Dieses Manuskript über die materielle Volkskunde wird im Archiv der Wolgadeutschen in Engels aufbewahrt [OGU GIANP. F.1831. Op. 1. D. 242-243]. 2004 wurde sein Werk in Deutschland von Viktor Herdt herausgegeben [Lonsinger 2004]. In dieser Arbeit beschrieb der Autor viele Haushaltsgeräte der Kolonisten und versah jeden Gegenstand mit seiner am meisten verbreiteten Bezeichnung in Mundart. Außerdem gibt A. Lonsinger eine detaillierte Beschreibung der Häuser und ganzer Dörfer der Kolonisten sowie einzelner Teile der Häuser und anderer Bauten der Bauern. Der Autor hatte vor, den Text mit Zeichnungen oder Fotos zu begleiten, jedoch gelang es ihm aus bekannten Gründen nicht mehr.

In der Zeit zwischen 1925 bis 1930 wurden auf dem Territorium der Autonomen Republik einige ethnografische Expeditionen durchgeführt. Nach Angaben von E. Arndt wollte man in erster Linie die Mutterkolonien und die wichtigsten Tochterkolonien, die durch ihre besonderen Charakteristika auffielen, erforschen [Arndt 2000: 203]. Im Laufe der Expeditionen wurden verschiedene Fragebögen angeboten. Der Fragebogen von Dulson enthielt etwa 170 Fragen zum Hochzeitsbrauch der Kolonisten. Darunter waren Fragen, die praktisch alle wichtigen Etappen der Brautwerbung betrafen: die Bekanntschaft, das Benehmen der jungen Leute vor der Hochzeit, die Errichtung des Maibaums zu Pfingsten vor dem Haus des geliebten Mädchens und so weiter bis zum letzten Hochzeitstag. Die angesammelten Fragebögen, die von Informanten aus den Dörfern Grimm, Jagodnaja Poljana, Rosenthal, Preiß ausgefüllt wurden, sind ein einzigartiges Material zu Volkskunde und Mundarten der Wolgadeutschen. [OGU GIANP. F.1821. Op. 1 D. 22].

Den größten Teil des volkskundlichen Materials über Hochzeitsbräuche und die Geburt des Kindes in Preiß hatte seine Frau, Viktoria Dulson, gesammelt. Aber dieses umfangreiche und interessante Material konnte wegen politischer Repressalien in den 30er Jahren nicht bearbeitet werden. In diesen Jahren wurden G. Dinges und A. Synopalow, später A. Lonsinger verhaftet. A. Dulson, der nach der Verhaftung von G. Dinges die Leitung der Sprachkommission übernommen hatte, wurde des Nationalismus beschuldet und auch von der GPU verhaftet. Die Verhaftung des Wissenschaftlers, der eben promoviert hatte, war ein harter Schlag für das eben gesammelte volkskundliche Material. Die Tätigkeit der Sprachkommission wurde eingestellt, die Materialien in chaotischem Zustand im Gebäude des Zentralen Museums der ASSRdWD gelagert [Poslowizej i pogoworki…2001: 8].

Dasselbe Schicksal traf auch den Sammelband mit der deutschen Folklore, der von Mitgliedern des Schriftstellerverbandes der ASSRdWD Dominik Hollmann und Andreas Sachs 1940 herausgegeben werden sollte.

Nach den Angaben des Archivs in Engels sollte die Ausgabe aus zwei Bänden bestehen. Im ersten Band sollten die Volkslieder der Wolgadeutschen, im zweiten Band – die epischen Genres: Sagen, Märchen, Sprichwörter und Redensarten aufgenommen werden [OGU GIANP. R-880. Op.1. D.23. L.105-106]. Das Vorhaben konnte aber auch nicht realisiert werden, die Manuskripte sind verloren gegangen. Die Forschungsarbeiten im Bereich der deutschen Folklore und der religiösen Bräuche wurden für viele Jahre tabu. Mit der Zunahme der Ideologisierung des Lebens und der Intoleranz der neuen Macht der Religion gegenüber haben viele Bestandteile der wichtigsten Lebensereignisse der Menschen wie Hochzeit, Geburt und Taufe des Kindes, die Wahl der Paten und viele andere den religiösen Hintergrund eingebüßt oder sind allmählich durch neue ideologisierte Traditionen verdrängt worden.

Mit der Erhöhung des kulturellen Niveaus des Volkes, der Verbesserung der medizinischen Betreuung der schwangeren Frauen verschwinden viele Aberglauben. Dulson unterstreicht, dass gerade die Frauen den Aberglauben am besten kennen und ihn pflegen, weil sie den schweren Lebensbedingungen auf dem Lande am meisten ausgesetzt sind.

Das Heiratsverhalten und das Hochzeitsbrauchtum unterlagen im 20. Jahrhundert einem tiefgreifenden Wandel. Obwohl aus historischer Sicht ein Bedeutungsverlust der Eheschließung als Abschluss einer eindeutig eingrenzbaren Lebensphase stattgefunden hat, stellt die Heirat für den einzelnen Menschen noch immer einen wichtigen Übergang in einen neuen Lebensabschnitt dar.

Der Stellenwert der Trauung wird besonders deutlich in dem Wunsch der Brautpaare nach Symbolen und Ritualen und in den vielfältigen Aktivitäten und Bräuchen der Hochzeitsgesellschaft [Remberg 1995]. Die Jungvermählten und ihre Verwandtschaft und Freunde umgeben den Hochzeitsritus mit vielen alten Symbolen und Aberglauben, die zur Festigkeit der Ehe beitragen sollen, aber das tut man nur um der Tradition willen.

So ist in Deutschland der Polterabend als Abschied vom Junggesellen- bzw. Singledasein sehr verbreitet. Die Grundlage für diesen Brauch ist, dass man früher glaubte, das Hochzeitspaar sei bis zur Hochzeit von bösen Geistern bedroht, und diese gilt es an diesem Abend durch laute Geräusche zu vertreiben. Ein anderer Brauch ist der Brautwalzer, der als Tanz für Verliebte gilt. Es war von jeher der „Deutsche Tanz“. Angesiedelt in Süddeutschland und Österreich, tanzte ihn das Volk zwischen Neckar und Donau als Landaus, Plattler, Ländler, Schleifer und Deutscher. Als der Eröffnungstanz einer Hochzeitsfeier ist der Brautwalzer seit Generationen beliebt.

Es entspricht einem alten schönen Brauch, dass Braut und Bräutigam für die kirchliche Trauung und für ihre Ehe einen Leitspruch aussuchen, an dem sie sich orientieren und ihr gemeinsames Leben ausrichten wollen. Daher bietet sich an, diesen Trauspruch auch zum Leitgedanken der Ansprache zu machen und entsprechende Texte und Fürbitten auszuwählen. Oft wird der Trauspruch in das Stammbuch der Familie eingetragen [www. buchegger.com/klugheit]. Allen diesen Bräuchen und Traditionen wird heute natürlich kein magischer Zauber mehr zugeschrieben, aber ihre Verwendung auf der Hochzeitfeier verleiht ihr einen besonderen Reiz und fröhliche Atmosphäre.

In den Materialien, die in dieser Publikation dargestellt sind, findet der Leser eine einzigartige Information über alle Ereignisse, die mit der Trauung und Hochzeit unter den Wolgadeutschen verbunden sind. Dulson berichtet über die voreheliche Zeit, darüber, wie der junge Mann seine Liebe zu einem Mädchen gesteht bis zur Geburt seines Erstlings. Als Beispiel könnte hier das Brautwerben dargestellt werden. Das Brautwerben verlief in der Regel folgenderweise. Erstens ist sie die Obliegenheit der Männer. Gewöhnlich geht man zu zweit am Abend mit dem Freier in das Haus des Mädchens. Durch lautes Klopfen weckten sie den Brautvater. Sie wurden eingelassen, durften vorkommen. Dann setzten sie die Eltern des Mädchens über ihr Vorhaben in Kenntnis, indem sie übliche Redewendungen gebrauchten. Je nachdem, wie der Brautvater zu dem Angebot stand, löschte er das Licht und ging schlafen, oder er nahm den als Geschenk mitgebrachten Wein entgegen. Manchmal wurden auch die Brautmutter und das Mädchen zum Werben eingeladen. Dann gab der Bräutigam dem Vater das Handgeld, das später zu einem Verhängnis werden konnte, denn wenn die Braut später ihre Zusage bereuen sollte, konnte die Familie diesen verhältnismäßig hohen Geldbetrag (3 bis 25 Rubel) nicht mehr zusammensparen. Außerdem bekam das Mädchen noch kleine Geschenke, gewöhnlich waren das Taschentücher. Die Braut versprach dem Bräutigam, ein Hemd zur Hochzeit zu nähen.

