Wiederum Kanzlerwechsel.

Die Missstimmung aus dem Lande hat ihren Höhepunkt erreicht durch die Nachricht von den Musikausführungen auf den öffentlichen Plätzen Berlins und von den unentgeltlichen Theaterausführungen hierselbst. Zu allen kleinen Nestern verlangt man unter Berufung auf die soziale Gleichheit und die gleiche Entschädigungspflicht für gleiche Arbeit dieselben Volksbelustigungen aus dem allgemeinen Volkssäckel hergestellt zu sehen. Ohnehin müßten schon die Dorfbewohner der Gasbeleuchtung, der elektrischen Lampen und der Luftheizung entbehren.

Der „Vorwärts“ suchte durch anmutige Schilderungen über die Vorzüge des Landlebens, idyllische Betrachtungen über den Naturgenus und die frische Luft zu beruhigen. Das wurde für Ironie genommen. Wo bleibt denn bei Regenwetter und an langen Winterabenden der Naturgenuss? Wo in den engen Wohnungen und in den Ställen auf dem Lande die frische Luft? So murrte man in Eingesandts. — Früher war es doch auch nicht anders gewesen, wurde entgegnet. — Gewiß, aber früher konnte jedermann, dem es auf dem Lande nicht mehr paßte, in die Stadt ziehen. Nun aber, wo der Landbewohner an die Scholle gefesselt ist so lange, bis es der Obrigkeit gefällt, ihn zu versetzen, müsse man aus dem Lande alles vorn Staate verlangen, was in den Städten geboten wird, denn: Gleiches Recht für alle!


Der Kanzler wußte sich nicht zu helfen. Regieren ist freilich etwas schwieriger als Stiefel wichsen und Kleider reinigen. Die Einrichtung der Volksbelustigungen war das einzige gewesen, was er durchgeführt hatte. Aber beim besten Willen konnte er doch nicht an jedem Kreuzweg eine Musikkapelle, einen Zirkus und ein Spezialitätentheater errichten lassen. Da kam er auf den Gedanken, an allen Sonntagen je einige hunderttausende Berliner zum Naturgenuss auf das Land und dafür ebenso viele Landbewohner zum Theatergenuss nach Berlin dirigieren zu lassen. Indessen war für diese soziale Gleichheit leider das Wetter zu ungleich. Trat Regenwetter ein, so wollten die Berliner trotz ihrer bekannten Liebe zu Mutter Grün sich nicht auf nasse Landpartien einlassen, während die Landbewohner die Plätze der Berliner bei den Volksbelustigungen lehr gern einnahmen.

So mußte denn der Kanzler, nachdem er gleichmäßig Berliner und Nichtberliner gegen sich aufgebracht hatte, seinen Platz räumen, damit nicht die Missstimmung über ihn die bevorstehenden Reichstagswahlen ungünstig beeinflusse. In Berlin ist natürlich das Missvergnügen über die Einstellung aller unentgeltlichen öffentlichen Lustbarkeiten nicht gering. Die Theater sind von jetzt ab wiederum nur gegen Entschädigung durch Abtrennung von Kupons auf den Geldzertifikaten zugänglich.

Zum Nachfolger des Kanzlers ist der bisherige Reichsschatzsekretär gewählt worden. Er gilt als ein schneidiger Draufgänger und soll daneben ein guter Rechenmeister sein. Das ist um so notwendiger, als allerlei gemunkelt wird über das mangelnde Gleichgewicht zwischen den Ausgaben und Einnahmen in unserer sozialisierten Gesellschaft.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder