Repressalien gegen die Dialektforscher

Gerade an der Grenze der 20er und 30er Jahre entfaltet sich in der UdSSR der Kampf gegen den „Nationalismus“ in allen Richtungen. Am 24. Februar 1933 fand eine Konferenz zum Problem „Die Sprachpolitik der Republik der Wolgadeutschen“ statt. Der Volksbildungskommissar A. Weber trat in dieser Konferenz mit einer Programmrede auf. Er sagte unter anderem: „Die Sprachwissenschaft ist bei uns eine äußerst vernachlässigte Wissenschaft und war bis vor kurzem völlig in den Händen der national-demokratischen Elemente, den so genannten ‚Dialektologen‘! Die örtlichen Nationalisten richten ihre Bemühungen ausschließlich auf die Forschung der Mundarten, indem sie sie propagieren und idealisieren. Dinges, einer der national-demokratischen Sprachwissenschaftler, propagierte ganz offen die indogermanische (faschistische) Sprachtheorie“ [Nachrichten 1933].

Eine in jener Zeit derart ernste Beschuldigung konnte für die ‚national-demokratischen‘ Dialektforscher nicht ohne Folgen bleiben. Die Sprachkommission wurde aufgelöst, der Name ihres Gründers G. Dinges wurde nun verschwiegen, und A. Dulson wurde bald nach der Habilitation verhaftet. Zu dieser Zeit war er schon Dozent der Deutschen pädagogischen Hochschule in Engels [OGU GIANP. R-0849. Op.1. D.1042. L. 93]. Hierher hatte ihn seinerzeit G. Dinges eingeladen, denn Dulson war damals schon Autor von sechs Lehrbüchern und Schulprogrammen für Deutsch. Unter anderem erstellte Dulson „Grammatik der deutschen Sprache“ Teil 1-2 (Engels 1933-34), „Morphologie“ (1938). Außerdem schrieb er den Beitrag „Zur Frage der Erstellung einer deutschen Fibel“, der 1927 in der Zeitschrift „Schulblatt“ veröffentlicht wurde, und viele andere.


Dulson wurde „antisowjetische Propaganda, Beteiligung an der Tätigkeit einer deutsch-faschistischen Organisation im Gebiet Saratow, Propaganda von faschistischen Ideen, Werbung von neuen Mitgliedern für diese Organisation, Gründung von faschistischen Zellen, Herstellung von Verbindungen zu konterrevolutionären faschistischen Organisationen, Herausgabe von konterevolutionären Flugblättern…“ vorgeworfen.

Bei der Verhaftung wurde Dulson an seine Kontakte mit Georg Dinges erinnert, während der Verhöre wurde er nach seinen Verbindungen und seinem Verhalten zu ihm gefragt. Der Wissenschaftler leugnete ihre Freundschaft, seine Zuneigung für ihn und enge Zusammenarbeit mit Dinges nicht. Dulson gab zu, dass Dinges idealistische Ideen geäußert haben könnte, aber er sei sicher, dass die Lehre von Marx-Engels-Lenin mit der Sprachwissenschaft nichts Gemeinsames habe. Er gestand, dass auch er selbst dieser Ansicht sei. Die Ermittlungen zum Fall von A. Dulson, R. Reis, A. Emich und anderen dauerten fast ein Jahr lang. Eine Sonderkommission des NKWD (Volkskommissariat des Innern) verurteilte in ihrem Beschluss vom 28.01.1935 A. Dulson zu 3 Jahren Freiheitsentzug für „antisowjetische, konterrevolutionäre, faschistische“ Tätigkeit und bestimmte, dass er diese Zeit in einem Arbeits- und Erziehungslager verbringen sollte. Er sollte unter besonderer Aufsicht mit dem ersten Häftlingszug nach Swobodnyi gebracht und der Leitung des BAMLAG des NKWD zur Verfügung gestellt werden.

Aber am 23. März 1935 wurde die Sache von Dulson und Reis revidiert, und die beiden „bis zur besonderen Verordnung“ freigelassen. Bei der Revision dieser Sache 1958 hatte ein gewisser KGB-Oberleutnant Iwanow zum Sachverhalt eine Notiz hinterlassen, dass „die Angeklagten mit Recht verurteilt worden seien“, und dass „ihre antisowjetische Tätigkeit durch die Vermittlungen 1934 genügend bewiesen worden sei“. Das Gerichtsurteil wurde nicht geändert. Erst am 9. August 1989, 16 Jahre nach seinem Tod, wurde Dulson völlig rehabilitiert.

Sogar nach seiner Verhaftung setzte A. Dulson seine Forschungen mutig fort, aber alle seine Arbeiten außer dem Beitrag über die Geschichte des Dorfes Preiß wurden nicht mehr veröffentlicht. Der größte Teil dieser Manuskripte galt als verschollen.

Nach der Freilassung (1936) wurde A. Dulson als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Saratow am 1. Januar 1937 angestellt. Im nächsten Jahr wurde er zum Lehrstuhlleiter für Deutsch an derselben Hochschule gewählt. 1940 wurde er Professor der Saratower pädagogischen Hochschule. Am 26. März 1941 trat der Wissenschaftler das letzte Mal in einer wissenschaftlichen Konferenz der Pädagogischen Hochschule mit dem Vortrag zum Thema „Entwicklung der analytischen Deklinationsformen in gegenwärtigen germanischen Sprachen“ auf.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sprach- und Kulturerbe der Wolgadeutschen