Im Falle der Absage bekam der Freier einen Korb. Das bedeutete eine Schande für ihn, deshalb ging er nicht gleich mit. Besonders, wenn die Aussichten nicht sicher waren. Er schickte lieber seine Taufpaten, einen Verwandte oder guten Bekannten, die in der Werbediplomatie gut bewandert waren.

Nach der Zusage wurden die Brautleute in der Kirche als Verlobte aufgeschrieben und einer Prüfung in religiöser Hinsicht nach dem Katechismus unterworfen. Nach der bestandenen Prüfung wurden die Verlobten von der Kanzel herab vermeldet. Der Bräutigam trug diese Zeit lang einen Hut mit Bändern oder einer Hahnfeder daran.

Außerdem werden im Manuskript der Hochzeitsablauf, der Gang zur Kirche oder zum Pfarrerhaus, die Trauung, die Hochzeitsfeier, die Mahlzeiten und Getränke, die den Hochzeitsgästen angeboten wurden, sowie die Kleider der Braut und des Bräutigams aufs Genaueste geschildert. Nicht zu kurz kommen aber auch die Hochzeitsbräuche, wie das Loskaufen der Braut gegen eine kleine Geldgabe, die Ankunft der Braut im Haus des Bräutigams zur Beschau und andere Traditionen und Gepflogenheiten, die den Heimgang der Jungvermählten begleiten.

Jede Etappe der Hochzeit und die ersten Tage nach der Geburt des Kindes werden mit verschiedenen magischen Handlungen, Zaubersprüchen, Texten zum Brauchen und Aberglauben begleitet. Diese werden im Manuskript im entsprechenden Dialekt ausführlich beschrieben und sind ein wertvolles sprachliches und ethnographisches Dokument.

Ein besonderes Kapitel sind die Abschieds- und Hochzeitslieder, Bittsprüche, die im Manuskript auch in Mundart angeführt werden und so den Zustand der Mundarten dokumentieren. Viel Wert legten die Bauern auf die erste Woche nach der Geburt des Kindes. Es gab bestimmte Vorschriften, Aberglauben und magische Handlungen, denen die Wöchnerin und ihre Nächsten streng zu folgen hatten.

Das Manuskript enthält auch wertvolle Hinweise auf die Mentalität der Wolgadeutschen. So fehlen in vielen Dialekten die Wörter „lieben, Liebe“. Stattdessen sagt man Ich hun dich gern, Er sieht es (das Mädchen) gern.

Das volkskundliche Material von A. Dulson zeugt also nicht nur von den Sitten und Bräuchen, die mit der Hochzeit und der Geburt des Kindes verbunden sind, sondern auch von der Genesis der Sprache der Kolonisten nach 150-jähriger Nachbarschaft mit Russen. Das vorliegende Material ist ein unersetzliches und unentbehrliches Dokument der Volkskunde und des Sprachzustandes der Sprachinselvarietäten der Wolgadeutschen, das in den letzten Jahren ihrer unbedrohten Existenz in der Zeit der Neuen ökonomischen Politik (NÖP) des Sowjetstaates gesammelt worden war, also in den Jahren, wo sich das wolgadeutsche Bauerntum frei entfalten und ihre Sitten und Bräuche, die meistenteils aus der alten Heimat mitgebracht wurden, pflegen konnte.

Am Beispiel der Hochzeitsbräuche konstatiert der Autor jene Werteänderungen, die sich nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland vollzogen haben. Nach der Revolution verliert die Ehe ihren „Warencharakter“, das heißt die Heirat wird nicht mehr nach dem Wohlstand der Familien geplant, sondern es wurde mehr den Zuneigungen der jungen Leute nachgegangen.

Mit der Schließung der Kirchen und der Trennung der Kirche von dem Staat büßen viele kirchliche Bräuche ihre Bedeutung ein. Die Trauung ist nun nicht mehr möglich, denn es gibt nun keine Kirchen mehr. Immer mehr werden sogenannte Komsomolzenhochzeiten gefeiert. Der Aberglauben hält sich aber noch lange, obwohl man ihn allgemein für ein Überbleibsel der alten Zeit hält.

