Deportation und neuer Anfang

Der Krieg mit Deutschland unterbrach die schöpferische Tätigkeit von A. Dulson im Bereich der Dialektforschung. Am 1. September 1941 kam die Verordnung der Hochschulleitung unter der Nummer 134-a, laut der die deutschstämmigen Lehrkräfte der Pädagogischen Hochschule Saratow unter ihnen Andreas Dulson, entlassen werden sollten. Die Begründung: „…Artikel 47 des KSOT (Sammlung der Verordnungen über Arbeitsbedingungen) mit einer Geldkompensation für den nicht benutzten Urlaub und zwei Monate Arbeitszeit“ [OGU GIANP. R-1821].

Auf diese Weise endete die Wolgaetappe des Lebens dieses großen Wissenschaftlers, den seriöse Arbeiten in den Bereichen Dialektforschung, Folklore, Volkskunde und Archäologie auszeichneten. Mit der Deportation hatte er nicht nur seine wolgadeutsche Heimat verloren, sondern ebenso sein natürliches Forschungsobjekt sowie seine mühevoll erarbeitete Kartei. Für den Doktor habil. Andreas Dulson begann die Verbannungszeit. Im Dezember 1941 wurde er Dozent für Germanistik an der pädagogischen Hochschule in Tomsk, hatte sein Forschungsthema ändern müssen, denn an eine Fortführung seiner wolgadeutschen Mundartenforschung war aus nur allzu gut bekannten Gründen nicht mehr zu denken.


Der Forscher Dulson setzte sich aber in Tomsk nicht zur Ruhe. Er begann mit dem Studium der Sprache der Urbevölkerung Sibiriens. Hierbei ging es ihm um die Sprachen der Selkupen (Ostjak-Samojeden), von denen im Jahre 1959 nur noch 3800 Personen lebten, der Tschulym-Tataren, einer kleinen turksprachigen Volksgruppe am Fluss Tschulym und seinen Nebenflüssen, und der Keten, von denen es 1959 nur noch 1019 Menschen gab, und zwar am Fluss Jenissej. Diese Völker waren praktisch dem Untergang geweiht, zumal sie über weite Teile Sibiriens zerstreut lebten und bisher keine eigene Schriftsprache hatten. Dulson hat bereits ein selkupisches, ein tschulym-tatarisches und ein ketisches Wörterbuch zusammengestellt. Das selkupische Wörterbuch enthält 90000 Wörter und Redewendungen. Ganz besondere Anerkennung fanden seine Veröffentlichungen über die Sprache der Keten, in deren Wohngebiete er achtzehn Expeditionen unternahm. Hier kamen ihm seine archäologischen Erfahrungen zu Gute, die er an der Wolga in seiner Jugendzeit gesammelt hatte. Dabei machte er umwälzende Entdeckungen in Westsibirien. Dulson fand unter anderem Beweise dafür, dass zum Beispiel Keramik und gewisse Ornamente, die bis dahin der Frühzeit zugeschrieben wurden, in Wirklichkeit dem 16. – 17. Jahrhundert angehören. Aus Grabstätten, die manche Wissenschaftler sogar der Steinzeit zurechneten, förderte er Münzen aus dem 17. Jahrhundert zutage. Diese Entdeckungen verursachten Sensationen in der Fachwelt.

So kam die Anerkennung in der Wissenschaft als Fachmann auf dem Gebiet der Sprachen der Urvölker Sibiriens und die Auszeichnung mit dem Staatspreis. [Hagin 1973-1981: 155-157], [In den Tiefen der Urgeschichte. 1970].

A. Dulson starb am 15. Januar 1973 in Tomsk. Seiner Tochter Erika und seinem Sohn Alfred gelang es, das Familienarchiv und die wertvolle Bibliothek ihres Vaters aufzubewahren. Sie haben den Wissenschaftlern O.A. Ossipowa und T.W. Galkina geholfen, das Buch „A.P. Dulson. Zum 95. Geburtstag“ zu schreiben, das 1995 in Tomsk in russischer Sprache erschienen ist.

Zu seinem Nachlass gehören 150 Arbeiten, darunter 17 Lehrbücher für Schulen und Hochschulen.

Im Historischen Staatsarchiv der Wolgadeutschen in Engels werden viele Arbeiten von Dulson aufbewahrt. Darunter die Manuskripte „Zur Geschichte von Preiß“ (1925), „Zur Volkskunde von Preiß“ (1926), „Hochzeit und Geburt in Preiß (1929 – 1930) und andere. Die letzte Arbeit wird nun mit diesem Buch dem interessierten Leser zur Verfügung gestellt.

Die Autoren hoffen, dass dank der Publikation über das Leben und Schaffen dieses interessanten Menschen und anerkannten Wissenschaftlers der Name Andreas Dulson möglichst vielen LeserInnen vertraut wird. Die Autoren sind sicher, dass diese höchstinteressante und inhaltsreiche Forschung über Traditionen und Bräuche, die mit Geburt des Kindes und Hochzeit ihren interessierten Leser findet und den Nachkommen einen Überblick über Leben, Sitten und Traditionen der Wolgadeutschen am Anfang des 20. Jahrhunderts gewährt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sprach- und Kulturerbe der Wolgadeutschen