Unzufriedene Leute.

Agnes, unsere Schwiegertochter, ist untröstlich, und auch Franz überaus niedergeschlagen. Agnes fürchtet, um ihre Aussteuer zu kommen. Seit langer Zeit hat Agnes durch Arbeit für Putzgeschäfte für ihre Aussteuer zu sparen gesucht. Insbesondere seit ihrer Bekanntschaft mit Franz ist sie in stiller Hoffnungsfreudigkeit von morgens bis abends unausgesetzt tätig gewesen. Kaum zur Essenszeit gönnte sie sich Ruhe. Was ihre Freundinnen für eigenen Putz, für Ausflüge und Vergnügungen verausgabten, ersparte sie zur Vermehrung ihres Kapitälchens. So hatte sie denn bei ihrer Verlobung schon Sparkassenbücher über 2000 Mk. im Besitz. Mein Franz erzählte alles dies am Abend des Verlobungstages mit Stolz und Genugtuung. Die jungen Leute begannen schon zu überlegen, was sie aus dem Guthaben zuerst anschaffen, wollten.

Nun soll alle Mühe und aller Fleiß vergeblich gewesen sein. Als Agnes, durch allerlei Gerüchte beunruhigt, ihre Einlage auf dem Sparkassenburreau in der Klosterstraße kündigen wollte, fand sie auf der Straße erregte Gruppen. Alte Männer, Frauen, frühere Dienstmädchen jammerten, daß sie um ihre Notgroschen gekommen seien. Der Beamte habe erklärt, daß durch das neue Gesetz mit anderen Wertpapieren und Schuldobligationen auch die Sparkassenbücher für null und nichtig erklärt worden seien.


Agnes fiel, wie sie erzählte, vor Schreck fast in Ohnmacht. Im Bureau hat ihr der Beamte alsdann das unglaubliche bestätigt. Auf dem Wege zu uns hörte sie, daß Deputationen von Sparkassengläubigern vor das Schloss zum Reichskanzler gezogen seien. Auch ich machte mich sogleich dahin auf, Franz ging mit.

Eine große Menschenmenge war auf dem Schlossplatz versammelt Auch über die Lassallebrücke, früher Kaiser Wilhelmbrücke, strömten helle Haufen fortwährend nach dem Lustgarten zu. Die Sparkassenfrage erregte alle Gemüter. Die Tore zu den Schlosshöfen waren überall fest verschlossen. Von den vorderen Trupps wurden vergebliche Versuche gemacht, gewaltsam einzudringen. Durch Schießscharten in ewigen Torflügeln, welche ich früher nie bemerkt, starrten plötzlich Flintenläufe der Schlossbeamten entgegen.

Wer weiß, was noch alles sich ereignet hätte, wenn nicht der Reichskanzler in diesem Augenblick auf dem Balkon des Mittelportals am Lustgarten erschienen wäre und Ruhe geboten hätte. Mit weithin schallender Stimme verkündigte er, die Sparkassenfrage solle sofort dem gesetzgebenden Ausschuss zur Entscheidung unterbreiter werden. Alle guten Patrioten und braven Sozialdemokraten sollten der Gerechtigkeit und Weisheit der Volksvertreter, vertrauen. Ein stürmisches Hoch dankte unserm Reichskanzler.

In diesem Augenblick rückte von verschiedenen Seiten in rasendem Galopp die Feuerwehr an. In Ermangelung von Polizei hatte man aus dem Schloss, als die Menge gegen die Tore drängte, Großfeuer telegraphiert. Gelächter empfing die brave Feuerwehr. So zerteilte sich denn die Menge in heiterer hoffnungsfreudiger Stimmung. Möge man im Reichstage das Rührige treffen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Sozialdemokratische Zukunftsbilder