Das nachstehende Material aus Preiß ist größtenteils von Dulsons Frau, Viktoria Dulson, im Sommer 1928 gesammelt worden und sollte in seiner Arbeit „Die Mundart von Preiß“ in einem Abschnitt über Volkskunde Aufnahme finden. Bei der untergeordneten Rolle, die der Volkskunde in einer solchen Arbeit zukommt, war Vollständigkeit damals nicht beabsichtigt, aber auch in der Folgezeit war Dulson aus verständlichen Gründen nicht in der Lage, ergänzende Aufhebungen vorzunehmen.
Die Lückenhaftigkeit des vorliegenden Stoffes, die in der Hauptsache durch den ursprünglichen Sammelzweck bedingt war, geht auch zum Teil auf das beobachtende Sammelverfahren zurück. Es bestand nämlich darin, dass nach einem nicht umfangreichen Schema an die Gewährsleute Fragen gestellt wurden, die sehr allgemein gehalten waren und infolgedessen eine weitläufige Antwort erheischten; es waren eigentlich Anregungen zum Erzählen über ein bestimmtes Thema: die Freierei, die Beschau, die Trauung, den Hochzeitstag usw. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass man Einzelheiten mitgeteilt bekommt, die man in keinem, noch so detaillierten Fragebogen voraussehen hatte können. Aber man macht dabei immer wieder die böse Erfahrung, dass der Gewährsmann vom hundertsten ins tausendste kommt, man muss stundenlang Dinge anhören, die nicht zur Sache gehören. Das bringt die assoziative Denkweise des ungebildeten Volkes mit sich. Der Nachteil dieses Verfahrens lässt sich nur durch wiederholtes Nachfragen, bei verschiedenen Personen, ausgleichen, was im gegebenen Fall nicht ausgeführt werden konnte.

Trotz Dulsons kritischer Einstellung zu dem eingesammelten Material und dem Verfahren, das bei Befragung angewendet wurde, lässt es sich als eine ernste volkskundliche Forschung einschätzen. Hier sei bemerkt, dass die vorher erschienenen Materialien zu Hochzeitsbräuchen der Wolgadeutschen eine unkritische Darlegung empirischen Materials waren. In der Regel waren es Erinnerungen von Pastoren, die meistenteils das beschrieben, was sie einmal erlebt haben. Ein Beispiel dafür wären die Erinnerungen von Pastor Seib [Seib 1967/68].

Andreas Dulsons Herangehen an das Brauchtum besteht nicht einfach schlechthin darin, die Traditionen und Sitten zu konstatieren, sondern nach ihrem Ursprung in der gemeinsamen Geschichte des deutschen Volkes und anderer Ethnien zu forschen. Dabei geht er auf die Geschichte und das Brauchtum der indischen Zigeuner und der Völker der Sanskritzeit ein. In jedem Fall unternimmt Dulson den Versuch, die Evolution der zu erforschenden Erscheinung zu verfolgen.

So hat der Protest der Dorfgemeinschaft, ein Mädchen in ein anderes Dorf zu verheiraten, eine uralte Geschichte. Er ist mit dem Unwillen der Stammesangehörigen verbunden, diese Frau zu verlieren. Denn sie glaubten, dass ihre Seele nach dem Tod gerade in einer Frau wiedergeboren werden kann. Die Frau aber, die in einen anderen Stamm weggeht, beraubt sie der Möglichkeit unter den Nächsten wiedergeboren zu werden. Diese Kräfte könnten das künftige friedliche Eheleben der Jungvermählten stören, deshalb erfand das Volk verschiedene Möglichkeiten, diese bösen Kräfte zu verscheuchen: das Schießen, das Poltern, den Lärm und das Geschrei.

Auch heute noch kann man diese Bräuche in einer modernisierten Form im Hochzeitsritual verschiedener Völker finden. (Es sei zum Beispiel auf den Polterabend hingewiesen). Eine ähnliche Funktion spielte auch der Brautschleier, das häufige Wechseln von Kleidern während der Hochzeitfeier und der Namenwechsel der Braut. All diese Handlungen hatten das Ziel, die bösen Geister in Verwirrung zu bringen, sie von den Spuren der Braut abzulenken, die Braut zu tarnen.

Auf eine ähnliche Weise erklärt Dulson die Sitte, der Braut Schuhe zu schenken, die Herkunft und die Bedeutung des Eherings, der Tänze, der Sprüche und des Brauchens, der Hochzeitslieder u.v.a. Bei der Analyse des ethnografischen Materials recherchiert Dulson über ähnliche Erscheinungen bei Deutschen aus verschiedenen Regionen Deutschlands. Vor allem interessieren ihn Hessen, Pfalz, Saarland, Schlesien und andere Länder, aus denen Deutsche vor mehr als 150 Jahren nach Russland ausgewandert waren.

Es sei betont, dass Dulson sich bei seiner Forschung auf die fundamentalen Werke der deutschen Ethnografen wie H.H. Ploss, E. Peukert, P. Sartory, A. Schullerus, M. Markuse, A, Bekker, E. Ferle, J. Meier, H. Fox, R. Schmidt u. a. stützt, die in der Zeit zwischen 1912 und 1928 erschienen sind. Im Laufe dieser vergleichenden Forschung kommt der Wissenschaftler zu der Meinung, dass sich viele Sitten und Bräuche der Russlanddeutschen in einer unveränderten Form erhalten haben. Diese Tatsache lässt Dulson zur Schlussfolgerung kommen, dass trotz des Inseldaseins der Deutschen in Russland sie viele Elemente ihres mitgebrachten Brauchtums unverändert erhalten haben.

Die Gewährsleute waren meistenteils Frauen aus verschiedenen Schichten der Dorfbewohner im Alter von 25 bis … Jahren. Den größten Teil des Stoffes haben folgende Personen geliefert, die Dulson so genannt hat, wie sie im Dorf genannt wurden. Deshalb war es unmöglich die echten (offiziellen) Namen der Informantinnen festzustellen. Die Rufnamen der wolgadeutschen Frauen wurden gewöhnlich von ihren Freundinnen mit dem bestimmenden Artikel gebraucht. So nannte man zum Beispiel Katharine Dulson di dulzanskat (die Dulsons Katharine), die rost mari (Marie Rost). Als weitere Belege könnte man di slurian, di altwärdn anführen. Manchmal wurden die Frauen nach dem Namen ihres Gatten gerufen, zum Beispiel m hanais saini (dem Johannes seine). Im Umgang waren auch Formen, die der russischen Tradition entnommen waren, in denen der Vorname nach dem Namen stand: kraz an (Anna Kreis). Ferner werden die aktivsten Informantinnen genannt:
1. Lang (die mudl)
2. (Angaben fehlen – A.M.) (di altwärdn)
3. (Angaben fehlen – A.M.) (di slurjn)
4. Kreis, (Anna) (kraiz an)
5. Dulson, Katharine (di dulzanskat)
6. Lang, Maria (m hanais saini)
7. Stang, Maria (di rost mari)
8. (Angaben fehlen – A.M.)
9. (Angaben fehlen – A.M.)

Außerdem hat Dulson zur Gegenüberstellung und zum Vergleich auch das Material aus anderen Dörfern des Seelmänner Kantons herangezogen, das im März und April 1928 auf Anlass des Volkskommissariats für Bildungswesen der WDR (Wolgadeutsche Republik) durch die Lehrer gesammelt wurde und zu Heimatbüchern für die Schulen verarbeitet werden sollte.

Dulson war aber zu diesem Material eher kritisch eingestellt, da dieser Stoff sich nicht ohne nochmalige Nachprüfung verwenden lässt, weil fast überall Angaben über die Verbreitung der mitgeteilten Sitten und Gebräuche fehlen und auch nicht verzeichnet ist, unter welchen sozialen Schichten und Altersgruppen sie noch leben, obgleich die Lehrer fleißig daran gearbeitet und ziemlich viel gesammelt haben. Dieser Mangel ist allerdings nicht die Schuld der Lehrer, sondern des Kommissariats für Bildungswesen, da es in seinem diesbezüglichen Brief keine Anweisungen gegeben hat [Wolgadeutsches Schulblatt 1928:311].

Aber die Analyse des Materials, das in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts unter den wolgadeutschen Kolonisten erhoben wurde, gibt wertvolle Auskunft über ihr Leben und ihren Alltag, über sprachliche und mentale Erscheinungen der deutschen Bauern, die unter den Bedingungen einer Sprachinsel unter dem Einfluss der überdachenden Sprache und Kultur im Zeitraum von dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts bis zum Jahre 1941 erhalten oder neu entstanden sind.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sprach- und Kulturerbe der Wolgadeutschen